Am letzten Abend unseres Aufenthalts in Salvador sind wir nochmal unterwegs in der historischen Altstadt, wo es quirlig und lebensfroh zugeht. Da kann man sich die Gegensätze hier gar nicht vorstellen: die Gewalt und die Korruption in einer brutalisierten Klassengesellschaft.
Der Mord an Marielle Franco in Rio ist da nur die Spitze des Eisbergs. Mittlerweile ist klar, dass die Kugeln, die die linke Kommunalpolitikerin und ihren Fahrer am Mittwoch trafen, aus Polizeibeständen stammten. Man merkt seitdem überall die Trauer, aber auch Wut und Entschlossenheit, das nicht hinzunehmen.
Am Tag zuvor hatte die Teilnehmergruppe am Weltsozialforum, mit der ich unterwegs war, in Bahia gleich vier verschiedene Besetzungen organisierter Obdachloser zur Gründung kleiner Favelas besucht. Bei der einen waren wir anwesend, als sie gerade ihre Strategie gegenüber der Polizei besprachen. Die Besetzer hatten auf dem Gelände zuvor fünfzehn Leichen entdeckt und vermuten noch mehr dort. Möglicherweise haben sie zufällig einen Ort besetzt, an dem die Polizei oder Drogengangs heimlich ihre Opfer vergraben.
Bereits am Donnerstag abend waren wir bei einer Großkundgebung in einem Stadion am Rande Salvadors dabei. Da sitzt auf der Bühne ein alter Mann, der apathisch wirkt, häufig auf den Boden starrt. Immer wieder wischt er sich den Schweiß von der Stirn, immer wieder trinkt er aus einer Plastikflasche. Das soll dieser Lula sein? Kann man es ihm überhaupt noch zumuten, frage ich mich, in der Öffentlichkeit zu stehen, ein langes Programm wie heute über sich ergehen zu lassen?
Dann steht dieser alte Mann auf und beginnt zu reden. Wie eine Naturgewalt reißt er die Menschen im Stadion mit. Lula erzählt eine Geschichte von sozialen Kämpfen, spricht über Würde. Er berichtet von persönlichen Rückschlägen und der Hoffnung und der Notwendigkeit, das Erreichte zu verteidigen und darüber hinauszugehen. Er macht die Kraft einer Bewegung deutlich, in der Schwarze, Indigene, Landlose, Frauen kämpfen.
Noch nie habe ich live eine so kraftvolle Rede gehört. Und man spürt: Lula verkörpert für die Menschen hier noch immer die Hoffnung auf ein besseres Leben. Deshalb liegt er in allen Umfragen vorn, meilenweit vor dem faschistischen Kandidaten.
Die Frage ist, ob Lula antreten kann, nachdem er mittlerweile in zweiter Instanz verurteilt worden ist. Angeblich geht es um Korruption. Ich habe mit vielen Leuten darüber gesprochen. Immer wieder höre ich die Aussage, dass dort keine Politik ohne Korruption stattfindet. Doch in Lulas Regierungszeit habe sich die soziale Lage für die Armen, Frauen, Indigenen tatsächlich verbessert. Das sei für die Menschen, die auf Lula setzen, das Entscheidende, zumal unter der aktuellen rechten Putschregierung vieles wieder schlimmer würde.
Am Morgen der Abreise stehe ich langsam auf, mache mich fertig, packe meine Sachen und frühstücke. Zurück nach Deutschland nehme ich unglaubliche Eindrücke mit, mehr als ich hier aufzählen kann. Aber sicher werde ich Gelegenheiten finden, mal das eine oder andere zu berichten. Vielleicht mache ich dazu demnächst sogar mal eine kleine Veranstaltung. Also, bis bald! :-)
Lorenz Gösta Beutin ist Energie- und Klimapolitiker der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag