Der Schatten des Körpers des Dichters
Von Kerstin Cornils
Wer Anne Enrights Roman »Vogelkind« aufschlägt, glaubt schon bald, in Landschaften einer vertrauten irischen Essenz einzutauchen. Während Nell als Studentin des Trinity College in ihrer ärmlichen »kleinen Kummerblase« im Dubliner Stadtteil Ballybough durch das Internet surft, träumt sie von den mit Hasenglöckchen und Vogelgezwitscher betupften irischen Hügeln, über die einst ihr Großvater Phil als junger Mann streifte. Doch inmitten aller Naturschönheiten wirft der Großvater beklemmende Schatten über die Hügel: Sobald sich Phil, aufgewachsen in einer kargen Steinhütte bei Tullamore, in einen geschätzten Dichter verwandelt hatte, ließ er seine zwei Töchter und ihre krebskranke Mutter im Stich, um mit wechselnden Amouren Cannes, Mykonos und die USA zu erkunden. Nell hat den imposanten, doch auch grotesk patriarchalen Großvater, der Kette rauchte, sich mit nacktem Oberkörper beim Dichten ablichten ließ und in blinder Wut Stühle zertrümmerte, niemals kennengelernt. Doch sein Werk hat in ihr Wurzeln geschlagen. Eine Zeile seiner Lyrik schmückt ihre Haut in Form eines Tattoos. Unbehaglich fühlt sich Nell, als ihr eine alte Dame mit schlechtsitzendem Gebiss die Sentenzen des aus der Zeit gefallenen Mannes auf einer Dorftaufe entgegenschleudert. Phils dichterisches Erbe lässt sich nicht ausschlagen: »Unsere Verbindung besteht aus mehr als ein paar DNA-Strängen, sie ist ein in die Vergangenheit hinabgelassenes Seil, ein dickes, verdrehtes, mit Blut gefülltes Tau.«
Ihrer Mutter Carmel wirft Nell vor, die langweiligste Frau der Welt zu sein. Eine Formulierung, die in ihrer Schroffheit irritiert, denn Carmel ist diejenige, die einst im Auge des Sturms lebte und die Ausbrüche ihres Vaters direkt miterleben musste, etwa das Drama um die verlorene Armbanduhr, für die Phil brutal das Bett durchwühlt, während seine von einer frischen Wunde gezeichnete Frau Terry unter der Decke kauert. Carmel kennt die Geschichte ihrer Familie schon als Zwölfjährige »aus allen Blickwinkeln außer ihrem eigenen«. Sie hat auch erfahren, wie der Vater ihre Familie immer wieder verließ, sie als jüngere Tochter aber auch auserkor, als »Vogelkind« eine Muse seiner Lyrik zu sein. Möglicherweise speist sich aus der paradoxen Logik des Verstoßenwerdens und Auserwähltseins die gesteigerte Vorsicht der erwachsenen Carmel – und damit ihre vermeintliche Langweiligkeit. »Meine Mutter hat mir beigebracht, niemals kopfüber ins Wasser zu springen, wenn ich nicht weiß, was sich unter der Oberfläche befindet«, mokiert sich Nell. Auch in ihrem eigenen Leben lässt Carmel Vorsicht walten, etwa bei der Partnerwahl. Als die alleinerziehende Mutter eines Tages einen freundlichen Mann namens Ronan kennenlernt, der auf einem Spaziergang an Dubliner Wasserläufen Zeilen ihres Vaters zitiert, findet sie ihren gebildeten Begleiter plötzlich »absolut anstrengend«. Seine Begeisterung für Eisvögel und seine Fähigkeit, in Häuserzügen die Geschichte zu lesen, gerinnt in ihren Augen zum enervierenden »Geschwafel«. Offenbar fühlt sich Ronan in den naturkundlichen und geschichtlichen Metiers ihres Vaters zu Hause, ohne einen Hauch von dessen toxischer Männlichkeit auszustrahlen. Als der sanftmütige Freund bald darauf erkrankt, ist es an der Zeit, ihn abzuservieren.
Wer zurückbleibt, ist Nell, ihre Tochter. Carmel hat sie seit ihrer Geburt in die Mitte ihres Lebens gerückt. Das Kind sorgt für das »Aroma der Dinge«, und dafür, dass die Welt in »Technicolor« erstrahlt. Nell kann darauf zählen, dass ihre Mutter für sie stets zur »Kämpferin und Kreuzritterin« wird. Führt dies zu Dankbarkeit der jungen Frau, die gefakte Reiseberichte im Internet schreibt und für eine Influencerin Posts über gelockte Hundewelpen formuliert? Natürlich nicht. Die Tatsache, dass in Carmels Kühlschrank stets die Lieblingsspeisen der Tochter warten, wird schnell zur Selbstverständlichkeit. Zudem tut die Studentin alles dafür, die sicheren Orte, die ihre Mutter für sie erkämpft hat, wieder in unsichere zu verwandeln. Ein beklemmendes Beispiel ist die Affäre mit Felim, einem zwischen Tumbheit und Kälte oszillierenden Hünen, der sie wochenlang schmoren lässt, um sie dann in brutalen Sexspielen zu unterwerfen. Fast ist es, als wolle Nell die von der Mutter geknüpften Sicherheitsnetze aufreißen, um einer Aggressivität im Stil ihres Großvaters Raum zu verschaffen.
Doch weder Carmel noch Nell sind als masochistische Opfer männlicher Gewalt zu verstehen. So langweilig Nell ihre Mutter auch finden mag, so klar profitiert sie doch auch von der Selbstbestimmtheit, die ihr Carmel vermittelt hat. Phils Lyrik, deren Metaphern sich rhizomartig in den späteren Generationen seiner Familie ausgebreitet haben, ist ein Erbe, das längst in weiblichen Besitz übergegangen ist: Mittlerweile werden seine Postkarten und Notizen von seinen Geliebten und seinen Töchtern verwaltet. Wenn Carmel Phil im Internet entdeckt, hat sie alle Freiheit der Welt, den »alten Bastard abzuschalten«, und auch Nell zögert nicht, den Blick abzuwenden, »um seine toten, reglosen Augäpfel nicht mehr sehen zu müssen«. Enright hat einen messerscharfen Roman über Mutterliebe und die dunklen Entstehungskontexte irischer Poesie geschrieben. Energisch lässt die 1962 in Dublin geborene Autorin Haferflocken aus Papiertüten stürzen und gefrorene Beeren in Schüsseln klirren. Und Phil, der alte Bastard? Er wird von Enright beharrlich dekonstruiert, aber nie abserviert: Neben den Passagen, die sich den Frauen widmen, strahlen seine eleganten Gedichte wie das Gefieder seltener Eisvögel am Ufer der Liffey.
Anne Enright: Vogelkind. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin-Verlag, München 2025, 302 Seiten, 24 Euro
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