Grundkurs in Wirtschaftsparanoia
Von David Maiwald
Ein bekannter Witz auf Baustellen besagt, wer meine, dass Bauleiter den Bau leiten, der glaube auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Eine heitere Erkenntnis, die sich problemlos auf das Bundesamt für Verfassungsschutz anwenden lässt: Denn auf der mittlerweile 18. »Sicherheitstagung« mit der »Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft« (ASW) befasste sich der BRD-Inlandsgeheimdienst am Dienstag mit der »Neuvermessung der Welt«. So jedenfalls lautete die Überschrift der zur Schau gestellten Feindstellung gegen Russland und China.
Nach vorheriger Anmeldung zur Konferenz wurde junge Welt am Dienstag morgen von der Pressestelle des Verfassungsschutzes ausgeladen, mit Verweis auf Brandschutzbedenken aus dem »Backoffice«. Brandschutz: Noch so ein bekannter Witz auf Baustellen.
Doch der Ernst der Lage sprengt bei Geheimdienstvize Sinan Selen offenbar sämtliche Landes- und Befugnisgrenzen: Die »Grundannahmen der Sicherheitsarchitektur« seien brüchig, »die regelbasierte internationale Weltordnung wird unterminiert«, ließ sich der einstige Sicherheitsarchitekt des TUI-Reisekonzerns zitieren. »Vor allem Russland« agiere »zunehmend offensiver gegen die Demokratien in Europa« und setze an »schnellem Geld« interessierte »Akteure (…) aus kleinkriminellen Kreisen« für Aktionen wie Propaganda und Sabotage ein, eifert Selen weiter. Einen Punkt hat der Geheimdienstler »für operative Aufgaben« allerdings: »Staaten, die die Weltordnung zu ihren Gunsten auch mit Gewalt umgestalten wollen, unterstützen sich punktuell in ihrem Machtstreben.«
Wer beim letzten Satz an die NATO dachte, hat sich nun womöglich geoutet. Denn »Russland nutzt chinesische Hochtechnologiekomponenten, iranische Drohnen und nordkoreanische Soldaten«, weiß Selen. Sätze, die Rückfragen erzwingen. Die Deutsche Presseagentur (dpa) konnte – dem Unterlaufen von Brandschutzvorschriften offenbar unverdächtig – am Dienstag vor Ort sein und mutmaßlich mehr in Erfahrung bringen.
Zu den von Selen genannten Ereignissen seien »Vorfälle auf deutschen Kriegsschiffen, zu denen die Ermittlungen noch laufen, ebenso wie Pakete mit Brandsätzen, die aufgegeben wurden, sowie Brandanschläge auf ein Einrichtungshaus in Litauen und ein Einkaufszentrum in Polen« zu zählen, hieß es dort. Warum das eine Sache des Inlandsgeheimdienstes ist? »Die Zuordnung zu einem ausländischen Nachrichtendienst sei im Einzelfall manchmal schwierig«, erklärte dpa: »Schon die Summe derartiger Ereignisse sorge allerdings dafür, dass es schwerfalle, hier an Zufälle zu glauben.« Immerhin habe man mit den US-amerikanischen Sicherheitsbehörden nach wie vor einen »vorzüglichen Austausch«. Und schon hat sich ein Beamtensold wieder ausgezahlt.
Auch die ASW versuchte sich in der Mitteilung mit ähnlich inhaltsleerer Buchstabensuppe Bedeutung zu erschleichen: »Die Geoökonomie« habe in den vergangenen Jahren »rasant an Relevanz gewonnen«, ließ das »Scharnier zwischen Sicherheitsbehörden und Wirtschaft« wissen. Handels- und Investitionsflüsse würden in der genannten Situation nun »zunehmend geopolitisch beeinflusst«, und das führe schließlich »zu einer Gefährdung der Wachstums- und Wohlstandsgewinne aus der international verflochtenen Wirtschaftsordnung«.
»Vor dem Hintergrund der neuen geopolitischen Realitäten wären Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zunehmend gefordert, sich intensiv mit deren Folgen und möglichen Maßnahmen zu beschäftigen«: Was sich Alexander Borgschulze als Zitat zuschreiben ließ, hätte vielleicht doch besser eine KI übernommen. Wobei auch der ASW-Vorsitzende mit einer Aussage der Ziellinie zumindest nahe kommen konnte: »Deutschland brauche im Gegensatz zu vielen anderen Ländern offene Märkte.« Eine insgesamt unbefriedigende Pointe? Durch seine Beobachtung der jW wird der Verfassungsschutz diese Nullaussagen immerhin noch einmal selbst lesen müssen. Kein Witz.
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