Revolutionäre ohne Farbe
Von Slavko Stilinović
Es habe den Anschein, als ob die Geschichte sich wiederhole, heißt es zu Beginn eines Kommentars, der am Freitag auf der Internetseite des italienischen Thinktanks Osservatorio Balcani e Caucaso Transeuropa (OBCT) erschienen ist. »Wir, ehemalige Studenten, die wir einmal gegen das Regime von Slobodan Milošević protestiert hatten, erleben im Moment unsere Jugend neu«, sagt dort eine Stimme aus Belgrad. Aber wenn die gegenwärtigen Massendemonstrationen auch an die Kundgebungen vor nun einem Vierteljahrhundert erinnern – haben sie auch den gleichen Hintergrund? Damals war von westlicher Seite alles daran gesetzt worden, um Milošević zu stürzen – vom NATO-Krieg bis zur »Farbenrevolution«.
Auslöser der gegenwärtigen Proteste war der tödliche Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad vor drei Monaten. Er wurde zum Sinnbild der Korruption. Am Montag blockierten Studierende dort 24 Stunden lang die zentrale Freiheitsbrücke. Am Tag zuvor waren Tausende Demonstranten zu Fuß aus der Hauptstadt Belgrad in Richtung der nordserbischen Stadt losgezogen. Die Studierenden verbrachten die Nacht in Zelten auf der Brücke und im anliegenden Park, organisierten sportliche Aktivitäten und Filmvorführungen. Die Proteste verliefen friedlich und zogen Unterstützung von Anwohnern an, die warme Getränke und Mahlzeiten brachten. Belgrader Taxifahrer kamen ebenfalls nach Novi Sad und übernahmen die Rückfahrtkosten der Studenten. Zusätzlich reisten Landwirte mit ihren Traktoren an, um die Blockade zu unterstützen. Vor dem Hintergrund eines jüngsten Angriffs auf eine Demonstration wurden die Traktoren am Eingang der Freiheitsbrücke positioniert, um die Demonstranten zu schützen.
Die Proteste wurden von Versammlungen geleitet, bei denen Studierende und Bürger gemeinsam über das weitere Vorgehen diskutierten und Entscheidungen trafen. Präsidentenberater Adam Šukalo (»Fortschrittspartei«, SNS) machte die Foren mit der Bemerkung schlecht, es handele sich »um selbsternannte Gremien nicht aller Studierenden und Professoren der einzelnen Fakultäten, sondern einer lauten und aggressiven Gruppe, die, obwohl in der Minderheit, ihre Meinung allen aufzwingt«. Ihm fiel dazu aber nicht die Pressure-Group »Otpor!« (»Widerstand!«) ein, die am Ende Milošević zu Fall brachte, sondern ganz im Gegenteil waren es die »Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern« in Petrograd im Oktober und November 1917. Unter dem Deckmantel der »direkten Demokratie« hätten damals »laute und aggressive Bolschewiken die Macht« übernommen.
Die Geschehnisse der vergangenen Monate haben bereits zum Rücktritt von Premierminister Miloš Vučević (SNS) geführt und stellen eine Herausforderung für Serbiens angeblich so »russlandfreundlichen« Präsidenten Aleksandar Vučić (SNS) dar, der nach bald sieben Jahren im Amt immer weniger Unterstützung hat und bereits mehrfach vor einer »prowestlichen Farbenrevolution« warnte. Doch insgesamt fiel die Hilfe des Westens für die Demonstranten eher verhalten aus. Abgesehen von Solidaritätskundgebungen in Nachbarländern ist in der EU nicht viel passiert. Serbien ist kein EU-Mitglied, hat sich aber in der Vergangenheit zum Beispiel an die Sanktionen der EU gegen Belarus und andere Staaten angepasst und zeigt sich bereit, für den Lithiumbedarf der Gemeinschaft hinzuhalten, obwohl die BRD und Tschechien auch genug Vorkommen hätten.
Kritiker bezweifeln daher, dass die EU und ihre Verbündeten ein Interesse daran haben, den zwar autoritären, aber sonst durchweg kooperativen Staatschef Vučić zu stürzen. Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat noch im Dezember erklärt, dass er mit Vučić über die Stärkung der Beziehungen zwischen der Ukraine und Serbien gesprochen habe. Dabei dankte er Belgrad für die finanzielle und humanitäre Hilfe sowie für die Angleichung der Bemühungen auf dem gemeinsamen Weg zur Integration in die EU. Zumal Russlands Präsident Wladimir Putin »die historische Freundschaft zu Serbien« hochhält, scheinen die einzigen, die ein Problem mit den etablierten Machtstrukturen haben, die Serben zu sein, die seit Monaten zu Hunderttausenden gegen Vučić und seine Politik protestieren.
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