Hamburg empfing am 7. und 8. Juli 2017 Staatschefs und Vertreter der EU zum G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Sie erwartete eine große und kreative Protestbewegung.
Als in den 60er Jahren der Hamburger Neubaustadtteil Steilshoop geplant wurde, war eine U-Bahn-Station fester Bestandteil der Entwürfe. Als in den 70er Jahren die ersten Bewohner in den Hochhäusern einzogen, wurde ihnen der baldige Baubeginn versprochen. Ein halbes Jahrhundert später ist Steilshoop vom S- und U-Bahn-Netz noch immer abgehängt.
Über Jahrzehnte hatte sich insbesondere die SPD einen schlechten Scherz erlaubt und immer wieder im Wahlkampf den Bau der Hochbahnanbindung versprochen – um dann, kaum gewählt, die Pläne wieder in die Schublade zu stecken.
In diesen Tagen erleben die Steilshooper nun, was das für sie bedeutet. Der Verkehrsverbund HVV empfiehlt auf seiner Homepage, U- und S-Bahn zu nutzen, die Busse aber zu vermeiden. Doch um zu einer Station zu kommen, brauchen die immerhin 20.000 Steilshooper den Bus. Oder sie müssen das Auto nehmen. Beides ist nun jedoch praktisch unmöglich.
Die Buslinien verkehren nur noch unregelmäßig – und an der Kreuzung Hebebrandstraße, an der man nicht vorbeikommt, wenn man zu einer Haltestelle will, ist Schluss. Dort beginnt die »blaue Zone«. Dieses Sperrgebiet soll für die An- und Abreise der Staatschefs und ihrer Delegationen freigehalten werden. Nicht nur Demonstrationen sind hier verboten, sogar das ganz normale Passieren der Einwohner wird nahezu unmöglich gemacht. Auf Gehbehinderte und ältere Menschen wird keine Rücksicht genommen. Arztbesuche werden nahezu unmöglich gemacht.
»Es wird keine Einschränkungen geben« und »manche werden sich am Sonntag wundern, dass der Gipfel schon vorbei ist«, hatte Hamburgers Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) die Lage wochen- und monatelang schöngeredet. In diesen Tagen ist er jedoch auf Tauchstation gegangen und sollte sich bei den Steilshoopern besser nicht blicken lassen.
Das Camp im Altonaer Volkspark wird voller und bunter. Die Polizei hat sich von den Eingängen zurückgezogen. Zahlreiche Schlafzelte stehen bereits, Toiletten sind aufgebaut, die Infowände im Organisationszelt füllen sich mit Veranstaltungshinweisen und Schichtplänen. Alles wirkt sehr organisiert.
Gegen Mittag erreichten die Demonstranten, welche heute morgen mit dem G20-Sonderzug den Hamburger Hauptbahnhof angekommen waren (siehe Bildstrecke), das Camp. Robert Jarowoy, Fraktionsvorsitzender der Bezirksfraktion Altona der Partei Die Linke, beobachtete die Ankunft. Er sprach gegenüber junge Welt von einem beeindruckenden Moment. Die Demonstranten seien geschlossen und unter lauten »Antikapitalista!«-Rufen in das Camp eingezogen.
Die Absage der Absage scheint nun endgültig. Michel Temer wird doch am G20-Gipfel in Hamburg teilnehmen. Am Freitag morgen um fünf Uhr soll Brasiliens Präsident in Hamburg eintreffen. Das bestätigte ein Pressebeauftragter des brasilianischen Außenministeriums heute mittag der Tageszeitung junge Welt. Unmittelbar zuvor hatte die Botschaft des Landes in Berlin die Teilnahme des Staatschefs auf telefonische Nachfrage als »eingeplant, aber nicht hundertprozentig« bezeichnet. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung geht ebenfalls von einem Gipfel mit Temer aus.
Für Temer wird es ein kurzes Event. Wie jW auf Nachfrage zur Gipfel-Agenda des »aktuellen Präsidenten« gesagt bekam, wird dieser bereits am Sonnabend »nach Ende des ersten Termins« wieder die Rückreise nach Brasília antreten. Ein ursprünglich für heute geplantes Essen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Temer bereits sausen lassen. Zu seiner Delegation gehört auch Finanzminister Henrique Meirelles, der morgen an einem Dinner der G20-Finanzminister teilnehmen wird.
Temers Eile hat gute Gründe. Zuhause hat er eine Klage von Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot am Hals, der dem Präsidenten Korruption vorwirft. Klagen wegen Behinderung der Justiz und Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation sollen folgen. (Siehe auch: jW vom 30.06.: Hauptdarsteller verhindert). Dem Politiker von der Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) droht ein Prozess vor dem Obersten Gericht und der Verlust seines Amtes, in welches er erst im vergangenen Jahr durch eine Intrige gelangt war. Seine Rechtskoalition zeigt in der Staatskrise zunehmend Auflösungserscheinungen.
Die Führung des FC St. Pauli stellt sich gegen Senat und Polizei: Am Donnerstag morgen teilten Präsidium und Aufsichtsrat des Zweitligisten mit, dass man »ein klares Zeichen für Menschenrechte, Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht« setzen wolle. »Die Vereinsführung hat entschieden, dass am Donnerstag um 12 Uhr 200 Schlafplätze für DemonstrantInnen im Umlauf der Haupttribüne des Millerntor-Stadions eingerichtet werden können. Der Zugang erfolgt über den Eingang Haupttribüne. Die Vergabe der Plätze wird in Zusammenarbeit mit den Organisatoren des Camps in Entenwerder geregelt.«
Damit hätten die Gremien zum einen auf das »absurde Campverbot« reagiert, »das die zum Teil rechtswidrige Räumung diverser Lager in Hamburg zur Folge hatte«. Zum anderen sei die Entscheidung eine Antwort auf die immer noch fehlenden Schlafmöglichkeiten für die auswärtigen Gäste, die in die Stadt gekommen sind, um ihren Protest gegen den G20-Gipfel zu zeigen.
»Gemeinsam mit den Organisatoren des Camps in Entenwerder haben die Verantwortlichen am Mittwoch alle relevanten Schritte eingeleitet, um am Donnerstag 200 Menschen aufnehmen zu können. Die Schlafmöglichkeiten werden bis zum kommenden Sonntag (9.7.) vorgehalten. Die DemonstrantInnen können hierbei natürlich die sanitären Anlagen im Stadion nutzen, außerdem werden die Organisatoren des Camps in Entenwerder eine mobile Küche für die Gäste am Millerntor einrichten.« (jW)
Mit zwei Stunden Verspätung ist am Donnerstag morgen der am Vortag in Basel gestartete Sonderzug der G-20-Gegner im Hamburger Hauptbahnhof angekommen. Die Polizei »begrüßte« die rund 700 Gäste der Stadt mit einem großen Polizeiaufgebot und Hunden. Ein Leitsystem aus Gittern war aufgebaut worden, durch das die Ankommenden geschleust und kontrolliert wurden. Die Stimmung war dennoch kämpferisch und diszipliniert.
In geschlossenen Gruppen gingen die Demonstranten anschließend zur S-Bahn, um gemeinsam zum Camp im Altonaer Volkspark zu fahren.
Auf der Fahrt von der Schweiz durch Süd- und Westdeutschland bis an die Elbe waren der Sonderzug und die Fahrgäste immer wieder Ziel von Schikanen durch die Polizei geworden. An der Grenze zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik wurden 24 Menschen mit Aus- oder Einreiseverboten belegt. Acht weitere Personen wurden so lange von den Sicherheitskräften aufgehalten, dass sie den Zug verpassten. (jW)
Tausende Menschen haben sich am Mittwoch abend an den Hamburger Landungsbrücken zu einem lautstarken Protest gegen den G-20-Gipfel und gegen die Repression versammelt. Zu der »Nachttanzdemo« hatte die Kampagne »Alles allen« aufgerufen. Waren es zu Beginn vielleicht 2.000 Menschen, die an dem tanzenden Protest teilnahmen, wuchs ihre Zahl während des Marsches über Hafenstraße und Reeperbahn in das Schanzenviertel auf mehr als 30.000 an.
Die Strategie des Senats, das Campen gegen den G-20-Gipfel zu verhindern, ist gescheitert. Inzwischen wächst im gesamten Stadtgebiet die Zahl kleinerer und größerer Zeltlager. So entstand am Mittwoch nachmittag ein neues Camp in der Hamburger Innenstadt. Nachdem das »Antikapitalistische Camp« Entenwerder verlassen hat, verteilten sich die politischen Initiativen, die das Camp getragen haben, im Stadtgebiet. Der Organisationskreis ist derselbe geblieben, doch man zeltet jetzt dezentral.
Das neue Lager befindet sich auf dem Grund der Sankt-Trinitatis-Kirche an der Königstraße in Altona. Formal handelt es sich dabei um eine Besetzung – die allerdings von der Kirche, welche über das Hausrecht verfügt, geduldet wird. Das Gelände bietet Platz für etwa 300 Schlafzelte. Gemeinschaftszelte stehen bereits. Die Organisatoren des Camps berichten von der Solidarität der Anwohner. So habe man ihnen Material und Essen gebracht, eine Kita habe Schlafplätze angeboten.
Auch im Camp im Volkspark Altona begann am Abend der Aufbau von Schlafzelten. Nach einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts, das dem Camp in Entenwerder letztlich doch die Schlafzelte genehmigt hatte, erließ die Versammlungsbehörde am Mittwoch nun doch neue Auflagen für das Camp im Volkspark. 300 Schlafzelte für jeweils bis zu drei Personen sind nun gestattet. »Das hätte auch weniger aufreibend für alle Seiten laufen können und gastfreundlicher für die Stadt Hamburg«, erklärte anschließend die Rechtsanwältin des Camps, Ulrike Donath. Campsprecher Carsten Orth ergänzte: »Die lange Hinhaltetaktik der Stadt muss jetzt auch an anderer Stelle ein Ende haben. Freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit dürfen nicht länger behindert und kriminalisiert werden. Ich fordere die Beendigung der Schikanen der anreisenden Demonstrantinnen und Demonstranten.« (jW)
Im Vorfeld des G-20-Gipfels tauchten sie bereits an mehreren Orten in Hamburg auf. Am Mittwoch waren es bis zu 1.000 von ihnen, die sich rund um die Gebäude am Burchardplatz im Zentrum der Stadt schleppten. Mit grauem Lehm beschmiert, mit verkrustetem Haar und Hoffnungslosigkeit, Trauer und Leere im Blick zogen Schauspieler auf einem Weg ohne Ziel.
Die Performance war der Höhepunkt der Aktion »1000 Gestalten«. Die dargestellten Menschen stünden für »eine Gesellschaft, die sich ihrer Hilflosigkeit vor den komplexen Zusammenhängen der Welt ergeben hat und nur noch für das eigene Vorankommen kämpft«, wie es auf der Webseite der Veranstalter heißt.
Der Auftritt war wirkungsvoll. Das langsame Tempo der Menschen wirkte quälend, ein hohles, klapperndes Geräusch wie von ausgezehrten Knochen begleitete die lebenden Toten. Es gab keine Kommunikation untereinander, auch keine mit dem Publikum. Langsam blickten einige zur Seite, doch ihre Blicke blieben unerwidert. Einige brachen zusammen. Manche schafften es unter Mühen, wieder aufzustehen, andere blieben liegen. Jeder hatte seine eigene Strategie, mit seiner Bürde fertig zu werden.
Interessant war die Reaktion des Publikums. Jeder fotografierte und filmte, Presse wie Schaulustige. An den Zusammengebrochenen bildeten sich Schlangen, um eine möglichst gute Position für eine Nahaufnahme einzunehmen. Auf Leid und Zerstörung wurde mit dem Fotoapparat reagiert. Dabei hatte man, wenn man die Sache ernst nahm, eigentlich das Bedürfnis, zu helfen, die Zusammenbrechenden zu stützen, einen Eimer herbeizuschleppen und den Leuten die Kruste abzuwaschen. Aber störte man dann nicht die Performance? Intendiert oder nicht: Man wurde hier mit seinem eigenen Zaudern konfrontiert.
Der Kellner in einem Imbiss fragte mich, was das für eine Aktion sei. Wir tauschten uns aus, und er hatte das gleiche Gefühl. Wir fassten uns ein Herz, gingen zu einer Liegengebliebenen und »störten« die Performance. Wir sagten ihr, wir wollten nicht einfach zusehen. Er bot ihr Wasser an. Ich meine, dass sie gezwinkert hat.
Nach über einer Stunde brach die graue Menge in Jubel aus, die Toten erwachten zum Leben und rissen sich und ihren Nachbarn die verkrusteten Kleider vom Leib. Jetzt waren sie bunt, tanzten und jubelten, der Staub stieg in den Himmel.
»1000 Gestalten« nannte das eine »Transformation«. Die Gestalten gewännen ihre Menschlichkeit und ihren individuellen Ausdruck zurück. Leider blieben diese Verwandlung, der zündende Funke und vor allem auch ein Danach jenseits von Jubel und Tanz abstrakter als das eindrucksvoll dargestellte Leid.
Es war ein besonderer Jahrestag: An das griechische »Nein« im Referendum über das Spardiktat von Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank am 5. Juli 2015 wurde am Mittwoch abend im Rahmen einer Podiumsdiskussion auf dem Hamburger Gipfel für globale Solidarität erinnert. Moderator Ulrich Brand verwies auch auf den erhobenen Zeigefinger des damaligen EU-Parlamentspräsidenten und heutigen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, der von den Griechen Unterwerfung gefordert habe. Das Thema des Abends: »Alternativen zur Politik der G20-Regierungen auf der lokalen, nationalen, europäischen und globalen Ebene«.
Die Bedingungen, unter denen die Podiumsgäste politisch tätig sind, könnten kaum unterschiedlicher sein: Harald Wolf vom Vorstand der Partei Die Linke war von 2002 bis 2011 einer der Stellvertreter des Bürgermeisters von Berlin und legte später in Buchform eine (selbst-)kritische Bilanz des »rot-roten« Senats vor. In Hamburg betonte er die Notwendigkeit des Kampfes für ein solidarisches Europa mit verbindlichen Sozialstandards. Griechenland hätte seiner Meinung nach stärkere Solidaritätsbewegungen in den Nachbarländern gebraucht, um dem Spardiktat dauerhaft widerstehen zu können. Europa könne aber auch nicht weiter auf Kosten des Restes der Welt leben.
Die desaströsen Auswirkungen von Freihandelsabkommen für die Wirtschaft auf ihrem Kontinent beschrieb Jane Nalunga – sie setzt sich im Southern and Eastern African Trade Information and Negotiations Institute (SEATINI) in Uganda für eine souverä ere Rolle Afrikas in der Welt ein. Sonia Farré gehört dem 2015 in der katalanischen Metropole gegründeten Wahlbündnis Barcelona en Comú an und erzählte in der Runde von den Erfahrungen mit Aktivisten, die plötzlich politische Ämter bekleiden. Sinem Mohamad, die Europavertreterin der überwiegend kurdisch besiedelten Selbstverwaltungsregion Rojava in Nordsyrien berichtete vom Aufbau eines neuen Gesellschaftsmodells unter Kriegsbedingungen. Die Türkei greife gerade den Kanton Afrin an; weder die USA noch Russland noch die Weltgemeinschaft interessierten sich dafür. Sie verlasse sich nur noch auf »Freunde, wie ihr es seid«, sagte sie mit Blick auf das Publikum.
Tausende Menschen haben sich an den Hamburger Landungsbrücken zu einem lautstarken Protest gegen den G-20-Gipfel und gegen die Repression versammelt. Zu der »Nachttanzdemo« hatte die Kampagne »Alles allen« aufgerufen. Auf Plakaten kündigte man an, die »G20 wegbassen« zu wollen. Waren es zu Beginn vielleicht 2.000 Menschen, die an dem tanzenden Protest teilnahmen, wuchs ihre Zahl während des Marsches über Hafenstraße und Reeperbahn in das Schanzenviertel auf mehr als 30.000 an.
Aus acht Lastwagen dröhnte kräftige Techno-Musik, Nebelmaschinen schickten weiße Rauchschwaden in die Luft. Die Atmosphäre erinnerte ein wenig an die »Loveparade« vergangener Jahre, allerdings verweisen etwa Zelte auf dem Dach eines LKW an die aktuelle Unterdrückung von Protestcamps in der Hansestadt. Eine Frau hatte auf ihr Regencape die Frage geklebt: »Ist das schon ein Zelt?« Eine Jugendliche stellte per Pappschild die an die Polizei gerichtete Frage »Wir sind friedlich - was seid ihr?«
Die Polizei stand mit einem Großaufgebot, Wasserwerfern und Räumfahrzeugen bereit, behelligte die Versammelten bislang aber nicht mehr, als es in Hamburg derzeit normal ist. (jW)
Die Betreiber des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel sprechen zwar keine direkte Einladung an an die G-20-Gegner aus, auf dem Gelände der Kulturfabrik zu übernachten, »es wird aber auch niemand vertrieben, falls er sich entschließen sollte, hier sein Zelt aufzuschlagen«. Dies erklärte Kampnagel-Pressesprecherin Mareike Holfeld am Mittwoch nachmittag gegenüber junge Welt. In der früheren Maschinenfabrik findet gerade der »Gipfel für globale Solidarität« als inhaltliche Gegenveranstaltung zum bevorstehenden Treffen der G20-Staatschefs statt. (jW)
Das Vorgehen der Hamburger Polizeiführung missachtet rechtsstaatliche Prinzipien, setzt sich über gerichtliche Entscheidungen hinweg. Doch Bürgerinnen und Bürger wehren sich gegen diese Eskalationsstrategie.
Heute beginnen in Hamburg die Proteste gegen den G-20-Gipfel. Der Staat setzt auf massive Einschüchterung und Repression
Kristian Stemmler
Wer im Fernzug oder der S-Bahn den Bahnhof Harburg im Süden Hamburgs verlässt, erblickt auf der rechten Seite ein Areal, das wie ein militärisches Sperrgebiet gesichert ist. Zwei Rollen NATO-Draht verdoppeln die Höhe des massiven Metallzauns um das Gelände, auf dem eine blassgelb angestrichene Halle, eine Reihe Container und Polizeifahrzeuge zu sehen sind. Zwischen den Gebäuden laufen einige Uniformträger herum, sonst tut sich wenig. Ein unscheinbar wirkendes Ensemble – und doch ein ebenso monströses wie treffendes Symbol für das Ereignis, das in Hamburg und dem Rest der Republik in diesen Tagen für große Aufmerksamkeit sorgt: das Gipfeltreffen der »Gruppe der 20«, kurz: »G 20«.
Hinter dem NATO-Draht, das ist die »Gesa«, wie Polizisten und Linke gleichermaßen das Unwort »Gefangenensammelstelle« abkürzen. Ein provisorischer Knast, den Hamburgs Polizei mal eben für den Gipfel an der Peripherie hochgezogen hat. Die Kosten für den Umbau des früheren Großmarkts der Firma Fegro, der zuletzt als Flüchtlingsunterkunft genutzt wurde, belaufen sich auf fast fünf Millionen Euro. Gleichzeitig ist für Ausweichflächen, die das Stadtmagazin Hinz und Kunzt und die Wohlfahrtsverbände der Stadt seit langem händeringend für die Hamburger Obdachlosen fordern, um sie während der Gipfeltage aus dem Tohuwabohu in der City herauszuholen, kein Geld da.
Schon das zeigt, wo die Herrschenden in Hamburg die Schwerpunkte setzen. Der offiziell als »Treffen der 19 Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und EU-Vertreter« bezeichnete Gipfel wird nicht als »Festival der Demokratie« in die Geschichte eingehen, wie Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) delirierte, sondern als ein Gipfel der totalen Repression und Einschüchterung, der Suspendierung elementarer Grundrechte und des Demokratieabbaus.
Eine grundrechtsfreie Veranstaltung
Die Olympischen Spiele konnte der Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) der Stadt nicht aufdrücken. Dafür hat er ihr eine Art Leistungsshow der deutschen Sicherheitsbehörden verpasst. Für die Zeit vor, während und nach dem Gipfel haben Polizei, Bundeswehr und Geheimdienste in der zweitgrößten Stadt des Landes faktisch das Kommando übernommen. Hamburgs Politiker sind längst zu Statisten degradiert. Die Gerichte nicken fast alles ab. Das Wort vom »Ausnahmezustand« ist darum längst mehr als die routinierte linke Kritik bei derartigen Gelegenheiten.
Die Gesa ist so etwas wie die Endstation im Repressionssystem, das die Behörden für den Gipfel konstruiert haben. Schneller, als ihnen lieb ist, könnten sich Gipfelgegner in Harburg wiederfinden. Während Trump, Merkel und Co. ihre Köpfe zusammenstecken, werden sie hier für Stunden zusammengepfercht. Gerade einmal 3,23 Quadratmeter sind die 50 Einzelzellen groß; die 70 Sammelzellen für je fünf Personen umfassen neun Quadratmeter. Alle Zellen sind fensterlos. Anwältin Alexandra Wichmann vom »Anwaltlichen Notdienst« bezeichnete die Unterbringung als »menschenunwürdig, rechtswidrig und einen Skandal sondergleichen«. Sogar für Hunde sei ein Zwinger mit einer Mindestgröße von sechs Quadratmetern vorgeschrieben.
Mit der berüchtigten deutschen Gründlichkeit haben die Behörden in Harburg eine perverse Fließbandabfertigung für festgesetzte Aktivisten aufgebaut. Allein 600 Beamte, schrieb die Welt, seien für den »Fahrdienst« abgestellt. Sie bringen Festgenommene über die Wilhelmsburger Reichsstraße, eine an die Innenstadt angebundene Schnellstraße, zur Gesa. Dort steht alles bereit, was Polizei und Justiz so brauchen: Kabinen zur Durchsuchung, Dolmetscher, neun Kripobeamte für Vernehmungen, Räume für Gespräche mit Anwälten.
Die Gesa ist nur ein Baustein in der Repressionsstrategie der Polizei. Selbst altgediente Vertreter der linken Protestbewegung sind verblüfft über die Dreistigkeit, mit der die Behörden im Vorfeld des Gipfels agieren. »Noch nie habe ich es erlebt, dass eine ganze Polizei- und politische Führung vor Großereignissen komplett das Gespräch mit den Protestanmeldern verweigert«, sagte Werner Rätz von ATTAC, der seit Jahrzehnten eine Vielzahl von Gipfelprotesten mitgestaltet hat und die für Sonntag vorgesehene Großkundgebung organisiert. Das sei eine »Strategie des Kleinmachens der Proteste«.
Eine treffende Diagnose. In einer Zeit, in der die soziale Desintegration der Gesellschaft weiter fortschreitet, darf ein fundierter linker Protest offenbar keinen Raum mehr bekommen. Das kann man buchstäblich verstehen, wie der verbissen geführte Krieg der Polizei gegen alle Versuche, anreisende Aktivisten in Camps unterzubringen, beweist. Vor Wochen hat Innensenator Grote bereits das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in einem 38 Quadratkilometer großen Areal kassiert, der berühmten »blauen Zone«.
Für Andreas Blechschmidt keine überraschende Entwicklung. Er ist Sprecher des bundesweit bekannten autonomen Kulturzentrums Rote Flora im Schanzenviertel. Den Gipfel nennt er eine »absolut grundrechtsfreie Veranstaltung«, das liege aber »in der Natur der Sache«. Jeder Protest solle abgewürgt werden, dafür fahre der Staat seinen Sicherheitsapparat hoch. Europaweit würde vor dem Gipfel mit Methoden gearbeitet, wie sie mittlerweile bei Fußballhooligans üblich sind: Datenabgleich zwischen den Staaten, Grenzkontrollen, Schleierfahndung, Meldeauflagen, Gefährderansprachen.
Ähnlich sieht das Deniz Ergün, der Sprecher des Bündnisses »G 20 entern«. Die Strategie der Behörden bezeichnet er als »Sabotageaktion«. Es gehe den Herrschenden darum, jeden linken Protest, der über das Singen von »We Shall Overcome« hinausgeht, zu verhindern und zu kriminalisieren. Wie elementare Grundrechte zum Gipfel außer Kraft gesetzt würden, das sei »ein zivilgesellschaftliches Drama«, so der Aktivist.
Am Vorabend des Gipfels könnte sich die Gesa in Harburg schnell füllen. Zehn Kilometer Luftlinie entfernt, beginnt heute auf dem Fischmarkt um 16 Uhr mit Musik und Redebeiträgen diejenige von den mehr als 25 angemeldeten Demonstrationen, die am ehesten Ärger verspricht: die antikapitalistische Kundgebung unter dem Motto »Welcome to Hell«. Andreas Blechschmidt ist ihr Anmelder. Er geht von bis zu 10.000 Teilnehmern aus. Die Mannschaftsstärke auf seiten der Polizei dürfte ähnlich hoch sein. Die Stimmung wird seit Wochen hochgekocht. Politiker, Polizei und Mainstreammedien beschwören Bürgerkriegsszenarien. Der Tenor ist altbekannt: Wer hat Angst vorm schwarzen Block? Mal ist die Rede von 4.000 »gewaltbereiten Autonomen«, die aus ganz Deutschland und dem europäischen Ausland anreisen wollen. Dann sind es wieder 8.000 oder gar 10.000. Wenn es zu Ausschreitungen kommen sollte, dürfte das aber nicht nur an der Teilnahme von militanten Aktivisten liegen – sondern vor allem an der Linie der Polizei, für die besonders ein Mann steht: Hartmut Dudde, der polizeiliche Gesamteinsatzleiter beim Gipfel.
Duddes Welt
»Duddes Welt wird von Regeln und Prinzipien bestimmt«, schrieb die Welt im Juni 2016, und das umreißt bereits das Problem. Er ist unter dem rechtspopulistischen Innensenator »Richter Gnadenlos« Ronald B. Schill und dessen Polizeipräsidenten Udo Nagel aufgestiegen und gilt als Erfinder der »Hamburger Linie«, die für Härte und Eskalation steht. Mehrfach bescheinigten Gerichte Dudde rechtswidrige Anordnungen, etwa Einkesselungen. Eine spontane Demonstration vor der Roten Flora löste er auf, weil ihm Spruchbänder auf Transparenten zu breit waren, eine Demo vor dem Kohlekraftwerk Moorburg erklärte er für beendet, weil sie ihm zu lange dauerte. Seine behelmten Hunderschaften versteht der Leitende Polizeidirektor als »Gefahrengemeinschaften«. Er verkörpert wie wohl kein anderer Polizeiführer Korpsgeist und Wagenburgmentalität.
Der Auftritt Duddes auf einer Pressekonferenz am 15. Juni im Hamburger Polizeipräsidium konnte Kritik an seiner Agenda nicht zerstreuen – im Gegenteil. Er könne bei Rechtsverstößen, etwa einer Vermummung, gar nicht anders, als sofort einzuschreiten, behauptete der Spitzenpolizist. Damit leugnete Dudde, dass jeder Einsatzleiter einen Ermessensspielraum hat. Auch sonst sprach sein Verhalten während der Pressekonferenz Bände. Mit einem Dauergrinsen im Gesicht und einer flapsigen Ausdrucksweise, die dem Ernst des Anlasses in keiner Weise angemessen war, trug er vor, was die Sicherheitsbehörden so zu bieten haben. Zum Gipfel werde man »die größte Ballung von Dienstpferden deutschlandweit« haben, und »die Hubschrauberei wird da sein«. »Sie werden das gesamte deutsche Polizeiequipment hier in Hamburg sehen.«
Genug Einsatzkräfte hat Dudde tatsächlich bei der Hand. Mehr als 20.000 Polizisten aus den Bundesländern, von Bundespolizei und Bundeskriminalamt, dazu Beamte aus Österreich und den Niederlanden, fast alle Sondereinsatzkommandos (SEK) der Länderpolizeien, die »GSG 9« des Bundes und die im Dezember 2015 aufgestellte Antiterroreinheit »BFE plus« (Beweis- und Festnahmeeinheit). Auch das Waffenarsenal ist beeindruckend: Tausende von Kleinwaffen, 43 Wasserwerfer, 20 Hubschrauber, davon drei von der Bundeswehr, diverse Räumpanzer, jede Menge Drohnen, ferner 120 Polizeipferde und 140 Diensthunde.
Was bezwecken die Herrschenden damit, einen solchen Gipfel mitten in einer europäischen Metropole stattfinden zu lassen, direkt neben einem der profiliertesten linken Quartiere des Landes? Diese Frage beschäftigt nicht nur Linke seit Monaten. Die von Regierungssprecher Steffen Seibert, Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) und anderen gebetsmühlenartig vorgebrachte Begründung, nur eine Großstadt wie Hamburg könne einen solchen Gipfel stemmen, wirkt wenig überzeugend. Dass Scholz sich für die Schlappe beim Referendum über die Olympia-Bewerbung 2024 rächen und seine Stadt als weltweite Marke etablieren will, klingt schon plausibler. Aber aus linken Kreisen sind auch noch andere Vermutungen zu hören. Die Herrschenden, heißt es, nutzten die Gelegenheit, um in Hamburg den Bürgerkrieg und die Aufstandsbekämpfung zu üben.
Willkommene Notstandsübung
Für diese These spricht einiges. Der G-20-Gipfel ist für die Sicherheitsbehörden auf jeden Fall ideal, um das Zusammenspiel unter realistischen Bedingungen zu üben. Also etwa die Kooperation von Polizei, Bundeswehr und Geheimdiensten. In Hamburg kommt eine zumindest abstrakte Terrorgefahr wegen der Anwesenheit der am meisten gefährdeten Politiker der Welt mit der Gefahr von »autonomen Krawallen« zusammen. Das erlaubt den Behörden, alles aufzufahren, was sie haben. Aus Sicht der Polizei könnte man also über die »gewaltbereiten Militanten« sagen: Sie kommen wie gerufen.
Angesichts des Polizeistaatsaufmarsches in Hamburg lässt sich die These von der Aufstandsbekämpfung aber noch zuspitzen. Wird sie in Hamburg nur geübt – oderistder G-20-Einsatz nicht bereits ein Stück weit Aufstandsbekämpfung, präventiv sozusagen? Wenn Bundespolizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag rund um den Hauptbahnhof patrouillieren, Hundertschaften mit Martinshorn durch die Stadt rasen und Polizeihubschrauber minutenlang in der Luft stehen, bekommt der Ausnahmezustand eine sinnlich fassbare Dimension.
Ob die Herrschenden das konkret so geplant oder gewollt haben, ist im Grunde ohne Belang. Der Einsatz zum Gipfel kann kaum anders verstanden werden denn als Machtdemonstration. Dabei liegt auf der Hand, dass die Adressaten nicht die Hamburger sind, die in den teuren Boutiquen auf der Einkaufsstraße Neuer Wall shoppen, oder die Mittelschichtfamilien, die über die Mönckebergstraße bummeln. Gemeint sind die Abgehängten, die Marginalisierten – und natürlich all jene, die sich nicht davon abbringen lassen, mit ihnen solidarisch zu sein.
Nico Berg von der Interventionistischen Linken meint: »Meine These ist, dass der Staat zunehmend den Anspruch entwickelt, seine Machtausübung in jeder Facette unseres Lebens und zu jedem Zeitpunkt total durchsetzen zu können. Im kapitalistischen Alltag ebenso wie bei dessen Erschütterung durch ein Großereignis.« Der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg hat das schon im Jahr 2000 treffend auf den Punkt gebracht, als er die »Funktionsimperative« in den »Metropolen des entfesselten Marktes« so beschrieb:
»Die deregulierten Individuen sollen moralischen und psychischen Ballast abwerfen und sich in flexible und beschleunigungsfähige Nomaden verwandeln, die jedwede Form der Bindung an Orte, Menschen und die eigene lebensgeschichtliche Vergangenheit und Prägung abgestreift haben. Die noch verwertbaren und für die Reproduktion des Kapitals des Menschen benötigten Menschen werden dynamisiert und über Konsum- und Statusprämien ans System gebunden; über die anderen, die Entbehrlichen und Herausgefallenen, wird mehr und mehr der Polizeistaat kommen.«
Hamburg im Juli 2017 ist da ein Vorgeschmack. Und Widerstand darum dringender denn je. Ein »Festival des Widerstandes« müssen die Gipfeltage werden, um das Zitat des Innensenators abzuwandeln. Dafür ist es wichtig, sich den Schneid nicht abkaufen zu lassen, sich von der Atmosphäre einer von den Sicherheitskräften besetzten Stadt nicht erdrücken zu lassen. »Nutzen wir also die Gelegenheit, um ins Gespräch zu kommen, Aktionen zusammen vorzubereiten und Strukturen für zukünftige gemeinsame Kämpfe aufzubauen«, heißt es im Flyer des Bündnisses »G 20 entern«. Und weiter: »Wir sind weder isoliert noch weltfremd, wir stehen Schulter an Schulter mit allen, die sich wehren, egal ob beim Streik in einer Hamburger Kita oder dem bewaffneten Kampf in Rojava. Wir müssen unser Kräfte bündeln und Kämpfe verbinden, damit wir neue Perspektiven aufbauen können.« Ganz ähnlich sieht es auch das Bündnis »Perspektive Kommunismus«: »Genua, Prag, Göteborg, Heiligendamm und jetzt Hamburg – Gipfeltreffen der Herrschenden waren immer auch Orte des Widerstands und der Perspektive einer anderen Gesellschaft.« Hamburg könne als »Gradmesser für die Organisierungsbestrebungen der antikapitalistischen Linken und deren Mobilisierungsfähigkeit« gesehen werden, heißt es in einer Broschüre.
Militanzfrage
Auch der Frage, die schon wie vor zehn Jahren in Heiligendamm für Spaltungen unter den linken Gipfelgegnern sorgen könnte, weicht die Broschüre nicht aus, der Frage nach der Militanz. In dem Text einer Gruppe namens »Kinder der Praxis« ist zu lesen: »In diesem Bereich erst aktiv zu werden, wenn die Notwendigkeit dazu auch einem Großteil der Bevölkerung klar ist, heißt mit Sicherheit zu verlieren.« Wie in jedem anderen Bereich politischer Arbeit müssten auch hier Erfahrungen gesammelt werden, müsse »ausprobiert und langsam, Stück für Stück, Gegenmacht aufgebaut werden«. Die Gruppe formuliert so etwas wie einen »Code of Conduct«, einen Verhaltenskodex für militante Aktionen. Unbeteiligte dürften nicht gefährdet werden, und »die Angriffsziele sollten möglichst klar und deutlich sein und für das System stehen«. Wenn etwa Bushaltestellen wegen der dort befindlichen Werbetafeln zertrümmert werden, werde das von den meisten als Zerstörung von nützlicher Infrastruktur wahrgenommen und abgelehnt.
Wie die drei kritischen Tage – also der heutige 6. Juli mit der antikapitalistischen Demo, der 7. Juli mit den Blockadeaktionen im Hafen und rund um die Messehallen und der 8. Juli mit der Großkundgebung zum Abschluss des Gipfels – wirklich ausgehen, lässt sich nicht vorhersagen. Dass Politiker und Mainstreammedien die Platte vom »linken Mob« auflegen werden, sobald der erste Stein fliegt (und wer weiß, ob nicht die Polizeiführung mit Agents provocateurs selbst dafür sorgen wird), ist klar. Aber sollen Linke sich danach ausrichten?
Flora-Sprecher Blechschmidt ist jedenfalls davon überzeugt, dass Olaf Scholz nicht klar gewesen ist, was auf ihn zukommen würde, als er seine Stadt für das Treffen der Mächtigen zur Verfügung stellte. »Er hat sich verkalkuliert, und jetzt geht es nur noch nach der Devise: Augen zu und durch!« so der Aktivist. Bei Scholz und seinem Umfeld sei »ein gewisser Autismus« erkennbar.
Ab heute wird sich erweisen, ob das Kalkül der Herrschenden, den linken Widerstand quasi in seine »Übung« einzubauen, aufgeht und Scholz’ begieriger Wunsch, mit dem G-20-Gipfel die »Marke Hamburg« weltweit zu etablieren, erfüllt wird. Ein Erfolg wäre es sicherlich schon, wenn Hartmut Dudde sein Grinsen vergeht.
Hamburger Bevölkerung und Theater solidarisieren sich mit G-20-Protesten. Staatsmacht prügelt wieder
Georg Hoppe, Kristian Stemmler und André Scheer, Hamburg
Am Dienstag abend gab das »Antikapitalistische Camp« das Tauziehen um Übernachtungszelte im Elbpark im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort auf. Man sei aus dem »Freiluftgefängnis Entenwerder« ausgebrochen, schrieben die Aktivistinnen und Aktivisten nach tagelangen Schikanen und Übergriffen durch die Polizei auf ihrer Homepage. Anstatt am Elbufer »am langen Arm der Justiz zu verhungern und darauf zu warten, dass die eine oder die andere Auflage doch noch gelockert wird«, wolle man sich lieber an den Versuchen beteiligen, im Hamburger Stadtgebiet Camps durchzusetzen.
Dort ist inzwischen eine ganze Reihe kleiner Widerstandszentren entstanden. So zelten seit Dienstag vormittag einige meist junge Menschen mit Duldung des Pastors auf einer Wiese vor der St.-Johannis-Kirche an der Max-Brauer-Allee in Altona. Die Nachbarn hätten das spontane Camp sehr gut aufgenommen, berichtete Hansel Sauerteig, der aus dem Wendland für die Proteste gegen den G-20-Gipfel in die Hansestadt gekommen ist, im Gespräch mit jW. Anwohner hätten sie eingeladen, ihre Toiletten zu benutzen oder die Zelte in ihren Vorgärten und Hinterhöfen aufzustellen.
Seine Türen für den Protest geöffnet hat auch das Deutsche Schauspielhaus am Hauptbahnhof. Wie der Geschäftsführer der Bühne, Peter Raddatz, dem NDR sagte, hätten am Dienstag abend gegen 21 Uhr rund 200 bis 300 Menschen vor der Tür des Theaters gestanden und um Aufnahme gebeten. Man habe es als »Akt der Menschlichkeit« angesehen, den Protestierenden die Übernachtung im Foyer zu ermöglichen. Eine Hundertschaft der Polizei habe dann zunächst die Zugänge zum Schauspielhaus blockiert, die Theaterleitung habe aber gegenüber dem Einsatzleiter ihr Hausrecht durchgesetzt.
Von seiten der Einsatzkräfte wird derweil weiter auf Eskalation gesetzt. Mehrere tausend Menschen hatten den ganzen Tag über an vielen Stellen der Stadt spontane Straßenfeste veranstaltet, um auf diese Weise gegen den herrschenden Ausnahmezustand zu protestieren. Auch im Gählerpark – offiziell: Emil-Wendt-Park – in der Altonaer Altstadt hatten sich am Abend Menschen versammelt und symbolisch fünf Zelte aufgestellt. Das reichte der Polizei für einen martialischen Einsatz. Gegen 21 Uhr stürmten Beamte in Kampfmontur den Platz und rissen die leeren Zelte ab. Mehrere Male wurde Pfefferspray gegen die friedlichen Menschen eingesetzt. Besucher des Parks, die das Geschehen beobachteten, zeigten sich empört. Sogar ein Polizist ermahnte seine Kollegen zur Mäßigung.
Als Reaktion auf das Vorgehen der Beamten beschlossen die Teilnehmer, eine Spontandemonstration gegen die Repression durchzuführen und setzten sich zum sogenannten Arrivati-Park nahe der U-Bahnstation Feldstraße in Bewegung, wo die Kampagne »Recht auf Stadt« derzeit mit einer Dauerveranstaltung für eine »Urban citizenship« demonstriert, nach der jeder Mensch die Chance haben soll, in der Stadt, in der er leben möchte, wirklich anzukommen und dieselben Rechte wie alle anderen zu haben.
Die Polizei blockierte die Spontandemonstration und ging gewaltsam gegen die Protestierenden vor. An der Kreuzung Max-Brauer-Allee und Stresemannstraße wurde ein Mann durch massiven Schlagstockeinsatz der Polizei verletzt. Ein Augenzeuge berichtete gegenüber junge Welt, dass sich mehrere Beamte auf den Mann gestürzt und ihm wiederholt mit dem Schlagstock auf den Kopf geschlagen hätten. Viel Blut sei zu sehen gewesen. Dann wurde er zu einem Polizeifahrzeug gezerrt, wo ihm trotz seines Zustandes Handschellen angelegt wurden. Offenbar nur aufgrund der Anwesenheit der Presse, von Abgeordneten der Linkspartei und von Rechtsanwälten wurde ihm ein Kopfverband angelegt.
Die Polizei versuchte mehrmals, die Journalisten am Filmen und Fotografieren zu hindern. Die Rechtsanwälte wurden nicht zu dem Verletzten durchgelassen, und erst nach längerer Verhandlung durfte sich ein Mediziner um den kaum Ansprechbaren kümmern, bis endlich der Krankenwagen eintraf. Währenddessen versuchten Uniformierte, das Blut aus ihrem Einsatzfahrzeug zu entfernen.
Trotz der Provokationen der Polizei zogen die Menschen weiter durch das Schanzenviertel nach St. Pauli. Als die Demonstration gegen 22.30 Uhr am Neuen Pferdemarkt ankam, zählte sie rund 2.000 Teilnehmer. Die Polizei stand dort schon mit vier Wasserwerfern und mindestens einem Räumfahrzeug sowie mehrere Hundertschaften bereit. Über Lautsprecher forderte ein Beamter in zynischem Ton, die Kreuzung zu verlassen: »Ihre Polizei wird Ihnen dabei behilflich sein.« Kurz darauf schossen die Wasserwerfer in die Menge und trieben die Menschen von der Kreuzung herunter und durch die Seitenstraßen des Schanzenviertels, wo sie sich nach Mitternacht zerstreuten. Mindestens eine Person wurde festgenommen.
»Chinook«, »Predator« und RIOT: High-Tech-Cowboys aus den USA scannen Hamburg
Volker Hermsdorf
Am Dienstag mittag beobachteten Bewohner im Hamburger Stadtteil Winterhude ein sonderbares Flugobjekt am Himmel, das Lärm wie ein Hubschrauber machte, Augenzeugen zufolge aber deutlich größer war. Passanten zückten ihre Handys und schossen Fotos von dem seltsamen Gerät. Manche dachten an einen Scherz, schließlich war am Sonntag der »Welt-Ufo-Tag«.
Andere glaubten dagegen nicht an eine Aktion von Spaßvögeln, denn nur wenige Kilometer weiter liegt an der »Schönen Aussicht Nr. 26« das Gästehaus des Hamburger Senats. Die noble Unterkunft im Stadtteil Uhlenhorst, die während des G-20-Gipfels für US-Präsident Donald Trump reserviert ist, wird bereits seit dem 11. Juni rund um die Uhr zu Lande und zu Wasser bewacht. Wie der US-Sicherheitsexperte und Journalist Jay Tuck in der Juliausgabe des deutschen Playboy berichtet, wollen Trumps Leibwächter vom Secret Service außerdem jede Menge US-Überwachungstechnik an der Elbe einsetzen, die extra eingeflogen wird. Bei den unbekannten Flugobjekten, die in diesen Tagen über Hamburg kreisen, handelt es sich deshalb nicht um Ufos, sondern um graugrüne Transporthubschrauber der US-Army vom Typ CH-47 »Chinook«. Der CH-47, bei dem auch die Transportvarianten der US-Army mit Maschinengewehren bestückt sind, wurde unter anderem im Vietnamkrieg, in Afghanistan und im Irak eingesetzt. 1982 kamen beim Absturz einer US-Army-Maschine dieses Typs in Mannheim 46 Menschen ums Leben.
Unter dem mitgebrachten Spielzeug der Trump-Truppe soll auch die Mehrzweckdrohne MQ-1 »Predator« sein, die in Hamburg somit erstmals außerhalb eines Kriegsgebietes zum Einsatz käme. Diese Drohne, die in Syrien und Afghanistan mit »Hellfire«-Raketen unterwegs ist, lässt sich auch mit Überwachungselektronik ausstatten. Aus einer Flughöhe von rund fünf Kilometern kann sie mit ihren Kameras halb Hamburg erfassen. Mit Hilfe der geheimen Spionagetechnologie »ARGUS-IS« soll es ihr möglich sein, Hunderttausende Menschen einzeln und in Echtzeit durch Wolkendecken hindurch und auch nachts zu verfolgen. Um die riesigen Datenmengen zu verarbeiten, wird den Informationen zufolge eine Hochleistungssoftware namens RIOT (Rapid Information Overlay Technology) genutzt. Dies sei, so Jay Tuck im Playboy, eine »Suchmaschine der Superlative«, die vor allem von Militärs und Nachrichtendiensten eingesetzt werde. Sei eine Zielperson ausgemacht, dann spucke das Programm umfangreiche Eckdaten aus – darunter Telefonate und Kontakte, SMS-Texte und E-Mails sowie GPS-Standorte. Zudem zeige RIOT die Bewegungen eines Verdächtigen auf einer Landkarte – in Echtzeit und bei Bedarf auch für zurückliegende Tage, Monate oder Jahre. Wie das Onlineportal Telepolis bereits 2013 berichtete, ist das US-Militär die einzige Auslandsarmee, die in Deutschland mehrere Dutzend Drohnen stationiert hat. Seit 2005 verfügt es über unbefristete Aufstiegsgenehmigungen. Eine kleine Anfrage der Linksfraktion hatte ergeben, dass die USA von der Bundeswehr eine offizielle Zulassung für den Betrieb von 57 Aufklärungsdrohnen in Deutschland erhalten haben.
Verglichen mit Trumps High-Tech-Cowboys wirken die zu Tausenden eingesetzten bundesdeutschen Polizisten – trotz ihrer provokativ zur Schau gestellten Schusswaffen und Knüppel – ziemlich hausbacken. Bei einer Fahrt durch die Stadt mit den Metrobussen der Linien 4, 5 und 6 fühlte ich mich am Dienstag trotzdem an schlimme Zeiten erinnert. In jeden dieser Busse stieg vorne jeweils ein mit einer Pistole bewaffneter Polizist ein und ging langsam, alle Fahrgäste sorgfältig musternd, durch den Mittelgang. Solche Szenen hatte ich zuletzt Anfang der 1980er Jahre bei Reisen in Chile erlebt, als Faschisten nach dem von der CIA finanzierten Putsch des Generals Pinochet ein blutiges Terrorregime errichtet hatten und jeden Widerstand dagegen im Keim zu ersticken versuchten.
Die Repression im Vorfeld des G-20-Gipfels in Hamburg richtet sich nicht nur gegen die Gipfelgegner selbst, sondern zunehmend auch gegen deren Unterstützer. Aktuell geht die Hamburger Polizei gegen den Republikanischen Anwaltsverein (RAV) vor. Treffen möchte sie damit offenbar den dort angebundenen Anwaltlichen Notdienst, der von Polizeimaßnahmen betroffene Aktivisten unterstützt. In einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht (VG) hatte die Polizei die Auffassung vertreten, die Mitgliedschaft von Anwälten im RAV sei Indiz für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Dies kritisierte der Verein am Dienstag.
Hintergrund: Vier ehemalige Jura-Studierende, früher Mitglieder in der Initiative »Hamburger aktive Jura-Student_innen (HAJ)«, hatten vorm VG mit einem Eilantrag gegen die von der Polizei erlassene Allgemeinverfügung geklagt, die in einem Areal von rund 38 Quadratkilometern Demos verbietet (»blaue Zone«). Am Montag legte die Polizei dem Gericht eine Gefahrenprognose vor, in der der sie ausführte, die vier Antragsteller und die genannte Studierendengruppe seien mit dem RAV verbunden. Außerdem seien die im Verfahren mandatierten Anwälte RAV-Mitglieder.
Die Polizei greife damit die freie Anwaltswahl an, kritisierte der RAV. Bereits am Montagabend war zwei Anwälten des Notdienstes der Zugang zur Außenstelle des Amtsgerichts Hamburg-Mitte im Stadtteil Neuland beim Bahnhof Harburg verwehrt worden. Der RAV sieht das als Wortbruch des Justizsenators Till Steffen (Grüne), der den Anwälten des Notdienstes freien Zugang zugesichert hatte. Die Anwälte sollten in der Außenstelle Gipfelgegnern anwaltlichen Beistand leisten, die in den benachbarten Knast, die Gefangenensammelstelle (Gesa), eingeliefert wurden.
Anwältin Britta Eder kritisierte: »Es ist zu befürchten, dass die Hamburger Polizeiführung eine Vertretung durch den Anwaltlichen Notdienst in den Gefangenensammelstellen verhindern will.«
Die Regierungschefs der G20-Staaten sind nicht die wahren Machthaber – daran hat heute zur Eröffnung des »Gipfels für globale Solidarität« im Hamburger Kulturzentrum Kampnagel die indische Bürgerrechtlerin Vandana Shiva auf einer Podiumsdiskussion erinnert. Der Alternativgipfel soll Vertretern der breit gefächerten Protestbewegung ein Podium zum Austausch bieten. Die Trägerin des Alternativen Nobelpreises gebrauchte das Bild des „»Sherpas«, des Gepäckträgers, um vor rund 900 Zuhörern die Rolle des politischen Führungspersonals im Verhältnis zu Großkonzernen und Finanzbranche zu beschreiben.
Shiva benannte klar die Mitverantwortung der Regierenden für Hunger und ökologische Katastrophen. »Ich nenne sie das Giftkartell«, sagte sie mit Blick auf die Gruppe der zwanzig nach eigener Definition wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, deren Repräsentanten sich am 7. und 8. Juli in der Hansestadt treffen wollen. Zum Zusammenhang von Umweltschäden und dem Einsatz von Pestiziden in Landwirtschaft mit erhöhten Krebsraten fragte Shiva: »Sollte die G20 sich damit nicht auseinandersetzen?« Statt dessen sei von Digitalisierung die Rede: »In Indien gibt es Leute, die haben noch nicht mal ein Dach über dem Kopf – und die sollen jetzt erst mal ein Smartphone und ein Tablet haben?«
Valter Sanches aus Brasilien, Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes IndustriALL Global Union, kam auf die wachsende Repression gegen Betriebsräte und Streikorganisatoren in Südostasien, Lateinamerika und der Türkei zu sprechen. Der Putschversuch am Bosporus sei ausgenutzt worden, um Gewerkschafter zu inhaftieren und Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen, betonte er.
Auf Erfolge sozialer Bewegungen verwies Patrick Bond von der Universität von Wildwatersrand in Südafrika: So sei durch deren Aktionen die Privatisierung der Wasserversorgung von Johannesburg verhindert worden. Barbara Unmüßig vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung hob in der Runde hervor, dass weltweit mit Repression zu rechnen sei, wenn politische und ökonomische Machtverhältnisse in Frage gestellt würden. Auch die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit während des G20-Gipfels in Hamburg kritisierte sie scharf.
Das Deutsche Schauspielhaus am Hamburger Hauptbahnhof hat am Dienstag abend sein Foyer für etwa 100 Gipfelgegner geöffnet und ihnen damit Übernachtungsplätze zur Verfügung gestellt. An der Fassade des Theaters hatten die Aktivisten zuvor Spruchbänder aufgehängt, auf denen »Sleeping is not a crime« und »Bühne frei für Isomatten!« stand. Die Polizei rückte daraufhin an, und wollte die Gipfelgegner am Betreten des Gebäudes hindern. »Im Gespräch mit dem Einsatzleiter haben wir dann verständlich gemacht, dass wir das Hausrecht haben, und dann ist die Polizei nach kurzer Zeit wieder abgezogen«, sagte der Geschäftsführer der Bühne, Peter F. Raddatz, dem NDR.
»Wir haben es als Akt der Menschlichkeit und als Selbstverständlichkeit angesehen, dass die Demonstranten eine Übernachtungsmöglichkeit im Schauspielhaus bekommen«, erklärte Raddatz weiter. Das Theater habe seine Räume auch schon auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise Schutzsuchenden zur Verfügung gestellt. Am Mittwoch vormittag ergänzte der Geschäftsführer im Gespräch mit dem NDR, er gehe davon aus, dass die Gipfelgegner auch in den nächsten Tagen im Theater übernachten könnten.
Unterdessen haben die Aktivistinnen und Aktivisten des »Antikapitalistischen Camps«, das am Elbpark in Rothenburgsort errichtet worden war, ihre Zelte abgebrochen. Sie seien aus dem »Freiluftgefängnis Entenwerder« ausgebrochen, schrieben sie nach tagelangen Schikanen und Übergriffen durch die Polizei auf ihrer Homepage. Wörtlich heißt es in dem Statement:
»Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat ein Camp als Ausdruck politischen Protests ausdrücklich befürwortet, ebenso das Verwaltungsgericht Hamburg, das zusätzlich Schlafen und Infrastruktur auf dem Camp erlaubt hat. Diesem Beschluss hat sich die Polizei widersetzt und das Camp am 2. Juli brutal gestürmt, um Schlafzelte zu entfernen. Dieser Putsch der Polizei gegen die Justiz und dessen Unterstützung durch die Hamburger Behörden zeigt wieder einmal, dass politischer Widerstand gegen das herrschende System auf legalem Weg nicht möglich ist. Wir werden nicht länger um Erlaubnis bitten, sondern uns von nun an nehmen, was wir brauchen!
Die völlig inakzeptablen Schikanen der Polizei, wie pausenlose Patrouillen über und rund ums Camp, das Nichtdurchlassen von Versammlungsteilnehmer*innen, Verpflegung und Presse nehmen wir nicht länger hin. Wir haben keinen Bock mehr am langen Arm der Justiz zu verhungern und darauf zu warten, dass die eine oder die andere Auflage doch noch gelockert wird.
Wir schließen uns dem Aufruf der wütenden Gruppen des Widerstandes gegen den G20 an, ein Camp in Hamburg durchzusetzen und jeden geeigneten Platz zu besetzen und zu Orten zu machen, von denen wir den Protest gegen den G20 selbstbestimmt gestalten können!«
Der Aufruf endet mit der Ansage »Wir sehen uns in der Innenstadt!«
Am Wochenende ist Showtime. In Hamburg versammeln sich die Staats- und Regierungschefs der 19 »wichtigsten Industrie- und Schwellenländer« sowie Vertreter der EU zum G-20-Gipfel. Das klingt mächtig gewaltig, ist es im Grunde auch – selbst wenn es aus Sicht der deutschen Präsidentschaft eher darum geht, der »Führerin der freien Welt« (New York Times) im Herbst die Wiederwahl zu ermöglichen. Die Bundeskanzlerin soll das Treffen orchestrieren, schreiben die Konzernmedien. Angela Merkels Appelle für »Freihandel« und »Klimaschutz« sind bekannt, und »mitgerissen« fühlen sich bei solchen Anlässen ohnehin nur die hiesigen »Pressköter« und »Tintenstrolche« (Karl Kraus).
Der Akt wird teuer, Positives ist nicht zu erwarten. Außer den zigtausend Kritikern und Gegnern, die ihr Kommen angesagt haben und eine Art Rahmenprogramm gestalten wollen – das die Staatenlenker arrogant zu ignorieren vorgeben. Die »Gipfelstürmer« sind es, deren Stimme für all jene sprechen soll, die von den Regierenden nicht repräsentiert werden.
Die Gruppe der 20 (19 Staaten plus EU) gibt es seit 1999. Sie ist Resultat einer beim globalen Kapital gelegentlich zu beobachtenden Bandenbildung. Um ihre Absichten zu verdecken, geben sich die Gangs unauffällige Namen, wie EU, NATO oder eben G 20. Gemeinsam werkeln sie heute am selben Ziel: Durchsetzung und Sicherung einer neuen Art politischer, wirtschaftlicher und kultureller Weltherrschaft.
Das großes Rad hat die G 7 in Schwung gebracht. Insbesondere nach Zusammenbruch des realen Sozialismus brauchte es neue Strategien. Der »alte Westen«, historisch lange in der Defensive, berappelte sich und kreierte die Mär von der Globalisierung. Tatsächlich geht es um den Zugriff des internationalen Monopolkapitals auf Ressourcen und Institutionen. Überall, zu gleichen Bedingungen. Staaten gelten als Hemmnisse, »Freihandelsabkommen« sollen Garantien für die unbehinderte Mehrung des von »Investoren« riskierten Kapitals gewähren. Ein beispielloser Eroberungsfeldzug.
Doch Billionen Dollar, Meinungsdominanz und Overkillpotential reichen nicht. Wenn Strukturen zerschlagen und neue etabliert werden, gilt es, diese zu sichern. Das ist der Hauptgrund, weshalb sich die Initiatoren gezwungenermaßen Helfer gesucht haben. Die Gruppe der 20, quasi eine um zwölf Mitgliedsländer erweiterte G 7, war und bleibt auserkoren, diesen Job zu machen.
Die drei genannten Gangs (und weitere) spielen hierbei ihre spezifische Rolle: Die EU ist als poststaatliches Regulierungsgebilde konzipiert. Dort sind westeuropäische Kapitalinteressen repräsentiert. 20.000 Eurokraten agieren als Förderer und Beschützer des »freien Kapitalverkehrs«, der ohne Scham als essentielles Ziel postuliert ist. Diese Leute bauen »Investitionsautobahnen«, Hemmnisse werden beseitigt. Brüssel fördert Freizügigkeit der Ware Arbeitskraft, untergräbt soziale Sicherungssysteme – und behauptet, es sei Freiheit. Es werden Spielregeln aufgestellt, nach denen der Verwertungsprozess im Herrschaftsgebiet – und darüber hinaus – abzulaufen hat.
Die NATO soll das militärisch sichern. Bis Anfang 2017 sorgte das Bündnis dafür, dass USA und EU im Gleichschritt marschierten: vorne Washington, dahinter London und Paris mit ihren Atomwaffenarsenalen. Deutschland, mit der auf seinem Territorium konzentrierten Wirtschaftskraft, spielt eine Sonderrolle. Nach dem Zerwürfnis mit Washington mutiert Berlin als Hauptfinanzier der EU endgültig zur politischen Führungsmacht.
Diese versucht Merkel beim G- 20-Gipfel zu demonstrieren. Die USA gelten unter Trump nicht mehr als Leitwolf der Globalisierungsmeute. Das hat einen gewissen Charme, dürfte aber eine Fehleinschätzung sein. Absurd wäre anzunehmen, Merkel oder Merkel-Macron könnte bzw. könnten diese Rolle spielen. Und klar ist auch: China, Indien, Brasilien, Indonesien, Mexiko, die Türkei, Saudi-Arabien, Südkorea, Argentinien und Südafrika haben eigene Pläne und Interessen. Russland sowieso.
Weder campen noch spontane Feiern sind in Hamburg erlaubt. Am Dienstag abend und in der Nacht zum Mittwoch sind die Beamten in St. Pauli und Altona brutal gegen Menschen vorgegangen, die sich dem verordneten Ausnahmezustand mit Musik widersetzten und gegen den Ausnahmezustand protestierten.
Mehrere tausend Menschen hatten den ganzen Tag über an vielen Stellen der Stadt spontane Straßenfeste veranstaltet. Das »massenhafte Cornern« sollte ein weiterer friedlicher Protest gegen den in Hamburg herrschenden Ausnahmezustand darstellen. Auch im Gählerpark – offiziell: Emil-Wendt-Park – in der Altonaer Altstadt hatten sich am Abend Menschen versammelt, um für das Recht auf Teilnahme an Protesten gegen den G-20-Gipfel und gegen die Unterdrückung der Camps zu demonstrieren. Gegen 21 Uhr drangen Polizeieinheiten in die Menge ein und rissen etwa fünf Schlafzelte ab, die dort symbolisch aufgestellt worden waren. Mehrere Male wurde Pfefferspray gegen die friedlichen Menschen eingesetzt. Besucher des Parks, die das Geschehen beobachteten, zeigten sich empört. Sogar ein Polizist ermahnte seine Kollegen zur Mäßigung.
Als Reaktion auf das Vorgehen der Beamten beschlossen die Teilnehmer, eine Spontandemonstration gegen die Repression durchzuführen und setzten sich in Richtung Neuer Pferdemarkt zum sogenannten Arrivati-Park in Bewegung. Die Polizei versuchte, dies zu verhindern, und ging gewaltsam gegen die Demonstranten vor. An der Kreuzung Max-Brauer-Allee und Stresemannstraße wurde ein Mann durch massiven Schlagstockeinsatz der Polizei verletzt. Ein Augenzeuge berichtete gegenüber junge Welt, dass sich mehrere Beamte auf den Mann gestürzt und ihm wiederholt mit dem Schlagstock auf den Kopf geschlagen hätten. Viel Blut sei zu sehen gewesen. Dann wurde er zu einem Polizeifahrzeug gezerrt, wo ihm trotz seines Zustandes Handschellen angelegt wurden. Offenbar nur aufgrund der Anwesenheit der Presse, von Abgeordneten der Linkspartei und von Rechtsanwälten wurde ihm ein Kopfverband angelegt.
Die Polizei versuchte mehrmals, die Journalisten am Filmen und Fotografieren zu hindern. So hielten sie einen sich nähernden Kameramann an der Kapuze fest und stellten sich vor den Verletzten. Die Rechtsanwälte wurden nicht zu ihm durchgelassen. Erst nach längerer Verhandlung durfte sich ein Mediziner zu dem kaum ansprechbaren Verletzten begeben, bis endlich der Krankenwagen kam. Währenddessen versuchten Uniformierte, das Blut aus ihrem Einsatzfahrzeug zu entfernen.
Um 22.30 Uhr hatten sich am Neuen Pferdemarkt bis zu 2.000 Menschen versammelt. Die Polizei fuhr vier Wasserwerfer und mindestens ein Räumfahrzeug auf. Mehrere Hundertschaften waren vor Ort, darunter Einheiten des berüchtigten »Unterstützungskommandos« USK aus Bayern. Gegen 23 Uhr gingen die Wasserwerfer in Stellung. Über Lautsprecher forderte ein Beamter in zynischem Ton, die Kreuzung zu verlassen: »Ihre Polizei wird Ihnen dabei behilflich sein.« Kurz darauf schossen die Wasserwerfer in die Menge und trieben die Menschen von der Kreuzung herunter und durch die Seitenstraßen des Schanzenviertels, wo sie sich nach Mitternacht zerstreuten. Mindestens eine Person wurde festgenommen.
Auf Twitter verharmloste die Hamburger Polizei ihr Tun: »Im Emil-Wendt-Park in Altona wurden Zelte aufgebaut. Eine Verfügung zum Abbau der Zelte wurde durch uns erlassen. Nach mehrfacher Aufforderung wurden die Zelte in Altona nicht abgebaut. Die Verfügung wird jetzt durch uns umgesetzt.«