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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 26.03.2025
Essayistik

Die große Umarmung

Wie schlimm war Jimmy Carter? Die ersten Bände der Gremliza-Schriften zeigen den Konkret-Herausgeber als Integrator der BRD-Linken
Von Erwin Grave
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Ende 2024 sind die ersten beiden Bände der auf 18 Bände angelegten »Gesammelten Schriften« von Hermann Ludwig Gremliza erschienen. Sie beinhalten insbesondere die frühen politischen Kolumnen des vor fünf Jahren verstorbenen, langjährigen Herausgebers der Zeitschrift Konkret, die in den 1970ern unter seiner Leitung eines der wichtigsten Organe der westdeutschen Linken war. Die »langen ›Ho Ho Ho Chi Minh‹-Kolonnen« aus deren wilden wie spontanen Anfangszeit 1967/68 waren inzwischen zu »schmalen Marschsäulen« geworden, die »nach der Ermordung Salvador Allendes durch die Straßen zogen«. Aber immerhin begann die Jugend sich etwas zu politisieren, und so hätten die frisch gewordenen Kader aus der Apo, die inzwischen »die Mehrheit in den Jugendorganisationen der SPD, der FDP, der DKP, des DGB« stellten, einen gewissen Resonanzboden gehabt. Nur, resümiert Gremliza 1973, als er sich gerade anschickte, Konkret zu übernehmen und nach seinem Bild zu formen: »Diese bundesdeutsche Linke ist in einem miserablen Zustand.« Zwar hätte man »gelernt, daß man sich organisieren muß«, aber in dem unmittelbaren wie ohnmächtigen Aufstand ersetzenden Linienstreit wären die »artikulationsfähigen Führer linker Organisationen« hauptsächlich damit beschäftigt, »andere Genossen kleinzukriegen«. Die neue Konkret sollte diese Hackordnung überwinden helfen.

Helmut wählen

Zunächst ging es um das Zurückstutzen des revolutionären Eifers auf eine kommode Sozialdemokratie. Gremliza selbst war Sozialdemokrat, und so rief er Ende 1975 zur Wahl der SPD unter Helmut Schmidt auf. Natürlich, beschwichtigt er den radikalen Teil seiner Leser, erwarte niemand von der SPD, »daß die Gesetze der kapitalistischen Produktion sogleich novelliert oder gar aufgehoben werden könnten«, im Grunde erwartete er, Gremliza, nicht einmal in Sachen sozialer Reform besonders viel, da diese Partei bei der ­Notstandsverordnung mitgemacht hatte, ­allenfalls ein wenig Rentenausgleich betrieb und ansonsten am millionenschweren Aufbau der Bundeswehr arbeitete. Aber mit der CDU gebe es »verschärfte Repression«, »verschärftes Berufsverbot« und »Demontage sozialer Leistung«, und so appellierte er Ende der 70er an Kommunisten wie linke Sozialdemokraten, den Wahlzettel nicht mit einem »Beichtstuhl« zu verwechseln. Gute Laune kam so nicht auf, auch wenn Gremliza die Stimme für die Mehrheitssozialdemokraten als »Klassenkampf« vermarktete.

Zwang der Vernunft

Als dann ein Jahr später die SPD die Wahl gewann, schreibt der um Ausgleich der Kräfte bemühte Herausgeber: »Sozialdemokratische Politik bietet Gewähr für zwei Dinge: Mit ihr kommt kein Faschismus. Und kein Sozialismus. Das ist – gerade für uns mit unserer gewalttätigen Bourgeoisie – nicht wenig. Und deshalb ist es gut, daß Helmut Schmidt Kanzler bleibt.« Die allgemeine Tendenz seiner Zeit schien solchen Kompromiss zu begünstigen, »da die kapitalistische und imperiale Entwicklung der USA ihren Höhepunkt überschritten hat und in die Defensive geraten ist«. Der Abzug der USA aus Vietnam, die siegreichen Befreiungsbewegungen in Afrika, die Niederlage des europäischen Faschismus, die Wahlerfolge der italienischen Kommunisten und der französischen Volksfront zwängen den werdenden Präsidenten der USA, Jimmy Carter, zu einer Entspannungspolitik und damit zu einer »Politik der Vernunft«, die nicht »jeden Kritiker des Kapitals an die Seite Moskaus stellen« dürfe, und statt etwa »den Italienern für den Fall einer Regierungsbeteiligung der KPI Sanktionen« anzudrohen, die »sozialdemokratische Komponente des neueren italienischen Kommunismus fördern« müsse.

Offenes Heft

Gremlizas Leser sollten also lernen, »lieber mit der einigermaßen kalkulierbaren Politik des US-Kapitals zu leben«, als eben mit Ronald Reagan. Aber was ist bei allem historischen Kompromiss à la Aldo Moro mit dem Sozialismus? Der sei sicher wünschenswert, nur bedürfe es hierfür »einer sozialistischen Massenorganisation mit hohem Bewußtseinsstand und entsprechender Strategie«. Man kann dem Herausgeber einen gewissen Unmöglichkeitssinn nicht absprechen – die in seinem Heft versammelte Volksfront war tatsächlich kaum in der Lage, eine einheitliche Strategie zu formulieren, und »wer offenkundig keine USPD gründen könnte, kann auch nicht damit drohen«. Wem die von Gremliza bejahten wahl- und weltpolitischen Kompromisse nicht genug sind – und Gremliza zog sein Prestige gerade aus dem Umstand, dass sie ihm nicht nicht genug waren –, der »sollte vier Jahre lang dran arbeiten und nicht fünf Sekunden beim Ankreuzen eines Wahlzettels«. Neben der skizzierten Hauptlinie öffnete er daher seine Zeitschrift der Debatte, »wie Sozialisten ›in diesem unseren Land‹ in den nächsten Jahren arbeiten können und sollen«. Außer natürlich der kämpfenden Fraktion durften dann auch Vertreter sämtlicher Strömungen in friedlicher Koexistenz ihre Positionen in Konkret schreiben, deren Herausgeber gerade als linker Sozialdemokrat den gewissen Zentrismus repräsentierte, den es für solch ein für ehrliche Demokraten wie Kommunisten offenes Projekt braucht.

Hermann L. Gremliza: Gesammelte Schriften. Band eins (1963–1975). Herausgegeben von Friederike Gremliza und Wolfgang Schneider. Mit Vorworten von Stefan Ripplinger und Dietmar Dath. KKV konkret, Hamburg 2024, 545 Seiten, 30 Euro

Ders.: Gesammelte Schriften. Band zwei (1976–1978), 485 Seiten, 30 Euro

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