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Aus: Ausgabe vom 02.08.2024, Seite 2 / Inland
Antifaschismus

»Im ländlichen Gebiet fehlt es an Gegenwehr«

Hessen: Protest verhindert Sellner-Lesung in Marburg. »Identitäre« weichen ins Umland aus. Ein Gespräch mit Dennis Neumann
Interview: Gitta Düperthal
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Zahlreiche Teilnehmende verschiedener Gruppierungen sind dem Aufruf des Bündnisses »Marburg gegen rechts« gefolgt (29.7.2024)

Martin Sellner, prominentes Gesicht der neurechten »Identitären Bewegung Österreich«, las am Dienstag in Gladenbach bei Marburg aus seinem Buch. Darin publiziere er einen Plan zur Vertreibung aller Menschen, die nicht in sein deutsch-völkisches Weltbild passen, heißt es in einer Mitteilung des Landesverbandes der Linken in Hessen. Haben Sie das Buch gelesen, ist darin die Grenze zur Meinungsfreiheit überschritten?

Mir reichte es, die Inhaltsangabe zu lesen. Offen steht darin: Er entwirft in seinem Buch einen Plan, wie man innerhalb des Zeitraums der nächsten 40 Jahre systematisch Menschen mit Migrationshintergrund in ihre Herkunftsländer zurückführen könnte. Meiner Meinung nach ist damit die Linie zur Meinungsfreiheit überschritten. Er hegt verklausuliert Deportationspläne, setzt sich langfristig für die Vertreibung von Mitbürgern, Nachbarinnen und Freunden ein.

Müsste das Buch verboten werden oder ist es wichtig, dagegen auf die Straße zu gehen?

Fragt sich, ob Verbote viel bringen. Die dahinterstehende extrem rechte Ideologie ist so nicht wegzuschaffen. Solche Einflüsse kursieren mittlerweile in unseren Parlamenten, unter anderem durch die AfD, sowie darüber hinaus in zivilgesellschaftlichen Organisationen. Rechte gehen in Vereine und Initiativen, damit es dort zu Problemen kommt. Laut einer Studie des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Frankfurt 2021 kommt es bei jedem zweiten Verband monatlich oder öfter zu rassistischen, antisemitischen und sexistischen Äußerungen. Gerade im ländlichen Gebiet fehlt es an Gegenwehr. Im Kreis Angelburg-Gönnern, wo wir kürzlich zum Protest vor der AfD-Kreisgeschäftsstelle aufriefen, war man froh über Unterstützung aus Marburg.

Sellner las schließlich im privaten Kreis vor etwa 50 Leuten. Der Ort soll zuvor nicht bekannt gewesen sein. War das Resultat des Widerstandes?

Zwar feierte Sellner sich und seine Lesung in den sozialen Medien. Aber tatsächlich war es ein antifaschistischer Erfolg. Mehrere tausend Menschen hatten mit ihrem breiten Protest verhindert, dass er in Marburg lesen konnte. Eine Räumlichkeit dort wurde ihm gekündigt. Braune Burschenschaften dort hatten publiziert, bei ihnen finde die Lesung nicht statt. Ein Parkplatz, wo er sich mit seinen Leuten treffen wollte, wurde blockiert. Er musste aus der Stadt herausfahren bis nach Gladenbach. Selbst dort konnte er seine Lesung nicht in Ruhe halten, weil sich auch da Gegenprotest sammelte.

Braune Burschenschaften gibt es aber in der Universitätsstadt und »linken Hochburg« Marburg?

Das kritisieren wir. Oberbürgermeister Thomas Spies von der SPD spricht immer vom »bunten Marburg«, obgleich sich hier ein europaweites rechtes Netzwerk etablieren konnte. Weil es finanzstarke Geldgeber hat und ihm Immobilien gehören, kann es hier weitgehend ungestört agieren. Wir haben ein klares Neonaziproblem, nicht erst seit gestern. Sellner war nur ein Anlass, weshalb wir hier demonstriert haben.

Er plant weitere Lesungen in Deutschland, etwa in Saarbrücken, Pforzheim und Passau. Wie gefährlich ist er?

Laut Correctiv-Recherche fungierte Sellner in Potsdam mit einem Vortrag vor CDU- und AfD-Politikern zur sogenannten Remigration als Ideengeber. Er und seine Netzwerke sind vor allem dort stark, wo schlechte soziale Bedingungen zur Perspektivlosigkeit führen: in Städten und Gemeinden, wo im Zuge der Neoliberalisierung kommunale Daseinsfürsorge abgebaut wird, der Personennahverkehr kaum mehr funktioniert, Wohnungsnot und Armut bei der arbeitenden Bevölkerung vorherrschen. Viele sind enttäuscht, dass das Versprechen »Wohlstand für alle« nicht eingehalten wird, und wenden sich von der Demokratie ab. Wir als Linke sehen es als unsere Aufgabe, sie zu überzeugen, sich nicht den extrem Rechten zuzuwenden. Natürlich gibt es Ideologen mit geschlossenem extrem rechten Weltbild. Das sind unsere politischen Feinde, die wir bekämpfen müssen. Wir müssen deshalb im Einzelfall Fragen stellen und genau zuhören, um zu erfahren, mit wem wir es zu tun haben.

Dennis Neumann ist Kreisvorsitzender der Partei Die Linke in Marburg-Biedenkopf und Anmelder der Aktion des Bündnisses gegen rechts bei den Protesten »Martin Sellner entgegentreten«

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