Brasilianische Kampfkunst mit dem aus Salvador de Bahia stammenden Capoeira-Lehrer und Showartisten Reginaldo dos Santos Filho gab unter großem Applaus das Signal zum Beginn der diesjährigen XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Mitglieder der Berliner Capoeira-Gruppen »Topázio« und »Cultura Brasil« führen zu den Klängen der Berimbau Gesang, Tanz und Akrobatik mit afrikanischen Wurzeln vor. Die traditionellen Elemente von Capoeira gelangten mit den verschleppten Sklaven einst nach Südamerika. Im Kampftanz bewahrten sie Identität, Kulte und Geschichte, erlernten Fähigkeiten für den Widerstand. Capoeira ist ein bleibendes Symbol ihres Freiheitswillens und ein heute international praktizierter Sport.
Schneetreiben vor dem Berliner Mercure-Hotel MOA in Moabit, dem Tagungsort der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Hunderte Menschen strömen in Richtung des Gebäudes und werden von einer Kundgebung junger Kommunisten empfangen. Die SDAJ will ein »kraftvolles Zeichen gegen imperialistische Kriege« setzen und mobilisiert zu den Demonstrationen gegen die demnächst stattfindende »Sicherheitskonferenz« (SIKO) in München. Unter dem Applaus der Umstehenden fordert Simon Oberhauser über ein Megaphon dazu auf, dem Imperialismus in den Rücken zu fallen und prangert den Bundesverband der Deuten Industrie an. »Zur Profitabsicherung ist der Verband bei der SIKO natürlich vertreten«, sagt er. Unter anderem die Machenschaften des für sichere Rohstoffversorgung zuständigen Ausschussvorsitzenden Hans Joachim Welsch seien verantwortlich dafür, dass weltweit Menschen ausgebeutet würden. Unter den in das Hotel gehenden Besuchern ist auch Gretel Danner von der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ). Sie ist aus München angereist und ist besonders interessiert an der Jugendkonferenz am Nachmittag. »Ich erwarte Anregungen, wie wir dem Rechtsruck begegnen können und im Kampf gegen rechts weiterkommen«, sagt sie. (mme)
Der Journalist und Literaturwissenschaftler Jean Wyllys aus Rio de Janeiro vertritt seit 2011 als Abgeordneter im Nationalkongress von Brasilien die Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL). Mit seinem Eintreten für Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT), gegen Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Rassismus machte sich Wyllys insbesondere als Bürgerrechtler einen Ruf. Das gesellschaftliche Engagement des 1974 im nordöstlichen Bundesstaat Bahia geborenen Politikers nahm in den Basisgemeinden und der katholischen Studentenbewegung seinen Anfang. Wyllys arbeitete als Hochschullehrer und trat auch als Buchautor hervor. Im von der rechten Oligarchie beherrschten Kongress ist er als streitbarer Abgeordneter, der offen homosexuell lebt, landesweit bekannt. Er unterstützt Initiativen für Gesetze zum gesellschaftlichen Umgang mit Geschlechtsidentität, kämpft gegen Sklavenarbeit, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, gegen die Diskriminierung von Menschen, die afrobrasilianischen Religionen anhängen.
Die 2005 gegründete PSOL ging aus dem linken Flügel der Arbeiterpartei (PT) hervor, deren Aufgabe von Prinzipien sie kritisiert. Während der aktuellen politischen Krise Brasiliens hat die PSOL beträchtlich an Bedeutung gewonnen. Die Partei zeichnet ein basisdemokratischer und transparenter Politikstil und die Nähe zu den sozialen Bewegungen aus. Dem parlamentarisch-justitiellen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff, der nach 13 Jahren das Ende der PT-Ära herbeiführte, trat die PSOL konsequent entgegen. In der Verbindung von Sozialismus und Demokratie sieht sie ihre »Richtschnur zur Überwindung der kapitalistischen Ordnung«.
Mit einem Empfang in der Ladengalerie von junge Welt in der Berliner Torstraße für die Gäste, Referenten und Organisatoren der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz ging es am Freitagabend auf die Zielgerade zum großen Jahresauftakt der deutschen Linken.
Wenn fortschrittliche Parteien im Kapitalismus mitregieren, hat das in aller Regel unschöne Folgen. Es sollte historischen Ausnahmesituationen vorbehalten bleiben. Die bestehen gegenwärtig jedoch nicht
Patrik Köbele
In der gestrigen Ausgabe ging Bernd Riexinger, Kovorsitzender der Partei Die Linke, auf diesen Seiten der Frage nach, unter welchen Bedingungen eine Regierungsbeteiligung linker Kräfte sinnvoll sein könnte. Nun beschäftigt sich an gleicher Stelle Patrik Köbele, Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), mit dem Thema. Beide werden auf der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt am 14.1. in Berlin zusammen mit Aitak Barani von »Zusammen e.V.«und Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke diskutieren. Das Motto lautet: »Nach der Bundestagswahl 2017: NATO führt Krieg – die Linke regiert?« (jW)
R2G, das Kürzel macht die Runde. Und nein, es benennt nicht den sympathischen Roboter aus der Weltraumsaga »Star Wars«, der so ähnlich heißt, sondern steht für »Rot-Rot-Grün«, also für die nach der Bundestagswahl im kommenden September als möglich erachtete Regierungskoalition bestehend aus SPD, der Partei Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Beim so bezeichneten Bündnis ergeben sich allerdings erhebliche Zweifel an der Stimmigkeit der Farbbezeichnungen. Das Ja zu den Kriegskrediten 1914, die mindestens geduldete, wenn nicht gar befürwortete Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg 1919, die endgültige Absage an den Marxismus, festgeschrieben in ihrem Godesberger Programm 1959, die Berufsverbote unter Willy Brandt seit 1972 und die »Agenda 2010«, umgesetzt zwischen 2003 und 2005, machen unergründlich, was an der Politik der SPD noch »rot« sein soll. Für die Grünen lässt sich, um es kurz zu machen, sagen, dass aufgrund ihrer seit spätestens 1999 unausgesetzten Befürworterei von Kriegseinsätzen der Bundeswehr der eigenen Parteifarbe längst eine starke olivgrüne Note beigemischt ist. All das hält prominente Vertreter der Partei Die Linke aber ganz offensichtlich nicht davon ab, Gemeinsamkeiten auszuloten. Deren Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht traf sich Anfang Dezember mit Vizekanzler Sigmar Gabriel zum »vertraulichen Gespräch«, gut sechs Wochen, nachdem Bundestagsabgeordnete aller drei Parteien gemeinsam konferiert hatten. Bodo Ramelow, der in Thüringen ein solches Bündnis als Ministerpräsident des Landes anführt, ist von dem Gedanken an eine entsprechende Koalition auch auf Bundesebene ohnedies begeistert. Die Stimmen der Warner aus den eigenen Reihen, die daran erinnern, dass die Regierungsbeteiligung in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Berlin die Partei Stimmen gekostet hat, sind derweil kaum zu vernehmen. Doch das ist ohnehin bestenfalls ein kleinerer Teil des Problems.
Der »ideelle Gesamtkapitalist«
Es geht grundsätzlich um Regierungsverantwortung, um Mitwirkung an der Leitung des Staates. Und das wirft die folgende, ganz entscheidende Frage auf: Was ist der Staat? Im August 1917, zu einer Zeit, als der Erste Weltkrieg noch tobte, die II. Internationale infolge seiner Befürwortung seitens ihrer Mitgliedsparteien ihren Bankrott erklärt hatte und in Russland die gesellschaftlichen Umwälzungen bereits im Gange waren, verfasste Lenin in einer finnischen Laubhütte seine später berühmt gewordene Schrift »Staat und Revolution«. Darin formulierte er zu Beginn die folgende Maßgabe: »Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat.«
Diese Aufgabe bestand fortwährend. Und sie stellt sich nicht ganz hundert Jahre später angesichts der Schwäche der fortschrittlichen Kräfte umso dringlicher. Nach der Niederlage von 1989/90 sind die Illusionen innerhalb der Arbeiterbewegung und der Linken über Wesen und Bedeutung des kapitalistischen Staates nicht verschwunden.
In dem erwähnten Text erinnert Lenin an Engels und zitiert aus dessen Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«: Der Staat »ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über den Klassen stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ›Ordnung‹ halten soll«. Scheinbar über den Klassen stehend, denn Lenins Resümee lautet wenige Zeilen später: »Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere«.
Daran hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert. Davon zeugen die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Maßnahmen zur Zertrümmerung des Sozialstaats, das Gegeneinanderausspielen der (potentiell) Lohnabhängigen aufgrund ihres Beschäftigungsverhältnisses (Festangestellte gegen Leiharbeiter) oder aufgrund ihres Aufenthaltsstatus (Staatsbürger gegen Geflüchtete).
In der Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« gelangt Engels zu einer treffenden Bestimmung: »Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.«
Verlust der Glaubwürdigkeit
Bezogen auf die gegenwärtige BRD ist zu ergänzen: Wir haben es mit einem Staat in seinem imperialistischen Stadium, mit einem der führenden Imperialismen zu tun, der in der Lage ist, anderen kapitalistischen Staaten seinen Willen aufzuzwingen. Wir haben es mit einem führenden, einem starken, einem unterdrückenden Imperialismus zu tun. Die BRD ist ein Staat, dessen Rechnung als »ideeller Gesamtkapitalist« bei der Herausbildung der jetzigen EU und des Euro-Raums im Unterschied zu vielen seiner Konkurrenten und zum Wohle seiner Monopole aufgegangen ist. Das bekommen die Menschen vor allem im Süden der EU tagtäglich mit aller Brutalität zu spüren.
Dieser Staat ist zudem im Rahmen des Hauptkriegstreibers NATO erster Juniorpartner des militärisch derzeit noch übermächtigen US-Imperialismus, der zugleich immer auch die Rolle des kleineren Mitbewerbers spielt. Das wurde im Frühjahr 2014 im Konflikt um die Ukraine deutlich, als Außenminister Frank-Walter Steinmeier zunächst für eine aggressive Zuspitzung eintrat. Eine solche Außenpolitik vertritt also jene deutsche Sozialdemokratie, mit der von einigen Protagonisten der Partei Die Linke ein Regierungsbündnis angestrebt wird. Man wird ihr im Falle des Zustandekommens sicherlich abverlangen, dass sie die russlandfeindlichen Positionen der anderen genauso übernimmt wie das Schweigen über den Anteil des Westens (und damit des eigenen Staates) am Krieg gegen Syrien. Der bemitleidenswerte unbedingte Wille, endlich allseits anerkannte Staatspartei zu werden, zeigt sich dann z. B. daran, dass Gregor Gysi, kommt die Rede auf Kuba und Fidel Castro, offenbar nicht anders kann, als von »diktatorische(n) Fehlstrukturen« zu sprechen (Interview mit der taz vom 27.11.2016).
Ausflüge in die Regierung kapitalistischer Staaten haben linke, auch kommunistische Parteien oftmals mit hohen Stimmenverlusten bezahlen müssen. Das verwundert nicht, denn in der Regel wurden sie zu dem Zweck eingebunden, Maßnahmen zum Sozialabbau ohne größeren Widerstand realisieren zu können. Das funktionierte regelmäßig, und ebenso regelmäßig wandten sich frühere Wähler frustriert ab und nicht selten rechten Parteien zu. Mitregieren, dieser Eindruck musste entstehen, zeigt, dass »die letztlich auch nicht anders sind«.
Zur Einbindung in die Regierungsverantwortung gehören immer zwei. Diejenigen, die ein Interesse daran haben, die Linkskräfte einzubinden und die Linkskräfte selbst, die sich einbinden lassen. Hier hat das deutsche Kapital einen großen Erfahrungsschatz. Die wenige Jahre zuvor noch revolutionär ausgerichtete Sozialdemokratie war mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 endgültig integriert. Arbeiter wurden auf Arbeiter gehetzt für die Interessen »ihrer« herrschenden Klassen – und mit Billigung »ihrer« Partei. Die Bekämpfung der Novemberrevolution konnte man dann auch der komplett gewendeten Sozialdemokratie anvertrauen, der man bei Wahrung der bestehenden Eigentumsverhältnisse die Leitung der Angelegenheiten des »ideellen Gesamtkapitalisten« übertragen hatte. Überspitzt lässt sich sagen, dass Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Opfer der unbedingten Bereitschaft waren, die Geschäfte des Klassengegners zu besorgen.
Die Funktionen des Parlaments
Noch bevor allerdings die Rede auf die Regierungsbeteiligung kommt, sollte Klarheit darüber bestehen, welche Funktionen das Parlament in der bürgerlichen Gesellschaft hat. Die erste ist, eine Institution zu bilden, in der die widerstreitenden Interessen unterschiedlicher Fraktionen der herrschenden Klasse »zivilisiert« ausgetragen werden können, um in Wechselbeziehung mit der Exekutive zu gewährleisten, dass es zu einer Harmonisierung der Staatspolitik kommt. Ein anschauliches Beispiel dafür war vor wenigen Jahren die Herausbildung einer einheitlichen Ukraine-Politik des deutschen Imperialismus. Die Kapitalfraktion, die aufgrund ihrer Profitbestrebungen wenig von einer Eskalation im Verhältnis zu Russland hielt, wurde eingehegt, so etwa der für die Absatzinteressen seines Unternehmens im Osten sprechende Siemens-Chef Josef Käser.
Die zweite Aufgabe des bürgerlichen Parlaments wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was Engels meinte, als er schrieb, der Staat stehe »scheinbar« über den Klassen. Es geht darum, das Faktum zu vertuschen, dass der kapitalistische Staat seinem Wesen nach Herrschaft der Kapitalisten über die Arbeiter und andere ausgebeutete Schichten ist. Diese Verschleierung gelingt bis heute. Sie drückt sich im immer wieder anzutreffenden klassenindifferenten »Wir« aus. »Wir müssen Deutschland am Hindukusch verteidigen«, »Wir können neue Schulen nicht bezahlen, weil wir verschuldet sind«, »Wir müssen unsere Arbeit wieder bezahlbar machen« oder »Wir können keine Flüchtlinge mehr aufnehmen.« Dieses »Wir« ist mittlerweile (noch nicht in der Frage der Auslandseinsätze, aber z.B. dann, wenn die Rede auf die Verschuldung der Kommunen, der Länder oder des Bundes kommt) bei vielen Parlamentariern der Linkspartei zu hören. Dieses »Wir« steckt auch hinter Sätzen wie dem von Sahra Wagenknecht vor einem Jahr vorgebrachten: »Wer sein Gastrecht missbraucht, der hat eben auch sein Gastrecht verwirkt«.
Die dritte Funktion des Parlamentarismus besteht darin, Kräfte einzubinden, die ansonsten die eigentlichen Herrschafts- bzw. Klassenverhältnisse in Frage stellen könnten. In immer stärkerer Weise verschiebt sich die Praxis der Parteien von der Straße in die gewählten Gremien. Das wird öffentlich gefördert. Der Staat finanziert den Parlamentsfraktionen Mitarbeiter bzw. einen Apparat und verschafft ihnen so ihre Wirkungsmöglichkeiten. So erlangen die Abgeordneten in diesen Parteien eine Bedeutung, die ihnen auf Basis demokratischer Prinzipien innerhalb dieser Organisationen gar nicht zustehen würde. Das führt dann regelmäßig dazu, dass Fraktionen, ja sogar einzelne Abgeordnete, die Inhalte des jeweiligen Parteiprogramms zur Disposition stellen oder direkt außer Kraft setzen, ohne dass dies sanktioniert würde. Ein aktuelles Beispiel war am 28.12.2016 in dieser Zeitung nachzulesen. Ein dreiviertel Jahr vor der Bundestagswahl – also ohne deren Ergebnisse und damit überhaupt Koalitionsmöglichkeiten zu kennen und lediglich auf Basis von Gesprächen zwischen Abgeordneten von SPD, Grünen und Linkspartei – verkündete Thomas Nord, Schatzmeister der letzteren, zur NATO-Frage: »Für uns ist vor allem wichtig, dass wir zu einer friedlichen Außen- und Entspannungspolitik kommen, dass wir Bundeswehr-Einsätze und Kriegsbeteiligungen im Ausland beenden. (…) Alles weitere ist politische Programmatik der Partei, daran sollten wir festhalten. Ob das dann aber auch so in einem Regierungsprogramm stehen muss, ist eine andere Frage.«
Die Haltung zur NATO ist für die herrschende Klasse jedoch zentral. Wohlverhalten in dieser Angelegenheit wird für die Linkspartei daher auch zur Voraussetzung eines etwaigen Regierungseintritts werden. Die NATO ist der wirkliche »Gesamtmilitarist« der führenden Imperialismen bei der Umsetzung ihrer gemeinsamen Interessen (Einkreisung der aufstrebenden Mitbewerber Russland und China, Destabilisierung im Nahen Osten, Rohstoffe in und um Afrika), aber auch ein Werkzeug zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten des deutschen Imperialismus.
Selbstverständlich wird man die Linkspartei nicht zu einem öffentlichen »Ja zur NATO« zwingen. Und selbstverständlich wird die Zustimmung zu bevorstehenden Militäreinsätzen nicht mit offenen Annexionsforderungen begründet werden. Denn die Partei soll ja größte Teile ihrer Mitgliedschaft behalten: Der Staat integriert den Parteiapparat, der Parteiapparat seine Basis. Die Grünen lockte man, als es 1999 gegen Jugoslawien ging, indem man der Basis vorgaukelte, es gelte, ein »zweites Auschwitz« zu verhindern.
Die vierte Aufgabe stellt sich allen Kräften. Sie alle nutzen die gewählten Kammern als Tribüne zur Verbreitung ihrer Positionen. Und hier ist es der herrschenden Klasse nahezu durchweg gelungen, das Parlament im Bewusstsein der Massen als den zentralen, oft einzigen Ort der politischen Praxis zu verankern. Und bislang stellen noch nicht einmal diejenigen, die sich davon ausgegrenzt wähnen oder gar angewidert fühlen, die Legitimität dieser Institution in Frage. Allerdings dürfen jene Kräfte, die den Kapitalismus abzuschaffen bestrebt sind, nicht darauf verzichten, die Interessendivergenzen der verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse für die Erkämpfung von Zugeständnissen an die ausgebeuteten Klassen und Schichten auszunutzen. Das Parlament »links« liegenzulassen, wäre Sektierertum.
Nur in Ausnahmefällen
Nun sind aber, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, die parlamentarische Praxis und die Teilnahme an Wahlen etwas völlig anderes als die Beteiligung an einer Regierung. Solange die Klassenherrschaft nicht bröckelt oder gestürzt ist, bleibt eine Regierung der Ausschuss, der mit der Verwaltung und Organisation des Staates, des »ideellen Gesamtkapitalisten«, betraut ist. Die herrschende Klasse wird dann bereit sein, Kräfte der Gesellschaftsveränderung einzubinden, wenn dadurch deren Zähmung zu erwarten ist und/oder, wenn Maßnahmen durchsetzbar werden, die bei anderen Konstellationen schwieriger zu realisieren wären. Das lässt sich national und international vielfach belegen. Auch in Thüringen. Die dort betriebene, ganz und gar der vorherrschenden historischen Deutung verschriebene »DDR-Aufarbeitung« wäre ohne die Einbindung der Linkspartei viel schwerer zu realisieren gewesen. Dabei handelt es sich keineswegs um Vergangenes. Wer von Klassengesellschaft spricht, wer dafür wirbt, dass man der Kapitalistenklasse die politische Macht entreißen muss, um ihr dann die Produktionsmittel, die eigentliche Quelle ihrer Macht zu nehmen, wer sagt, dass der Sozialismus die politische Macht der Arbeiterklasse im Bündnis mit anderen ausgebeuteten Schichten sowie gesellschaftliches Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln voraussetzt, der beschreitet nach dominierender Auffassung den Weg des Unrechts. Das ist das Signal, das von der »Aufarbeitung« ausgeht.
Die Veränderung der Gesellschaft wird nur über die Mobilisierung der Massen, über Massenkämpfe Erfolg haben. Auch heute gilt, dass der Arbeiterklasse dabei die entscheidende Bedeutung zukommt. In nichtrevolutionären Zeiten, in denen das Ringen um Reformen im Vordergrund steht, in denen das Kräfteverhältnis so ungünstig ist, dass der Abwehrkampf gegen Angriffe der herrschenden Klasse das bestimmende Moment ist, trifft dies genauso zu. Reformen setzen Massenmobilisierung voraus, oder sie laufen Gefahr, der Einbindung in die Strategie der Herrschenden zu dienen – so etwa wenn inländische gegen ausländische Konzernstandorte ausgespielt werden und die »Sicherung« des »Standort Deutschland« als Erfolg gefeiert wird.
Eine Regierungsbeteiligung verbietet sich allermeist, will man am Ziel der Überwindung des Kapitalismus festhalten. Doch es gibt einige Ausnahmen von dieser Regel. Das wäre zum einen eine vorrevolutionäre Situation mit starken außerparlamentarischen Bewegungen und einem Kräfteverhältnis zu Gunsten der Ausgebeuteten. In dieser Situation kann eine Regierungsbeteiligung Ergebnis des Aufschwungs von Massenkämpfen sein und diesen Kämpfen zusätzliche Dynamik verleihen. Zum anderen kann eine Beteiligung erwägenswert oder gar notwendig sein, wenn es darum geht, autoritäre oder faschistische Regierungen oder imperialistische Kriege zu verhindern. Eine Teilnahme an der Exekutive wäre auch infolge der Befreiung von autoritären oder faschistischen Regimes zulässig, in Phasen womöglich, in denen antifaschistisch-demokratische Schritte unternommen werden können.
Aber in jeder dieser konkreten Situationen ist dies ständig zu überprüfen. Wird die Beteiligung an Regierungen zum Hemmschuh fortschrittlicher Maßnahmen, werden die betreffenden Organisationen als linkes Feigenblatt für bürgerliche Politik dienen. Und wenn der Zwang ausgeübt wird, Angriffe gegen die eigenen Klasseninteressen mitzutragen, muss die Exekutive verlassen werden.
Grundsätzlich muss immer, also auch während einer möglichen Regierungsbeteiligung, Klarheit darüber bestehen, dass sich das Wesen des Staates und seiner Regierung nicht dadurch verändert, dass Kräfte der Überwindung des Kapitalismus letzterer angehören. Die Staatsfrage bleibt der Dreh- und Angelpunkt.
In der gegenwärtigen Situation hat die herrschende Klasse »R2G« nicht zu fürchten. Eher dürfte sich damit eine weitere Option zur Verwaltung des imperialistischen Deutschlands ergeben.
Partei Die Linke: Landesverband Nordrhein-Westfalen mit Stand auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz vertreten. Gespräch mit Sascha Wagner
Claudia Wrobel
Ihr Landesverband wird mit einem Stand auf der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz vertreten sein. Was haben Sie im Gepäck, wenn Sie am Sonnabend nach Berlin kommen?
Erst mal kommen wir mit unserem Personal angereist. Neben den beiden Spitzenkandidaten, Özlem Alev Demirel und Christian Leye, werden weitere Mitglieder des Landesvorstands vor Ort sein und über den Landesverband Nordrhein-Westfalen im Wahlkampfjahr 2017 informieren. Wir hoffen, dadurch vor allem Kontakte knüpfen zu können. Vor uns stehen in diesem Jahr große Herausforderungen: Neben den Bundestagswahlen im Herbst finden in NRW im Mai Landtagswahlen statt. Uns war es deshalb gerade jetzt ein wichtiges Anliegen, ein Zeichen zu setzen und an der Konferenz teilzunehmen.
Landesverbände Ihrer Partei waren schon lange nicht mehr mit einem Stand auf der Konferenz vertreten. Was war ausschlaggebend dafür, diesen Schritt zu gehen?
Es ist ja nun keine unbedeutende linke Konferenz ist, sondern eine mit einem gewissen Stellenwert innerhalb der Linken. Natürlich schaut man gerade in Wahlkampfzeiten genau, welche Veranstaltungen nehmen wir wo und wie mit unserem Spitzenpersonal wahr. Da ist es uns wichtig – schon aus den historischen Zusammenhängen, also in Verbindung mit der Gedenkveranstaltung zu Ehren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts – ein Signal für Nordrhein-Westfalen zu setzen.
War Ihre Teilnahme Gegenstand einer parteiinternen Debatte?
Überhaupt gar nicht. Wir haben dazu einen einhelligen Beschluss im Landesvorstand gefasst.
Welche Bedeutung hat das Gedenken, das ja eine Tradition aus der DDR ist, in dem Bundesland »tief im Westen«?
Es ist ein wichtiger Termin für uns, und das war er auch schon immer. Viele Kreisverbände mobilisieren in Bündnissen mit anderen linken Organisationen oder Parteien nach Berlin. Unser Landesverband legt seit Gründung der Partei Die Linke an der »Gedenkstätte der Sozialisten« in Friedrichsfelde einen Kranz nieder. Wenn man so will, ist es auch für uns der politische Startschuss ins neue Jahr.
Was ist Ihr Hauptthema vor der Landtagswahl im Mai?
Es sind bei so einem großen Bundesland mit 18 Millionen Einwohnern, davon 13 Millionen Wahlberechtigten viele Themen. Man spricht nicht umsonst von einer kleinen Bundestagswahl. Aber die soziale Frage steht ganz klar im Mittelpunkt. Jedes vierte Kind ist in NRW von Armut betroffen, gerade im Ruhrgebiet wird das Gefälle zwischen Arm und Reich immer deutlicher. Neben vielen anderen Themen, wie dringend notwendigen Infrastrukturmaßnahmen ist deshalb natürlich die Frage nach Gerechtigkeit, nach sozialer Sicherheit von ganz besonderer Bedeutung.
Und helfen Ihnen solche Termine, dies in den Mittelpunkt zu stellen?
Als Gesamtpartei steht Die Linke vor nicht ganz leicht zu bewältigenden Herausforderungen. Wenn man so will, ist es ein Superwahljahr. In den aktuellen Debatten ist ganz vieles, was von politischer Relevanz ist, mit unserem Bundesland verknüpft: Seien es die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln oder selbst der Terroranschlag in Berlin, bei dem es Verbindungen nach NRW gab. Insofern hoffen wir auf der Konferenz selbst anregende Debatten und Diskussionen mitverfolgen zu können.
Andere Gruppen oder Parteien sind aber viel stärker dort vertreten.
Wir sind in einer nicht ganz einfachen Situation: Wir kämpfen um den Wiedereinzug ins Landesparlament und stehen in den Umfragen bei etwa fünf Prozent. Das wird für uns ein hartes Stück Arbeit, bei dem wir es leider mit einer linken Konkurrenz zu tun haben. Die DKP tritt in NRW an. Wir hoffen natürlich, die Zeit in Berlin nutzen zu können, die eine oder andere Debatte zu führen und für eine Geschlossenheit innerhalb der Linken zu werben, um die Gesellschaft in NRW nachhaltig nach links prägen zu können.
10.20 Uhr: Auftakt mit Capoeira von Topázio Berlin und Cultura Brasil Berlin
10.30 Uhr: Eröffnung der Kunstausstellung der Gruppe »Tendenzen« »¡No pasarán! – Die Reaktion wird nicht durchkommen! Unsere Kunst für eine friedliche und solidarische Gesellschaft«
Vorträge
»Gegen rechts ist nicht genug – Sozialistische Alternativen erkämpfen«
11.00 Uhr: »Der Kampf gegen den Rückschritt und der Aufbau einer neuen Linken« Jean Wyllys, Mitglied im brasilianischen Nationalkongress, Partido Socialismo e Liberdade (Brasilien)
12.00 Uhr: »›Unabhängigkeit und Sozialismus‹ – Chancen für eine gesellschaftliche Alternative im Baskenland« Arnaldo Otegi, politischer Gefangener bis März 2016, Vorsitzender der linken baskischen Unabhängigkeitspartei SORTU (Baskenland)
anschl. Gian Paolo »Picchio« Picchiami und David Cacchione (Banda Bassotti) über ihren Film »Banda Bassotti – la brigata internazionale«
13.00 Uhr: »Kampf gegen Rassismus unter neuen Bedingungen in den USA« Marylin Zuniga, Organisatorin für Bildungsarbeit, Lehrerin an der Roses Concrete Community School (-Oakland), politische Aktivistin (USA)
anschl. Grußbotschaft von Mumia Abu-Jamal, Journalist und politischer Gefangener in den USA Bericht zu den Vorbereitungen zum Protest gegen den G-20-Gipfel in Hamburg Heinz Ratz (Strom & Wasser) zur Arbeit des Büros für Offensivkultur
14.30 Uhr: »FARC-EP: Vom bewaffneten zum parlamentarischen Kampf« Alberto Pinzón (Kolumbien) und Guillermo Quintero (Mexiko)
anschl. Filmvorschau »Losgelöst von allen Wurzeln«, mit Rolf Becker (Schauspieler) und Susann Witt-Stahl (Chefredakteurin M&R)
15.30 Uhr »Warum wir den Sozialismus in Kuba erneuern und nicht aufgeben« Arlín Alberty Loforte, Stellv. Direktorin der Tageszeitung Granma, Leiterin von Granma Internacional (Kuba)
anschl. Politische Poesie – Nicolás Miquea (chilenischer Musiker) im Konzert
Buchvorstellung: Wladislaw Hedeler und Volker Külow zu den Lenin-Neueditionen »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« und »Staat und Revolution« , moderiert von Arnold Schölzel (stellv. jW-Chefredakteur)
17.00 Uhr »Der Kampf gegen Terror und Diktatur in der Türkei« Ertugrul Kürkcü, Abgeordneter der Halkların Demokratik Partisi, HDP (Türkei)
anschl. Grußbotschaft von Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der Halkların Demokratik Partisi, HDP (Türkei)
»A desalambra!« (Weg alle Zäune): Rolf Becker (Schauspieler) und Nicolás Miquea (chilenischer Musiker) spielen Daniel Viglietti (Liedermacher, Uruguay)
Podiumsgespräch
18.00 Uhr
»Nach der Bundestagswahl 2017: NATO führt Krieg – die Linke regiert?«
Bernd Riexinger, Vorsitzender der Partei Die Linke Aitak Barani, Stadtteilinitiative Zusammen e.V., Frankfurt am Main Ellen Brombacher, Kommunistische Plattform in der Partei Die Linke Patrik Köbele, Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei, DKP Moderation: Stefan Huth (Chefredakteur junge Welt)
20.00 Uhr Gemeinsames Singen der »Internationale«
20.30 Uhr Abschlussfete mit der Band »Proyecto Son Batey« und Mojitos in der Lounge
Parallelprogramm
Jugendforum im Saal MOA5 ab 14 Uhr »Den Rechtsruck stoppen! – Wie organisieren wir den Widerstand gegen AfD und Co.?« Podiumsdiskussion mit Vertretern der Gewerkschaftsjugend sowie linker Bündnisse und Organisationen
Seit den rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Berlin hat die Debatte über ein solches Bündnis im Bund wieder an Fahrt aufgenommen. Der Preis, den die Linkspartei dafür zahlen müsste, wäre die Aufgabe ihrer Friedenspolitik
Ellen Brombacher
Die Redaktion dokumentiert im folgenden einen die Friedenspolitik betreffenden Auszug der Rede, die Ellen Brombacher am vergangenen Samstag auf der 3. Tagung der 18. Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform der Linkspartei gehalten hat. Ellen Brombacher ist eine der Sprecherinnen des Bundessprecherrats des 1989 gegründeten parteiinternen Zusammenschlusses. (jW)
Nichts ist heutzutage so wichtig wie der Kampf um den Frieden. In Anbetracht dieser titanischen Aufgabe klingt es anmaßend, ja paradox, zu formulieren, dass die Kommunistische Plattform (KPF) diese in das Zentrum ihres Wirkens stellt. Knapp 1.200 Kommunistinnen und Kommunisten in der Partei Die Linke stellen den Friedenskampf in den Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit. Ist das nicht lächerlich? Ist das in Anbetracht der Lage in der Welt nicht eine Widersinnigkeit? Wir sehen den Zusammenhang so: Die den Frieden am meisten gefährdende Kraft ist die NATO unter Führung der USA. Die zweitmächtigste Kraft in diesem Bündnis ist die BRD. Es gibt verschiedene Gründe dafür, dass die große Mehrheit der Menschen in diesem Land nichts davon hält, Krieg zu führen. Von den in den Parlamenten vertretenen Parteien gibt es nur eine, die dieser Mehrheitsstimmung öffentlich Ausdruck verleiht: Die Linke. Doch die soll genau von dieser Position abgebracht werden. Da sind zunächst, wie stets, die Medien.
Mediales Trommeln
Schon im Vorfeld der Berliner Wahlen, als die Spekulationen über Rot-Rot-Grün im Bund ins Kraut schossen – nicht zuletzt befeuert durch Gregor Gysi –, interviewte die Moderatorin des ARD-»Mittagsmagazins«, Hannelore Fischer, am 5. September den stellvertretenden Chefredakteur im ARD-Hauptstadtstudio, Thomas Baumann. Ihre Frage: »Könnten die Wahlen Rot-Rot-Grün neuen Auftrieb geben, mit Blick auf Herbst nächsten Jahres?« Baumanns Antwort: »Das könnten sie schon. Politische Beobachter sagen hier, es gibt fast so etwas wie eine historische Chance für Rot-Rot-Grün. Nur – wenn man das abklopft, und das tun wir, dann landen wir immer beim gleichen Ergebnis: dass die außenpolitischen Hürden zwischen SPD und Grünen einerseits und der Linken auf der anderen Seite so hoch sind, dass wir nicht so richtig an eine rot-rot-grüne Koalition glauben wollen. Aber sicherlich sind Grüne und SPD aus taktischen Gründen gut beraten, sich diese Option offenzuhalten. Und das tun sie auch.« Soweit Herr Baumann.
Seit dem insgesamt guten Abschneiden unserer Partei bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen reden die Medien Rot-Rot-Grün im Bund nachgerade herbei, als stünden die Bundestagswahlen unmittelbar vor der Tür. Schon seltsam. Sind doch die meisten Medien keine lichtvollen Agenturen des gesellschaftlichen Fortschritts. Versprechen sie sich vielleicht von einer Regierungsbeteiligung der Linken im Bund das baldige politische Ende unserer Partei, schluckten wir die Kröten, die SPD und Grüne uns vorsetzen?
So äußerte SPD-Faktionschef Thomas Oppermann am 25. September: »Deutschlands Einbindung in das Wertesystem des Westens – in NATO und EU – ist in keiner Weise verhandelbar.« Diese Äußerung schließt absolut ein, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr ebenfalls nicht verhandelbar sind, gehören sie doch zu den Bündnisverpflichtungen. Ob SPD-Funktionäre oder Protagonisten der Grünen: Einer tibetanischen Gebetsmühle gleich wiederholen sie, Die Linke müsse ihr außenpolitisches Agieren ändern, um politikfähig zu werden. Die einen sagen es dezent, die anderen dreist. Zu den Dezenteren gehört die Juso-Chefin Johanna Uekermann, die in einem Neues Deutschland-Interview vom 15./16. Oktober formulierte: »Was die Außenpolitik angeht, so hoffe ich, dass sich in der Linkspartei diejenigen durchsetzen werden, die eine zurückhaltende, aber auch verantwortungsvolle Rolle präferieren.« Mit anderen Worten: Krieg immer nur dann, wenn er sich nicht vermeiden lässt. Nehmen wir noch ein Beispiel von den Dreisten, die Äußerungen von Oppermann im Tagesspiegel vom 10. Juli. Die Linke müsse, so der SPD-Fraktionschef, Änderungen in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik vornehmen und »ohne Vorbehalte akzeptieren, dass jede Bundesregierung der internationalen Verantwortung Deutschlands etwa im Rahmen der NATO gerecht werden muss«. »Wenn die Linkspartei regieren will«, führte Oppermann aus, »dann darf sie solche radikalen Vertreter«, gemeint sind Abgeordnete, die seiner Auffassung nach für die friedenspolitischen Grundsätze der Partei stehen, »nicht für den Bundestag nominieren. Eine Koalition mit der SPD kann es nur geben mit verlässlichen Abgeordneten«.
Wir weisen solch dreiste Unverschämtheiten zurück, nicht zuletzt mit unserer Erklärung »Rot-rot-grünes Bündnis im Bund für uns nicht vorstellbar« vom 19. Septmeber. Diese Anmaßungen, Inhalte unserer Politik und Protagonisten dieser Inhalte betreffend, lassen sich auch nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass unsererseits vor allem von der SPD gefordert wird, zum ursprünglich sozialen Charakter der Partei zurückzukehren. Es kann keinen Handel geben, der da besagte: Bieten soziale Zugeständnisse gegen Kompromisse in der Friedensfrage. In einer Erklärung unseres Bundestagsmitglieds Michael Schlecht vom 28. Oktober »Rot-Rot-Grün? Jetzt!« z. B. deutet sich so etwas an. Ohne die Friedensproblematik überhaupt erwähnt zu haben, beendet Genosse Schlecht seine Erklärung so: »Mit einem Bündnis Rot-Rot-Grün könnte Die Linke zum ersten Mal auf Bundesebene zeigen, dass sie Teile ihrer Forderungen durchsetzt und dass damit die Lebenssituation konkret verändert wird. (…) In der Linken wird für diesen Weg noch viel Überzeugungsarbeit anstehen. Denn für viele besteht linke Politik im Aufstellen von Forderungen, und zwar möglichst weitreichenden. Prinzipienfestigkeit ist ein hohes Gut, aber ohne zu sehen, dass linke Politik gerade an konkreten Ergebnissen für die Menschen zu messen ist, wird sie schnell zu Dogmatismus und Selbstisolation.«
Rote Haltelinien
Da traut man sich ja kaum, etwas zu entgegnen. Denn – wer das nicht versteht, steht beinahe schon in der Ecke der Dogmatiker. Doch ist es tatsächlich dogmatisch, zu sagen: Rot-Rot-Grün auf Kosten der friedenspolitischen Grundsätze der Linken wird es nicht geben? Mögen uns die Regierungsbefürworter des Dogmatismus bezichtigen. Wir werden immer wieder deutlich machen, dass für uns eine Regierungsteilnahme im Bund nur vorstellbar ist, wenn die in unserem Parteiprogramm fixierten roten Haltelinien in Gänze Berücksichtigung finden. Würde Die Linke in der Friedensfrage ihre Grundsätze aufgeben, so verlöre die Bevölkerungsmehrheit im Lande ihre parlamentarische Stimme – letztlich auch in sozialer Hinsicht. Wer auf die eigene Identität verzichtet, wenn es um das charakteristische Merkmal überhaupt geht, der wird auf Dauer weder die Kraft besitzen, andere wesentliche Grundsätze zu bewahren, noch den Willen dazu. Und noch einmal, damit es keine Missverständnisse gibt: Es geht nicht um abstrakte Prinzipien oder – mit anderen Worten – um eine allgemeine Befürwortung oder Ablehnung einer Regierungsbeteiligung im Bund. Es geht zuvörderst um die Haltung unserer Partei zur Überlebensfrage für die Menschheit. Das klingt furchtbar pathetisch, entspricht aber nur der grausamen Realität unseres Alltags.
Wenn die KPF also den Kampf um den Frieden in den Mittelpunkt ihres Wirkens stellt, dann heißt das konkret, dass sie alles in ihren Kräften Stehende tut, damit unsere Partei bei ihrem friedenspolitischen Kurs bleibt. Wir sind in diesen Auseinandersetzungen nicht allein, vor allem deshalb nicht, weil wir uns gerade in dieser Frage in Übereinstimmung mit großen Teilen der Parteibasis wissen. Wie breit das Bündnis von Zusammenschlüssen im Kampf um die Erhaltung der friedenspolitischen Prinzipien im Vorfeld der Bundestagswahlen sein wird, wird sich zeigen. Wir versprechen jedenfalls, dass es unsererseits auch in dieser Frage keinerlei Opportunismus geben wird. Daher hören wir nicht ohne Besorgnis Rot-Rot-Grün befürwortende Stimmen aus ungewohnten Richtungen. Unseren Bundestagsabgeordneten Michael Schlecht haben wir bereits zitiert. Ein weiteres Beispiel sei aufgeführt. Viele von uns schätzen die Nachdenkseiten des linken Sozialdemokraten Albrecht Müller und arbeiten mit dort veröffentlichten Materialien. Es ist schon beunruhigend, wenn wir ausgerechnet auf diesen am 30. September lesen mussten: »Es gibt einige in der Führung der Linkspartei, die zu einem Schmusekurs gegenüber Rot (SPD) und Grünen neigen. Und es gibt eben die anderen, die zwar ebenfalls den Wechsel von Schwarz-Rot zu Rot-Rot-Grün für anstrebenswert halten, aber eine zu frühe Ausrichtung und zu weite Konzessionen im Vorfeld der Wahl für nicht sinnvoll halten.« Wer sind die angeblich anderen, für die ihre Wahlausrichtung nur eine Frage des taktischen Geschicks sein soll und die angeblich weite Konzessionen nicht generell ablehnten, sondern nur im Vorfeld der Wahlen für nicht sinnvoll halten würden? Wir wüssten es gern im Vorfeld der Wahlen.
Wir sehen auch nicht ohne Besorgnis die stattgefundenen und geplanten Treffen von knapp hundert Abgeordneten von SPD, Grünen und unserer Partei. Ohne Umschweife gesagt: Um Gemeinsamkeiten festzustellen braucht man keine Zusammenkünfte in dieser Größe und um die Differenzen festzustellen ebensowenig. Solche Showveranstaltungen benötigt man, um öffentlich zu demonstrieren: Seht her, wir wollen miteinander gehen. Wir hatten so eine schöne und lockere Atmosphäre. Und die Medien berichteten so objektiv. »Kompromisse im Vorfeld einer Wahl wird es mit uns nicht geben«, so Dietmar Bartsch mit beinahe den gleichen Worten wie Albrecht Müller vor dem Parteientreffen. Es ist für uns absolut uninteressant, welche Kompromisse im Vorfeld nicht gemacht werden. Uns bewegt einzig, zu welchen Kompromissen Protagonisten wie Dietmar Bartsch, Jan Korte und andere bereit wären, wenn es ernst werden sollte. Uns interessiert nicht, ob Die Linke sich schon im Vorfeld anpasst oder erst nach den Wahlen. Uns interessiert einzig und allein, dass wir Friedenspartei bleiben.
Für uns ist es inakzeptabel, mit Kriegsparteien regieren zu wollen. Damit verteidigen wir zugleich unser Parteiprogramm. Und es ist fraglos: Die übergroße Mehrheit der Mitglieder unserer Partei wünscht in der Friedensfrage keinerlei Kompromisse. Und mehr als das. Wir können wohl davon ausgehen, dass auch sehr viele unserer Wählerinnen und Wähler nichts dergleichen wollen, im Gegenteil; viele wählen uns in erster Linie wegen der friedenspolitischen Grundsätze. Sie erwarten gerade in diesem Punkt von der Linken Verlässlichkeit. Die Vorstände und Fraktionen der Linken sollten die Debatte zu dieser Frage nicht den Medien überlassen, sondern sie in den Basisorganisationen, Kreis- und Bezirksverbänden und in den Bundesländern organisieren.
Nein zu Auslandseinsätzen
Auch, wenn es manche nicht mehr hören wollen: Wir werden die inhaltlichen Kerndifferenzen in der Linken zur Friedensfrage immer wieder benennen. Es ist dies die Haltung zur Einzelfallprüfung und zur Äquidistanz. Die Frage der Einzelfallprüfung betrifft letztlich ein konsequentes Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, welches die Prüfung des Einzelfalles obsolet macht. Und die Frage nach der Äquidistanz betrifft die Bewertung der NATO. Diese Vorfeldorganisation des US-amerikanischen Imperialismus als hauptverantwortlich für die zunehmenden, die Zivilisation bedrohenden Gefahren zu entlarven und anzuprangern schließt – ohne andere Akteure von jeglicher Verantwortung freizusprechen – doch die Äquidistanz aus, die den gleichen Abstand zu allen Akteuren verlangt. Wir haben uns zu diesen zwei Kernfragen vielfach geäußert und wollen heute darauf verzichten, umfangreicher hierzu zu argumentieren. (…)
In den innerparteilichen Debatten um unsere friedenspolitischen Grundsätze haben wir es primär mit folgenden Argumentationssträngen zu tun:
Wir sollten uns in dieser Hinsicht doch keine unnötigen Sorgen machen. Wer wolle denn die friedenspolitischen Grundsätze der Linken entsorgen? Die Basis doch auf keinen Fall. Auch die Vorstandspositionen seien hier eindeutig. In der Fraktion – nun ja – da gebe es einige, die die Dinge ändern wollten, doch das sei eine altbekannte Minderheit, die bisher erfolglos agiert habe. Diese Argumentation ist uns lange bekannt. Sie ist auch weitgehend plausibel. Nur lässt sie in ihrer schönen Naivität eines außer acht: die Möglichkeit eines innerparteilichen Putsches. Wir erinnern uns jedenfalls noch gut an den Putschparteitag im Berliner Tempodrom im Jahr 2003. Und auch Koalitionsverhandlungen können putschartige Momente enthalten, die die innerparteiliche Demokratie außer Kraft setzen. Schließlich habe man nicht über 50 Prozent der Wählerstimmen und müsse daher Kompromisse eingehen, heißt es in solchen Fällen.
Manche in der Partei wollen uns einreden, unsere friedenspolitischen Grundsätze seien auch dann in keiner Weise gefährdet, wenn wir Teil einer Bundesregierung würden. Das ist etwa so, als würde jemand Mitglied einer Diebesbande, in der man sich definitiv verpflichten muss, seinen Teil an Diebesgut einzubringen und der Betreffende würde dies damit erklären, er verfolge die edle Absicht, den Dieben das Stehlen abzugewöhnen. Natürlich ist eine Bundesregierung keine Diebesbande. Sie führt nur Krieg, und das ausgehend von Bündnisverpflichtungen in der NATO und EU. Und niemand – das kann nicht oft genug wiederholt werden – wird Mitglied der Bundesregierung ohne die Anerkennung dieser Bündnisverpflichtungen. Das ist eine Frage der Staatsräson. Wir lehnen in diesem Kontext auch die Bestrebungen ab, eine gemeinsame »Sicherheits- und Verteidigungspolitik« der EU voranzutreiben. Es darf auch keine diesbezüglichen Annäherungen unserer Partei an SPD und Grüne geben, die sich entschieden haben, Kriegsparteien zu sein. Es sei denn, SPD und Grüne machten sich unsere programmatischen Grundsätze in der Friedensfrage zu eigen. Damit ist aber nicht unbedingt zu rechnen.
In jüngster Zeit gibt es ein weiteres Argumentationsmuster. Das ist neu und zielt nicht mehr auf Verschleierung ab, sondern auf ein Tauschgeschäft. Wenn die SPD in sozialpolitischer Hinsicht einem Richtungswechsel zustimme, so müssten Zugeständnisse unsererseits in der Friedensfrage denkbar werden. Es gebe, so ist auch häufiger in Diskussionen zu vernehmen, keine Alternative zu Rot-Rot-Grün. »There is no alternative« – das hat als politische Kategorie eigentlich Frau Thatcher erfunden. Wo es keine Wahl zwischen Möglichkeiten mehr gibt, da erübrigt sich jede Debatte. Und das schon, bevor sie begonnen hat. Opposition wird so völlig entwertet und das in einer Situation, in der nichts so wichtig ist wie Widerstand. Widerstand gegen Krieg, gegen Rechtsentwicklung, soziale Verwerfungen, Bespitzelungen und all die anderen Merkmale des modernen Kapitalismus. Vielleicht kann ja die SPD mal umsatteln. Um aus ihrem Allzeittief herauszukommen, um sich sozial zu regenerieren, könnte sie nach ihren verheerenden Regierungsbeteiligungen von 1998 bis 2005 und – nach Unterbrechung – seit 2013 mal wieder in die Opposition gehen – mit uns gemeinsam. Das würde für die dann vermutlich Regierenden kein Vergnügen und erschlösse womöglich mehr Veränderungsmöglichkeiten als eine entsprechende Koalition. Einer Tatsache jedenfalls müssen wir uns bewusst sein: In den bevorstehenden Auseinandersetzungen wird kein Pseudoargument so wirksam sein wie das von der fehlenden Alternative. Darauf müssen wir uns einstellen, mit kluger Gegenbeweisführung.
Scheinheilige Argumente
Und ein letztes »Argument« soll hier aufgeführt werden, das die Friedensproblematik indirekt berührt. Vor allem Gregor Gysi führt es immer häufiger ins Feld. Wir müssten für Rot-Rot-Grün sein, um den Rechtstrend zurückzudrängen. Daher müsse die CDU, so Gregor Gysi am 16. September auf der Abschlusskundgebung zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses auf dem Alexanderplatz, zurück in die Opposition geschickt werden, damit sie wieder konservativ sein könne, um so den rechten Rand einzusäumen. Bei allem Respekt! Aber es kann doch wohl nicht unsere ernstgemeinte Absicht sein, mit dem Seehoferschen Rassismus und den Asylpaketen Merkelscher Prägung den der AfD-Granden zurückdrängen zu wollen. Die Deutsch-Nationalen waren auch keine wirksame antifaschistische Kraft. Und ansonsten würde die rot-rot-grüne Variante im Bund nur dann eine wirksame Kraft gegen die Rechten aller Couleur sein, wenn sie einen grundlegenden Politikwechsel sowohl friedenspolitisch als auch sozialpolitisch vollziehen würde, der der AfD das Wasser abgräbt. Solange das Kräfteverhältnis im Land das nicht zulässt, ist eine überzeugende Oppositionsarbeit bedeutend wirksamer als eine Regierungsteilnahme, die uns endgültig den Stempel aufdrückte, Teil des Establishments zu sein. Dann könnte die AfD komfortabel in der verlogenen Rolle verbleiben, die einzige Oppositionskraft zu sein, die etwas für die Leute täte. Wohin das führt, erleben wir bereits: zum Einzug in zehn Landesparlamente und in viele Kommunalparlamente und -verwaltungen.
Soweit zu einigen aktuellen Fragen der innerparteilichen Debatte in puncto Friedenskampf. Bleibt die Frage: Sind all die Äußerungen zu Rot-Rot-Grün im Bund, die wir gegenwärtig unentwegt zu hören bekommen, taktische Manöver, die keiner der so Agierenden selber ernst nimmt? Oder werden hier ernstgemeinte Absichten formuliert? Wir können das gegenwärtig nicht wissen, und es ist auch nicht so wichtig. In dem Moment, wo Protagonisten unserer Partei sich auch nur auf entsprechende taktische Spielchen einlassen, müssen sie zum einen die Bereitschaft bekunden, elementare Grundsätze aufzugeben, und zum anderen von einem Oppositionswahlkampf zu einem Regierungswahlkampf übergehen. Das kann irreversible Schäden hinterlassen. Egal, wer sich wann auf diese schon laufenden Spielchen einlässt: Wir werden uns daran nicht beteiligen. Wir werden aufklären und sensibilisieren und wir werden niemandem glauben, der uns einreden will, man könne in einer Bundesregierung Friedenspartei bleiben. (…)
Staatschef Erdogan strebt eine »türkisch-islamische Synthese« an. Die beabsichtigte Einführung einer Präsidialverfassung dürfte den ohnehin schon drastisch eingeschränkten bürgerlichen Freiheitsrechten endgültig den Garaus machen
Peter Schaber
Die derzeitigen Verhältnisse in der Türkei werden am kommenden Samstag auch Gegenstand der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt in Berlin sein. Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der kurdischen Oppositionspartei HDP und derzeit in Haft, wird sich in einem Grußwort an die Teilnehmer der Konferenz wenden.(jW)
»Weißt du, für mich war meine Kindheit und Jugend in Istanbul immer etwas ganz Normales«, sagt der Übersetzer und Exiltürke Levent, als wir in Berlin zusammensitzen und über den jüngsten Anschlag des »Islamischen Staates« in der Türkei, den auf den Istanbuler Nachtclub Reina am frühen Morgen des 1. Januar, diskutieren. »Wir haben uns ganz normal verliebt, Politik gemacht, getrunken, gelernt – wie es wohl bei dir in Wien auch nicht anders war.« Er zieht an seiner Zigarette und macht eine kurze Pause. »Aber wenn ich heute Nachrichten von dort sehe, kommt es mir so surreal vor. Wie ein anderes Land, wie Pakistan vielleicht.«
Dem Fotojournalisten Mehmet geht es ähnlich. Er ist vor einigen Wochen aus Istanbul über die Balkanroute nach Deutschland geflohen. »Schon während der Gezi-Proteste habe ich gesehen, dass ein Staat, der sein eigenes Volk ermordet, nicht meiner sein kann. Ich kann ein Leben, in dem wir uns nicht frei artikulieren können, nicht akzeptieren.« Danach sei der Druck, auch auf ihn persönlich wegen seiner beruflichen Tätigkeit immer größer geworden. »Um zu überleben, hatte ich keine andere Chance als wegzugehen. Wegzugehen aus diesem Land, in dem jede Art von Unrecht ganz offen und ohne Scham begangen wird.«
Wie Mehmet und Levent denken viele Türken. Es sind vor allem drei große Gruppen von Menschen, die in Recep Tayyip Erdogans »neuer Türkei« nicht erwünscht sind und kaum noch Möglichkeiten haben, normal weiterzuleben. Zum einen handelt es sich um jene, die sich noch 2013 der von Millionen Menschen getragenen Protestbewegung gegen die Regierungspartei AKP, die unter dem Namen Gezi-Aufstand bekannt wurde, angeschlossen hatten. Zum anderen stellte Ankara nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 Zehntausende unter Generalverdacht, verfolgte und verhaftete sie als Mittäter oder Sympathisanten des geplanten Staatsstreichs, den Erdogan früheren Verbündeten aus der Bewegung des exilierten Imams Fethullah Gülen und kemalistischen Militärs anlastet. Und dann sind da noch die Kurdinnen und Kurden aus dem Südosten der Türkei. Ihre Städte wurden belagert, Wohnviertel beschossen, bombardiert, dem Erdboden gleichgemacht. Orte wie Nusaybin, Sirnak oder Cizre bieten ein Bild, das das an Aleppo erinnert. Die AKP-Regierung vertreibt die kurdische Bevölkerung absichtlich. Sie will deren Zusammenhalt und politischen Willen, demokratische Autonomie zu erkämpfen, brechen.
Erdogans »neue Türkei«
Viele Bürger der Türkei erkennen nach knapp eineinhalb Jahrzehnten AKP-Herrschaft ihr Land kaum wieder. Man muss keine romantisierende Haltung zu den ebenfalls erzreaktionären, repressiven, von den USA abhängigen Regierungen vor der Machtübernahme der AKP im Jahr 2002 einnehmen. Aber kaum je seit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 gab es wohl einen so rasanten und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassenden Wandel wie in den vergangenen Jahren.
Die »neue Türkei« Erdogans verkörpert jenes politische Konzept, dem die faschistische Rechte im Land den Namen »türkisch-islamische Synthese« gegeben hat: Das Türkentum ist das Fundament der Nation. Es kann zugleich nicht gedacht werden ohne den Islam sunnitischer Auslegung. Der ideale Türke ist gemäß dieser Vorstellung vor allem Nationalist und Muslim. In einer solchen Nation haben Kommunisten, liberale Demokraten, Schwule und Lesben, Aleviten, selbstbewußte Frauen und eine lange Reihe anderer Personengruppen keinen Platz – sie gelten als Gefährdung des Türkentums.
»Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat«, das skandieren AKP-Anhänger auf Kundgebungen. Personifiziert wird diese Nation durch den autoritär herrschenden Führer Erdogan, außenpolitisch strebt sie die Wiedergewinnung zumindest jener Gebiete des früheren Osmanischen Reiches an, die im Misaki Milli, dem Nationalpakt von 1920, formuliert wurde: Teile des Nordiraks, Syriens, Griechenlands und Bulgariens. Die ökonomische Grundlage bildet ein harter Neoliberalismus, der vor allem jenen Kapitalgruppen Geld in die Kassen spült, die sich mit der politischen Herrschaft der AKP arrangieren oder diese stützen.
Dieses innen- wie außenpolitische Programm ist – selbst für eine Partei mit relativ hoher Zustimmungsrate wie die AKP – ambitioniert. Denn in der Türkei gibt es durchaus einflussreiche gesellschaftliche Kräfte, die seiner Verwirklichung mal mehr, mal weniger konsequent Widerstand leisten. Deren Ausschaltung betrieb Ankara spätestens seit dem Gezi-Aufstand von 2013, bei dem sich Millionen Menschen gegen die AKP-Regierung auflehnten, immer aggressiver. Als Mitte 2015 der Friedensprozess mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von der Regierung, die ihn schon seit längerem sabotiert hatte, endgültig beendet wurde, begann im Südosten der Türkei die Errichtung eines faschistischen Besatzungsregimes: Kurdische Städte wurden militärisch belagert, Wohnviertel mit Artillerie und Panzern angegriffen, Hunderte Zivilisten ermordet.
Befanden sich die kurdischen Gebiete ohnehin bereits im permanenten Ausnahmezustand, ergab sich im Juli 2016 für Erdogan die Chance das Regieren per Notstandsdekret auf das gesamte Land auszudehnen. Mit der Verhängung des Olaganüstü hal (Ausnahmezustand) erhielt die Verfolgung der gesamten linken wie bürgerlichen Opposition neue Dimensionen. Der Ausnahmezustand, der Anfang Januar erneut für drei Monate verlängert wurde, gewährt den Regierenden weitgehende Vollmachten: Grundrechte können eingeschränkt werden, der Präsident kann per Dekret am Parlament vorbei regieren. Die Versammlungsfreiheit ist ausgehebelt. Auch das Verbieten von Medienerzeugnissen oder Vereinen ist währenddessen leichter möglich.
Bereits bis Ende Oktober 2016 waren nach offiziellen Angaben 40.000 Menschen eingesperrt, 80.000 zumindest kurzfristig verhaftet und über 100.000 entlassen worden. Neuere Gesamtbilanzen gibt es nicht, aber inzwischen sind Tausende Menschen mehr von all dem betroffen. Alleine in der letzten Dezemberwoche wurden 1.604 Menschen wegen vermeintlicher Nähe zur PKK oder zur Gemeinde Fethullah Gülens (von der Regierung mit dem Kürzel FETÖ bezeichnet) eingesperrt.
Angriffe auf die Opposition
Die linke, der kurdischen Befreiungsbewegung verbundene Oppositionspartei HDP wurde von der Repression am härtesten getroffen. Nicht nur ihre beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag befinden sich in Haft, sondern derartig viele Mitglieder und Funktionäre, dass die Partei kaum noch ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen kann. »In den vergangenen zwölf Monaten waren es etwa 10.000 Menschen, davon sind mehr als 5.000 immer noch im Gefängnis. Das, was hier geschieht, ist schlimmer als ein Parteiverbot«, erklärte der HDP-Parlamentarier Ziya Pir im Dezember 2016 gegenüber junge Welt. »Würde nur die Partei verboten, könnte man eine neue gründen. Aber wenn diese Verhaftungswellen so weitergehen, werden wir irgendwann einfach keine Mitarbeiter mehr haben.« »Es ist eine sehr schlimme Zeit. Momentan versuchen wir zu überleben. Aber wir werden uns nicht ergeben.«
In zahlreichen Gemeinden in den kurdischen Gebieten wurde die demokratische gewählte Stadtverwaltung entmachtet, Zwangsverwalter aus Ankara wurden eingesetzt. »Jetzt handelt der Staat viel offener kolonialistisch als zuvor«, sagt ein Angestellter der Stadtverwaltung Diyarbakirs, der anonym bleiben möchte, gegenüber jW. »Sie nehmen kaum noch Rücksicht darauf, was die Leute denken. Nur ein paar AKP-nahen Kurden schanzen sie Aufträge zu, um sie bei der Stange zu halten.«
Zahlreiche Vereine, darunter Hilfsorganisationen wie der Rojava Dernek, der die durch den Bürgerkrieg in den kurdischen Regionen Vertriebenen unterstützte, wurden geschlossen. Insgesamt wurden allein im vergangenen November 370 Nichtregierungsorganisationen verboten – erneut wegen angeblicher Nähe zu PKK, FETÖ oder der ebenfalls verbotenen linken militanten Partei DHKP-C. Anfang Januar folgte dann ein Dekret, das weiteren 83 Vereinen die Arbeit untersagte, darunter kurdische Fußballverbände und Sprachinstitute.
Konzentrierten sich die Angriffe bislang auf die linke und die kurdische Opposition, so mehren sich Zeichen, dass auch die zweitgrößte Fraktion im türkischen Parlament, die kemalistische CHP früher oder später zum Ziel der Attacken werden könnte. Zwar hatte diese sich nach dem gescheiterten Putschversuch bei der AKP angebiedert, gleichwohl scheint sie Erdogan ein Dorn im Auge zu sein. Regierungsnahe Blätter suggerieren wahlweise, die CHP pflege Verbindungen zur PKK, zur DHKP-C oder zur Gülen-Bewegung. Verhaftet wurde etwa Fatih Gürsul, ein hochrangiger Berater des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kilicdaroglu. Das Ziel der AKP ist CHP und HDP zu marginalisieren, um gemeinsam mit der faschistischen MHP die Verfassungsänderung zur Etablierung der Präsidialdiktatur durchboxen zu können.
Massenverhaftungen
Zur Durchsetzung ihrer Machtambitionen geht die AKP durchaus strategisch vor und setzt Mechanismen in Bewegung, die eine langfristige Verankerung ihrer Ideologie in der Gesellschaft gewährleisten sollen. Die Bereiche Medien, Kunst und Kultur sowie der Bildungssektor waren in der Türkei lange Zeit Domänen der Linken. Es gab lange Zeit eine Tradition des kritischen Journalismus, eine Massenkultur des politischen Liedes, sozialistische und kurdische Gruppen unterhielten zahlreiche Kulturzentren, und namhafte Intellektuelle sympathisierten mit ihnen.
Weil Ankara die kommenden Generationen am Ideal des sunnitischen Türkentums ausrichten will, sollen diese abweichenden Strömungen beseitigt werden. So wurde etwa die Stammbesetzung der vor einem Millionenpublikum auftretenden linken Band »Grup Yorum« im November 2016 verhaftet, ihr Proberaum im Istanbuler Idil-Kulturzentrum zum wiederholten Mal verwüstet, ihre Instrumente von eingesetzten Beamten einer Spezialeinheit absichtlich zerstört.
Dutzende Kulturvereine, insbesondere im Südosten der Türkei, wurden wegen vermeintlicher Nähe zur PKK geschlossen (oder bei den Militäreinsätzen zerstört), Künstler und Intellektuelle wegen eines von ihnen unterzeichneten Friedensappells verhaftet oder entlassen. Zuletzt gaben die türkischen Behörden bekannt, Ermittlungen gegen 433 Filmemacher und Schauspieler aufgenommen zu haben. 673 Professoren verloren allein in einer Säuberungswelle Anfang Januar ihre Stellen.
Stark beeinträchtigt ist die Arbeit der Medien bzw. wurde komplett untersagt. Viele Journalisten befinden sich in Haft, andere sind ins Ausland geflohen. Fernsehsendern und Radios wurde ihre Lizenz entzogen, vor allem kurdische und linke Printmedien wurden verboten. Die Organisation »Reporter ohne Grenzen« zählt auf ihrer Internetseite aktuell 37 wegen ihrer beruflichen Tätigkeit eingesperrte Journalisten, bemerkt dazu jedoch: »In Dutzenden weiteren Fällen ist ein direkter Zusammenhang der Haft mit der journalistischen Tätigkeit wahrscheinlich, lässt sich aber derzeit nicht nachweisen, denn die türkische Justiz lässt die Betroffenen und ihre Anwälte oft für längere Zeit über die genauen Anschuldigungen im Unklaren.« Die Vereinigung Europäischer Journalisten (VEJ) kommt gar auf 150 Journalisten und Verlagsmitarbeiter in Haft und bilanziert: »Die Türkei wurde zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten.«¹ Der prominente linksliberale Publizist Can Dündar, derzeit selbst im Exil in Deutschland, fasst die Situation im Spiegel (1/2017) so zusammen: »Außer einer Handvoll Kämpfer für die Pressefreiheit existieren in der Türkei nur noch drei Kategorien von Journalisten: Solche, die ihren Job verloren haben. Die im Gefängnis. Und die an der Seite der Macht.«
In Medien und Kunst sollen nur noch der Staatsräson der »neuen Türkei« dienliche Inhalte vermittelt werden. Genauso wird versucht, schon die Jüngsten auf Linie zu bringen: Am ersten Schultag nach den Ferien im September 2016 mussten alle 18 Millionen Kinder und Jugendlichen an einer von der Regierung konzipierten Projektwoche² zur Niederschlagung des Putsches teilnehmen – samt Schweigeminuten und Gebeten für die gefallenen »Märtyrer«. Zehntausende Lehrer wurden in den vergangenen Monaten suspendiert, insbesondere, wenn sie Mitglieder der linken Bildungsgewerkschaft Egitim Sen waren. (Egitim Sen konnte allerdings durch großen öffentlichen Druck eine Wiedereinstellung von über 10.000 suspendierten Lehrern erwirken.)³ Hunderte Privatschulen, die dem Gülen-Netzwerk nahestanden, wurden geschlossen. In einer Istanbuler Schule wurde ein Schrein zum Gedenken an die Niederschlagung des Putsches errichtet, der die Inschrift trägt: »Was immer ihr auch macht, ihr könnt das Aufwachen des türkischen Volkes nicht verhindern. Was immer ihr auch macht, der Sieg gehört dem Islam.«⁴
Die AKP versucht, andere ideologische Traditionen in der vielschichtigen türkischen Gesellschaft so weit wie möglich zu zerstören. Geschaffen werden soll eine Massenbewegung, die inhaltlich auf Nationalismus und (sunnitischen) Islam festgelegt ist. Zusammen mit der faschistischen MHP rief Erdogan nach dem Putsch mehrfach zur »nationalen Mobilisierung« auf. Immer wieder verlangen die Behörden, jeder Bürger solle abweichende Stimmen – sei es in den »sozialen Medien«, sei es im realen Leben – denunzieren.
Bisweilen reichen in dieser Atmosphäre der Angst minimale Gesten des Unmuts: Ende Dezember wurde der Kantinenchef der Tageszeitung Cumhuriyet festgenommen, weil er gesagt haben soll, er würde »Erdogan keinen Tee servieren«, falls dieser in die Redaktion komme.⁵ Fälle wie dieser sind keine Seltenheit. Ein kritischer Tweet reicht, um in den Fokus des prügelnden Mobs – wie im Falle des Modedesigners Barbaros Sansal – zu geraten, oder festgenommen und mit Gerichtsverfahren überzogen zu werden – wie kürzlich die linke Aktivistin Ergin Cevik.
Wenn es ein Symbol der gegenwärtigen Phase der AKP-Herrschaft gibt, dann ist es der Knast. Zehntausende politische Gefangene bringen die Haftanstalten mittlerweile an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Deshalb sollen, so das Innenministerium, im kommenden Jahr 170 neue Gefängnisse gebaut werden.
In den Knästen herrschen Bedingungen wie in Zeiten der Militärjunta in den 1980er Jahre: Zahlreiche Berichte zeugen von physischer und psychischer Folter, Verweigerung von Trinkwasser, Nahrung und medizinischer Behandlung.
Mehrheit gegen Diktatur
Gleichwohl scheinen alle diese Maßnahmen nicht auszureichen, die Zustimmung zur AKP-Diktatur auf jene Hälfte der Gesellschaft auszudehnen, die ihr immer schon skeptisch gegenüberstand. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts AKAM vom November 2016 zeigt, dass die AKP mit 45,59 Prozent der Stimmen im Falle einer Wahl den nationalistischen Taumel nach dem Putschversuch nicht in Sympathien für die Regierungspartei transformieren konnte. Die stärkste Oppositionspartei CHP wäre auf 30,34 Prozent gekommen, die linke HDP hätte trotz aller Propaganda gegen sie immer noch 11,36 Prozent für sich verbuchen können. Wären zum Zeitpunkt der Umfrage Präsidentschaftswahlen gewesen, so hätten 36,5 Prozent der Befragten für Erdogan votiert, 36,9 Prozent dagegen nicht. 9,4 Prozent gaben an, es hänge davon ab, wer die anderen Kandidaten sind, 17,2 Prozent wären unentschlossen.⁶ Noch eindrucksvoller sind die Antworten auf die Frage, welche Institution als wie vertrauenswürdig erachtet werden: 61,7 Prozent misstrauen der Regierung, 97 Prozent der Justiz, 72,2 Prozent der Polizei.
Eine weitere Umfrage des Instituts Gezici vom Dezember 2016 weist zudem aus, dass eine Mehrheit der Bevölkerung immer noch die Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem ablehnt: 58 Prozent sprechen sich gegen das Hauptprojekt der AKP aus, sogar unter der eigenen Wählerschaft sind 20,5 Prozent dagegen.⁷
Noch problematischer könnte für die AKP werden, dass auch 62 Prozent der MHP-Basis nichts vom Präsidialsystem halten. Der Parteiführer der Faschisten, Devlet Bahceli, hatte erst Anfang Januar bekundet: »Wir werden ja sagen, wenn das Parlament über die Vorschläge zur Verfassungsänderung abstimmt (…). Und wir werden dieses ja beim Referendum wiederholen.« In der Nacht zum vergangenen Dienstag hatte das türkische Parlament offiziell beschlossen, über eine entsprechende Verfassungsänderung zu beraten. 338 von anwesenden 480 Abgeordneten sprachen sich dafür aus. Mindestens 330 Ja-Stimmen waren für die Eröffnung der Diskussion nötig, die AKP verfügt über 316 Sitze. In den nächsten Wochen soll über jeden der 18 Artikel der Reform einzeln beraten und abgestimmt werden. Die Unterstützung der MHP-Abgeordneten könnten den bestehenden Dissens zwischen Führung und Basis allerdings noch verschärfen. Bereits am 4. Januar trat der stellvertretende Vorsitzende der MHP, Atila Kaya, zurück und erklärte öffentlich, dass sein »Glaube in den Nationalismus« und sein »Verständnis des türkischen Nationalismus« ihn dazu zwingen, gegen die Parteilinie mit »Nein« zu stimmen. Kaya dürfte nicht der einzige bleiben.
Ankara ist zwar offenkundig (noch) in der Lage, mit Gewalt die eine Hälfte der Bevölkerung ruhigzuhalten, die AKP kann sie aber nicht für ihre Ideen gewinnen. Eine Niederlage aber bei den parlamentarischen Abstimmungen oder beim Referendum zum Präsidialsystem hätte für die AKP weitreichende Auswirkungen und könnte zum Ausgangspunkt einer neuen Bewegung für die Demokratisierung der Türkei werden.
Außerdem könnte auch an der Basis der Regierungspartei im Jahr 2017 durchaus Unmut aufkommen. Ein nicht geringer Teil der AKP-Anhänger ist nicht in erster Linie ideologisch motiviert, sondern will Stabilität, Geschäftsmöglichkeiten und die Versorgung durch das Klientelsystem der Partei. Der Einbruch im Tourismussektor und die sich ankündigenden krisenhaften Entwicklungen der Wirtschaft generell könnten bei diesen Wählern für Unmut sorgen.
Dazu kommt, dass viele Bürger der AKP die Schuld für die verheerende Sicherheitslage in der Türkei geben. Denn zum einen ließ die Partei Erdogans genau jene islamistischen Kräfte gedeihen, die nun auch in der Türkei Anschläge verüben. Zum anderen trägt sie die Verantwortung für die Beendigung des Friedensprozesses mit der kurdischen Befreiungsbewegung und damit auch für jene Guerillaaktionen, die seitdem mehreren tausend Polizisten und Soldaten das Leben kosteten.
Die AKP wird zwar versuchen, durch außenpolitische Abenteuer – in Syrien und möglicherweise auch im Irak – von der innenpolitischen Misere abzulenken. Derzeit allerdings sieht es trotz aller Bemühungen nicht danach aus, als würde das gelingen.
Ohne Alternativen zum Finanzmarktkapitalismus werden linke Regierungsbeteiligungen nicht helfen, die Rechtsentwicklung zu stoppen
Bernd Riexinger
Bernd Riexinger ist Kovorsitzende der Partei Die Linke. Bei der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt am 14.1. in Berlin wird er mit Aitak Barani, die sich für sozial Benachteiligte engagiert, Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke sowie Patrik Köbele, dem Vorsitzenden der DKP, über Probleme einer linken Regierungsbeteiligung in Deutschland diskutieren. Die Debatte steht unter dem Motto »Nach der Bundestagswahl 2017: NATO führt Krieg – die Linke regiert?« (jW)
Wir erleben eine gefährliche gesellschaftliche Situation. Die Wahl von Donald Trump ist eine politische Zäsur. In vielen europäischen Ländern, auch in Deutschland, erstarken rechtspopulistische und neofaschistische Parteien und Bewegungen. Islamistischer Terror und Rechtspopulismus verstärken sich gegenseitig und sorgen dafür, dass sich das politische Kräftefeld nach rechts verschiebt.
Für die Linke ist es in dieser Situation zentral, die vorherrschende Deutung der gegenwärtigen Krise als einen Kampf zwischen der Verteidigung der Globalisierung und der Demokratie (Merkel, Hollande) und der Wendung zu einem autoritären, rassistischen Staat (Trump, Le Pen, Petry) zurückzuweisen. Denn in fast allen Ländern nimmt die Konzentration von Reichtum und Eigentum in den Händen einer Klasse von Superreichen zu. Die »marktkonforme Demokratie«, wie Merkel es selbst nennt, und die jahrelangen »Reformen« zur Lohnsenkung, Rentenkürzung und Privatisierung haben den Nährboden für die Rechtspopulisten geschaffen. Ein »Weiter so« der unsozialen Politik im Interesse von Superreichen und Konzernen, wie es von Angela Merkel und weiten Teilen der europäischen Sozialdemokratie betrieben wird, ist brandgefährlich.
Aber auch Trump ist Teil des neoliberalen Herrschaftsblocks, wie auch große Teile der rechtspopulistischen Kräfte in Europa im Kern auf einen neoliberalen Wettbewerbsstaat setzen, der in Krisenzeiten durch nationalistische und rassistische Mobilisierung stabilisiert wird. Deutsche Konzerne, darunter Bayer, Siemens und die Deutsche Bank, sind sich nicht zu schade gewesen, Trump mit Millionen im Wahlkampf zu unterstützen. Wirtschaftliche Macht übersetzt sich immer unmittelbarer in politische Macht. Diese Tendenz zu einem »autoritären Kapitalismus« (so der Marburger Politikwissenschaftler Frank Deppe) in der Krise ist eine Bedrohung für alle, denen soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden am Herzen liegen. Das birgt aber auch das Potential einer gesellschaftlichen Mobilisierung.
Bollwerk gegen rechts
Vor diesem Hintergrund nimmt die Debatte um eine mögliche »rot-rot-grüne« Regierung nach der Bundestagswahl im September neue Fahrt auf. Von unterschiedlicher Seite, auch aus der Partei Die Linke, lautet das Argument dafür: Eine Mitte-links-Regierung könne eine Art Bollwerk gegen rechts bilden. Der Sozialphilosoph Oskar Negt hat zur Eröffnung des »Trialogs«, eines regelmäßigen Diskussionstreffens von Parlamentariern aus SPD, Grünen und Die Linke zur Beratung über ein mögliches »rot-rot-grünes« Projekt, in der Dezemberausgabe der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik Thesen formuliert, über die es sich lohnt, nachzudenken und zu streiten. Zu Recht stellt er dort klar, dass die »neoliberale Plünderung der sozialstaatlichen Errungenschaften« den Nährboden für die Rechten geschaffen hat. Dagegen setzt Negt sein Plädoyer für eine »Vereinigte Linke«, als deren Gemeinsamkeiten er u. a. Herrschaftskritik und den Kampf um Verteilungsgerechtigkeit anführt.
Der Versuch, eine »gemeinsame Sprache [der Linken] zu suchen, die verlorengegangen ist« sowie »Traditionslinien, die ein Gemeinsames ausdrücken«, ist wichtig. Er gleicht, wenn er ernst genommen wird, einer Mammutaufgabe, die nicht in wenigen Monaten und nicht am Verhandlungstisch zu bewältigen ist. In der gegenwärtigen Debatte wird manchmal vergessen, dass sich die neue Marktsozialdemokratie von den Traditionslinien der sozialistischen wie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung entfernt hat. Die Grünen lösten die Kritik kapitalistischer Herrschaft aus dem emanzipatorischen Erbe der Neuen Linken heraus und beteiligten sich an der neoliberalen Wendung von Forderungen der Umweltbewegung.
Negt sieht einen möglichen Gebrauchswert eines »rot-rot-grünen« Bündnisses darin, demokratische Lernprozesse und ein anderes gesellschaftliches Klima zu fördern und so gegen den Geist neoliberaler Alternativlosigkeit und den reaktionären Kulturkampf von rechts vorzugehen. Dies wäre ohne Zweifel dringend. Aber SPD und Grüne tragen in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um den Kampf gegen Terrorismus wenig dazu bei. So ist derzeit aus den Reihen beider Parteien über die mit Waffenexporten geführten Kriege, gewachsene Armut in vielen Weltregionen, die Zusammenarbeit westlicher Konzerne mit autoritären Regimen so wenig zu hören wie über eine wirksame Präventionspolitik gegen die Ursachen rechten wie islamistischen Terrors. Beide Parteien stimmen eher in den Ruf nach Verschärfungen des Asylrechts und Ausbau der Überwachung ein.
Leider gibt es in der BRD seit Jahrzehnten, nicht erst seit der rot-grünen Regierungskoalition mit dem Krieg gegen Jugoslawien und den Agenda-2010-Reformen, kein linkes Lager der Parteien mehr. In der großen Koalition hat die SPD CETA, die Erpressung Griechenlands und die verheerende Austeritätspolitik in Europa sowie die weitere Zerstörung des Asylrechts mitgetragen. Die Grünen verstehen sich immer mehr als Regierungsreserve der CDU. Wenn sich der Kurs des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann durchsetzt und die Grünen endgültig auf eine Politik zugunsten der Konzerne und Besserverdiener setzen, rückt eine »rot-rot-grüne« Regierung in weite Ferne.
Grundlegender Politikwechsel
Damit eine progressive gesellschaftliche Dynamik entstehen kann, braucht es eine glaubwürdige Perspektive für Veränderung. Grünen-Parteichef Cem Özdemir sagt, dass die Zeit, in der Regierungskoalitionen politische Reformprojekte gesellschaftlicher Lager repräsentieren, vorbei sei. Genau das aber fordern linke Befürworter von »Rot-Rot-Grün« zu Recht ein: ein Reformprojekt für einen grundlegenden Politikwechsel. Denn bisherige Mitte-links-Regierungen in Europa konnten kaum relevante Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der unteren Klassen erreichen – sie haben den Neoliberalismus gestützt oder sogar vorangetrieben. Gerade in der gegenwärtigen autoritären Krisendynamik wäre aber ein Scheitern der Linken verheerend. Dann könnte sich die AfD als einzige vermeintliche Alternative nicht nur für die Mittelschichten, sondern auch für die in prekären Verhältnissen Lebenden aufdrängen.
Eine mögliche »rot-rot-grüne Regierung« könnte nur dann als ein »Bollwerk gegen rechts« fungieren, wenn sie die Dynamik der »Abstiegsgesellschaft« (so der Titel eines 2016 erschienenen Buchs des Politikwissenschaftlers Oliver Nachtwey) stoppt, denn bis in die Mittelklassen hinein sind Millionen Menschen prekären Lebensverhältnissen, Erwerbslosigkeit, Niedriglöhnen, steigenden Mieten und der Gefahr des sozialen Abstiegs durch Altersarmut ausgesetzt. Mit der SPD könnte es zwar nach derzeitiger Lage der Dinge für Die Linke ein paar Überschneidungen geben: Die Zurückdrängung von Befristungen, die Erhöhung des Mindestlohns, höhere Beiträge der Unternehmer zur Gesundheitsversicherung, das Recht auf vorübergehende Teilzeit (mit einem Rückkehrrecht zur vorherigen Arbeitszeit).
Aber die von SPD und Grünen bisher ins Spiel gebrachten Kurskorrekturen reichen nicht aus, um dem Rechtspopulismus seinen sozialen Nährboden zu entziehen. Dazu braucht es einen grundlegenden sozial- und wirtschaftspolitischen Richtungswechsel. Es müssen die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass die Löhne und Renten deutlich steigen. Die Konzernprofite müssen zur Finanzierung öffentlicher Investitionen abgeschöpft werden. Angesichts von wirtschaftlicher Stagnation und steigender Produktivität (Stichwort Digitalisierung) wird perspektivisch eine Überwindung der Massenerwerbslosigkeit nur durch eine gerechte Verteilung der Arbeit, die Schritte zur Arbeitszeitverkürzung einschließt, möglich.
Derzeit ist weder mit der Sozialdemokratie noch ohne sie ein grundlegender Politikwechsel möglich. Aber die tiefe, europaweite Krise der Sozialdemokratie zwingt auch die SPD – früher oder später – zu einer Richtungsentscheidung: Geht sie den Weg von Jeremy Corbyn oder den von François Hollande und Matteo Renzi? Ein »Weiter so« im Rahmen des neoliberalen Kapitalismus könnte ihren eigenen Untergang besiegeln. Die Partei Die Linke wird nicht darauf warten. Wir werden weiter Druck machen, um SPD und Grüne für einen Bruch mit der neoliberalen Politik und zugunsten gemeinsamer Anstrengungen für soziale Gerechtigkeit, die Verteidigung von Grundrechten und Demokratie, Frieden und die Beendigung von Kriegseinsätzen zu gewinnen.
Bündnis mit der Zivilgesellschaft
Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen vielen Anhängern von SPD, Grünen und die Die Linke für eine höhere Besteuerung der Reichen, für armutsfeste Renten, für gute anstelle von prekärer Arbeit. Das gilt es zu nutzen, um für diese Ziele und gegen Rassismus, Nationalismus und reaktionären Kulturkampf im Vorfeld der Bundestagswahl das Bündnis mit allen progressiven Kräften in der Gesellschaft und in den anderen Parteien zu suchen. Größere Verschiebungen in der Ausrichtung von Parteien sind nur möglich, wenn sich im Feld der Zivilgesellschaft etwas bewegt. Neue Streikbewegungen, etwa in den Krankenhäusern, Proteste gegen steigende Mieten und Verdrängung, Großdemonstrationen gegen TTIP und die Hunderttausenden, die sich für Solidarität im Alltag in Erwerbsloseninitiativen oder in der Unterstützung von Geflüchteten engagieren, können der Ausgangspunkt für einen gesellschaftlichen Aufbruch sein.
Bis dahin ist noch ein ordentliches Stück Weg zurückzulegen. Ein solches »Lager der Solidarität« müsste nicht nur die Basis der Gewerkschaften und die vielen in antifaschistischen und antirassistischen Initiativen, Sozial- und Umweltverbänden Engagierten umfassen, sondern auch versuchen, unorganisierte Erwerbslose und prekär Beschäftigte zu mobilisieren. Die große Herausforderung liegt darin, den »passiven Konsens« (Gramsci), also die Hinnahme der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Resignation zu überwinden. Das ist nicht leicht. Die Partei Die Linke setzt darauf, die unterschiedlichen Gruppen der Lohnabhängigen zu unterstützen und Angebote zur gemeinsamen Organisierung zu machen, u. a. mit einer Kampagne gegen steigende Mieten und für mehr Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.
Kampf um die Hegemonie
Die Diskussion, ob und unter welchen Bedingungen Die Linke regieren sollte, wird in der Partei seit Jahren kontrovers geführt. Eine abstrakte Debatte nach dem Motto »Regieren ja oder nein« ist da wenig sinnvoll. Die fundamentale Ablehnung von Regierungsbeteiligungen kann in die Sackgasse eines Radikalismus der Worte und Programme führen. Ziel linker Regierungsbeteiligungen muss es sein, Reformen durchzusetzen, die die Bedingungen für politische Organisierung und die Bildung der Menschen verbessern, die Machtpositionen der Kapitaleigentümer in der Gesellschaft und in den Staatsapparaten hingegen schwächen. Beispiele für solche Reformen wären die grundlegende Umverteilung des Reichtums und eine Arbeitszeitverkürzung, die Stärkung öffentlichen und genossenschaftlichen Eigentums, Schritte zur Demokratisierung der Wirtschaft, des Bildungssystems und der Medien. Historisch konnten Ziele der Arbeiterbewegung wie der Achtstundentag immer wieder durch außerparlamentarischen Kampf errungen werden. Unter den Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus ist das bisher kaum gelungen.
Selbstorganisierung unterstützen
Michael Brie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat vorgeschlagen, offensiv für eine linke Regierung einzutreten, die ein Reformprogramm verfolgt, das mit dem Neoliberalismus bricht und Einstiege in eine sozialistische Transformation ermöglicht. Das ist mittelfristig eine sinnvolle Perspektive. Gerade angesichts der multiplen Krise des neoliberalen Kapitalismus, der tiefen Krise der Sozialdemokratie und des Aufstiegs reaktionärer Kräfte sollte Die Linke sich nicht als kleine Partei verstehen, die untergeordneter Teil eines »rot-rot-grünen« Lagers ist, sondern die Hegemoniefrage mit einer sozialistischen Perspektive stellen.
Aber die dafür notwendigen Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse entstehen nicht im Parlament, sondern aus den Produktions- und Eigentumsverhältnissen und den gesellschaftlichen Kämpfen in der »Zivilgesellschaft« (im Sinne Antonio Gramscis als Ort der Kämpfe um die Hegemonie). Die wirtschaftliche, zivilgesellschaftliche und staatliche Organisierung der Interessen des transnationalen Finanz- und Industriekapitals zu durchbrechen, das erfordert mehr als eine linke Regierung. Kurt Tucholskys Mahnung mit Blick auf die Sozialdemokraten bleibt auch für Die Linke aktuell: »Sie dachten, sie wären an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung«.
Eine sozialistische Partei muss sich durch ihre Funktionsweise von bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien unterscheiden. Letztere werden stark durch die Spitze der Parlamentsfraktion dominiert. Der »Gebrauchswert« einer sozialistischen »verbindenden Partei« besteht nicht in erster Linie darin, ein Wahlverein mit charismatischen Führungspersönlichkeiten zu sein, sondern darin, die Selbstorganisierung der Menschen in den Kämpfen um bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse zu unterstützen, das Sichtbarmachen von gemeinsamen Interessen der verschiedenen Teile der Lohnabhängigen zu fördern und deren Vertretung im Parlament mit dem Aufbau gesellschaftlicher Macht zu verbinden.
Es macht einen großen Unterschied, ob es um Regierungsbeteiligungen auf Bundes- oder Landesebene geht. Mit letzteren hat Die Linke nicht nur positive Erfahrungen gemacht, die politischen Gestaltungsmöglichkeiten sind angesichts überschuldeter Kommunen und der Schuldenbremse oft sehr begrenzt. Ein grundlegender Politikwechsel ist unter diesen Bedingungen in Koalitionsregierungen kaum zu verwirklichen. Es existieren aber politische Konstellationen, in denen es eine klare Wechselstimmung gibt und die Mitglieder und Wähler von Die Linke eine Regierungsbeteiligung deutlich befürworten. Dann ist es umso wichtiger, sich auf klar umrissene Reformprojekte zu konzentrieren, die geeignet sind, konkret spürbare Verbesserungen der Lebensverhältnisse durchzusetzen und soziale Bewegungen zu stärken – wie etwa in der Mietenpolitik. Deshalb ist es so wichtig, dass die Partei in Berlin mit Andrej Holm einen profilierten Kritiker neoliberaler Stadtpolitik zum Staatssekretär macht – und dass sie trotz einer Hetzkampagne unter anderem aus der Immobilienwirtschaft, die weiter mit am Senatsstisch sitzt, standhaft bleibt und gemeinsam mit stadtpolitischen Initiativen auf bezahlbare Mieten drängt. Unter widrigen Bedingungen ist es entscheidend, dass die Partei ihre politische Eigenständigkeit gegenüber der Regierung erhält und Druck macht, um Reformprojekte auch gegen Kapitalinteressen durchzusetzen.
Ohne eine radikale Demokratisierung des Staates (auch auf europäischer Ebene und inklusive der Zentralbanken, der Bildungseinrichtungen, öffentlichen Medien bis hin zu Polizei und Militär) sowie der Wirtschaft lässt sich linke Politik nicht dauerhaft verwirklichen. Eine linke Reformregierung auf Bundesebene hätte mit massivem Widerstand des neoliberalen Blocks zu kämpfen, von den Besitzern der meisten Medien bis hin zum Personal der Staatsapparate. Damit sie eine Chance haben kann, braucht es mobilisierungsfähige außerparlamentarischen Bewegungen und die Gewerkschaften. Und ohne Konsens der beteiligten Parteien in zentralen Fragen eines grundlegenden Politikwechsels wird es auch nicht gehen.
Positive Ziele
Dabei ist klar: Unter Mitwirkung von Die Linke darf es niemals ein Ja zu Kriegseinsätzen, zu Privatisierungen oder zu Sozialkürzungen geben. Daran darf sich nichts ändern. Aber das alleine reicht nicht aus, um die Menschen für linke Alternativen zu gewinnen. Wir sollten die positiven Ziele in den Vordergrund stellen, die wir in einer Regierung mit linker Beteiligung verwirklichen wollen:
– die Erhöhung des Mindestlohns und eine armutsfeste, den Lebensstandard sichernde Rente durch ein höheres Rentenniveau und die Einführung einer Mindestrente von 1.050 Euro
– Abschaffung von Beschäftigungsbefristungen und Leiharbeit, Überführung von Minijobs in sozial abgesicherte existenzsichernde Teilzeit und Maßnahmen gegen Tarifflucht durch Werkverträge und Outsourcing
– die Wiederherstellung einer Existenz und Würde sichernden Arbeitslosenversicherung und die Einführung einer Mindestsicherung ohne Sanktionen statt Hartz IV
– einen Mietenstopp und ein Wohnungsbauprogramm für bezahlbarer Quartiere in kommunaler und genossenschaftlicher Hand
– gute Gesundheitsversorgung und Pflege für alle Menschen: An die Stelle des herrschenden Zweiklassensystems muss ein solidarisches und am Bedarf der Menschen orientiertes Versicherungssystem treten.
– die radikale Umverteilung des Reichtums durch eine höhere Besteuerung von Superreichen, großen Erbschaften, Spitzeneinkommen und Unternehmensprofiten ist die Grundlage dafür, dass die drängenden gesellschaftlichen Probleme sozial gerecht und ökologisch zukunftsfähig angegangen werden können.
– die Bekämpfung von Fluchtursachen statt von Flüchtlingen – durch ein Verbot von Waffenexporten und eine konsequente Friedenspolitik. Statt Freihandelsabkommen wie TTIP braucht es Schritte zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. Der Türkei-Deal und die Verschärfungen des Asylrechts müssen zurückgenommen werden.
Innerhalb der EU sind die Handlungsspielräume für linksreformerische Regierungen durch die Krise und die in den Institutionen der EU und im Lissabon-Vertrag verankerte neoliberale Politik geringer geworden. Gerade die hochverschuldeten Länder Südeuropas befinden sich im Würgegriff der Finanzmärkte und der Institutionen der EU. Eine linke Regierung im wirtschaftlich und politisch dominanten Deutschland hätte nicht nur größere Verteilungsspielräume, sondern könnte auch durch eine andere Sozial- und Wirtschaftspolitik die ökonomischen und politischen Verhältnisse in Europa deutlich verändern. Dazu müsste sie bereit sein, die Dominanz der Exportwirtschaft zu durchbrechen, die Initiative für ein europaweites öffentliches Investitionsprogramm zu ergreifen und Spielräume für eine soziale Politik im Zweifel auch durch gezielte Verstöße gegen den Fiskalpakt zu schaffen.
Konkrete Utopie
Ohne ein aussagekräftiges Projekt, in dem sich die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse verbinden, kann keine mobilisierende Dynamik zustande kommen. In dieser Situation kommt der Partei Die Linke die Verantwortung zu, ihr Profil als eigenständige Kraft gegen Neoliberalismus wie Rechtspopulismus zu schärfen. Oskar Negt spitzt in seinem Beitrag zur »rot-rot-grünen« Beratung zu: »Nur noch Utopien sind realistisch«. Um die autoritäre Entwicklung in der Krise hin zur Zerstörung der Demokratie zu stoppen, müsse die gesellschaftliche Linke den Rechten und der »drückenden Realität des Kapitalismus« eine am »Erfahrungshorizont des Alltagslebens der Menschen« ansetzende Utopie entgegenstellen. Es sei »höchste Zeit«, den gegenwärtigen »herrschenden Eliten« die »Macht zu nehmen, über die Resultate der kollektiven Arbeit der Menschen privat zu verfügen«. Auch darin ist Negt zuzustimmen. Die Linke geht mit einer deutlichen Kapitalismuskritik und Vorschlägen für ein Transformationsprojekt zur Überwindung des Finanzmarktkapitalismus in den Bundestagswahlkampf. Für eine Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt – ohne Armut und Ausbeutung, ohne Kriege und den sozial und ökologisch verheerenden kapitalistischen Wachstumszwang. Für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft, in der die Menschen ohne Angst verschieden sein können.
»Black Lives Matter« ist eine Reaktion auf die Polizeigewalt, in deren Folge zahlreiche Afroamerikaner in den vergangenen Jahren ums Leben kamen. Unter dem neuen US-Präsidenten Trump dürften schwierige Zeiten auf die Bewegung zukommen
Jürgen Heiser
Marylin Zuniga war Lehrerin in einer Schule in Orange, New Jersy. Als bekannt wurde, dass sie die Schüler ihrer Klasse aufgefordert hatte, dem lebensgefährlich erkrankten Mumia Abu- Jamal aufmunternde Postkarten in dessen Gefängniszelle zu senden, wurde sie geschasst. Heute unterrichtet sie an der Roses in Concrete Community School in Oakland, Kalifornien. Auf der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt am 14.1. in Berlin wird sie über den »Kampf gegen Rassismus unter neuen Bedingungen in den USA« berichten. Jürgen Heiser beschäftigt sich an dieser Stelle mit der in den USA momentan größten antirassistischen Bewegung. Er fasst die Geschichte des Netzwerks »Black Lives Matter« zusammen. (jW)
In der afroamerikanischen Geschichte gab es viele Bewegungen gegen Rassismus und staatliche Gewalt, aber keine war je unter einer US-Administration entstanden, die – zumal von einem schwarzen Präsidenten geleitet – mit einem so hohen Anteil afroamerikanischer Frauen und Männer besetzt war. Barack Obama hatte als erster schwarzer Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei mit seiner »Yes We Can«-Wahlkampagne in der schwarzen Bevölkerung viele Hoffnungen auf ein Ende, zumindest aber auf eine spürbare Eindämmung des Rassismus und eine Verbesserung der sozialen Lage in den Ghettos geweckt. Doch sie wurden während seiner beiden Amtszeiten enttäuscht. Was blieb, war lediglich die Tatsache, dass mit ihm 2008 zum ersten Mal in der damals 232jährigen Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika ein Schwarzer das höchste Staatsamt im Weißen Haus einnahm. Die Gründung der Basisbewegung »Black Lives Matter« (BLM) im Juli 2013 ist ein Ausdruck dieser enttäuschten Hoffnungen. Am Ende der Ära Obama steht die Bewegung nun vor einer neuen Herausforderung. Sie wird sich ab dem 20. Januar mit Obamas designiertem Nachfolger, dem Republikaner und Milliardär Donald Trump, auseinandersetzen müssen.
Der Fall Trayvon Martin
Als indirekten Auslöser für die spätere Gründung ihrer Bewegung nennen die Initiatorinnen von »Black Lives Matter« das Datum des 26. Februar 2012. Am Abend dieses Tages erschoss der hauptberufliche Versicherungsvertreter George Zimmerman in der Kleinstadt Sanford in Florida einen schwarzen Teenager. Zimmerman, Sohn eines weißen Richters und Exmilitärs, der einmal davon träumte, Soldat der US-Marines zu werden, war von den Einwohnern der geschlossenen Wohnanlage »The Retreat at Twin Lakes«, in der er selbst lebte, zum Leiter einer gemeinsamen Bürgerwehr gewählt worden. Die nach dem Wohnpark benannte Wächtertruppe »Twin Lakes Neighborhood Watch« agierte unter Aufsicht der örtlichen Polizei. Sie schützte die Habe der Hausbesitzer der Anlage, deren Einwohnerschaft sich seit der Finanzkrise von 2007 und den damit verbundenen Zwangsvollstreckungen und dem Wertverlust der Immobilien zu etwa 50 Prozent aus Weißen, zu 30 Prozent aus Latinos und zu 20 Prozent aus Schwarzen zusammensetzte. Der 17jährige Afroamerikaner Trayvon Martin hielt sich mit seinem Vater zu Besuch bei einer Bewohnerin auf und war abends losgezogen, um an einer nahegelegenen Tankstelle Süßigkeiten und Eistee zu kaufen. Auf dem Rückweg zur Wohnanlage wurde er von Zimmerman gesehen, der mit seinem Privatwagen auf Streife war.
Zu diesem Zeitpunkt ging in der Notrufzentrale der örtlichen Polizei ein Anruf ein. Er kam von Zimmerman, der dem diensthabenden Officer aufgeregt von »vielen Einbrüchen« in seiner Nachbarschaft »in der letzten Zeit« berichtete. Nun laufe dort gerade ein »sehr verdächtiger Typ« herum, der bestimmt »nichts Gutes im Schilde« führe oder »unter Drogen« stehe. Diesen Verdacht hatte der Jugendliche bei Zimmerman erregt, weil er schwarz war und einen Kapuzenpulli trug. Nach der Ermahnung des Polizisten, nichts selbst zu unternehmen und auf das Eintreffen der alarmierten Streifenbeamten zu warten, beendete Zimmerman mit der Bemerkung, dass »diese Arschlöcher« immer davonkämen, das Telefonat.
Den Rat des Officers in den Wind schlagend, nahm Zimmerman die Verfolgung des Teenagers auf, der aus Angst flüchtete. Beim Versuch, den Jungen festzuhalten, kam es zum Gerangel, bei dem er dem vermeintlichen Einbrecher mit seiner großkalibrigen Waffe in den Brustkorb schoss. Die Polizei schickte Zimmerman nach kurzer Vernehmung nach Hause. Sie begnügte sich mit dessen Schutzbehauptung, »in Notwehr gehandelt« zu haben.
Komplizenschaft der Justiz
In Sanford strömten daraufhin empörte schwarze Bürger auf die Straße. In vielen Schulen und Colleges Floridas verließen Schülerinnen und Schüler geschlossen den Unterricht. »Keine Gerechtigkeit, kein Friede« skandierten Tausende auf spontanen Demonstrationen in Los Angeles, San Francisco, Oakland, Chicago, Washington (D. C.), Philadelphia und in New Yorks Schwarzenviertel Harlem. Die Polizeiführung des Ortes geriet in Misskredit, als die Medien berichteten, Zimmerman sei für seinen Job in speziell dafür eingerichteten Polizeikursen trainiert worden. Die »Occupy Wall Street«-Bewegung rief zur Unterstützung des »Million Hoodie March« auf, der drei Wochen nach Martins Ermordung in New York City stattfand. Der Kapuzenpulli (»Hoodie«), der den jungen Afroamerikaner und Highschool-Schüler Trayvon als verdächtig und folglich vogelfrei erscheinen ließ, wurde zum Symbol des Protests. Die Demonstranten skandierten »Ich bin Trayvon Martin« und »Verhaftet den Mörder«.
Im April 2012 klagte die Justiz Zimmerman jedoch nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags an. Erst weit mehr als ein Jahr später, Ende Juni 2013, begann das Gerichtsverfahren. Nach wenigen Tagen der Beweisaufnahme sprachen die Geschworenen Zimmerman am 13. Juli frei und folgten damit dem Plädoyer des Staatsanwalts. Der Ankläger war Zimmermans bester Verteidiger und machte für ihn ein im US-Bundesstaat Florida 2005 verabschiedetes Gesetz geltend, das unter der Bezeichnung »Stand Your Ground« (»Verteidigt euren Grund und Boden«) bekannt ist. Es besagt, dass kein Bürger »zurückzuweichen« müsse, sondern »das Recht« habe, »nicht von der Stelle zu weichen und Gewalt mit Gewalt zu begegnen, einschließlich tödlicher Gewalt«. Floridas Recht auf den Todesschuss zur Verteidigung von Privateigentum wurde als Pilotgesetz später auf Drängen der notorischen Waffenlobbyisten der »National Rifle Association« (NRA) von 29 weiteren US-Bundesstaaten übernommen.
Als Reaktion auf die sich mit dem Freispruch brutal offenbarende Geringschätzung gegenüber dem Leben eines jungen Schwarzen stellte die Gewerkschafterin Alicia Garza noch am Tag des Freispruchs einen Kommentar ins Internet, in dem sie ihre schwarzen Landsleute mahnte, nicht zu vergessen, dass auch »schwarze Leben zählen«. Die Künstlerin Patrisse Cullors sorgte für tausendfache Verbreitung, indem sie den Link zu Garzas Aufruf unter dem Hashtag #BlackLivesMatter über Twitter in alle Welt schickte. Beide Initiatorinnen brachten bereits Erfahrungen aus sozialen und politischen Organisationen mit: Garza als Kampagnenleiterin der »National Domestic Workers Alliance«, eines Netzwerks, das sich für Gewerkschafts- und Tarifrechte für Kinderfrauen, Haushälterinnen, Pflegekräfte und andere Hausangestellte einsetzt. Und Cullors als Vorstandsmitglied des Bündnisses »Coalition to End Sheriff Violence in L. A. Jails«, das öffentlichen Widerstand gegen gewaltsame Übergriffe in Gewahrsamszellen von Polizeiwachen in Los Angeles organisierte. Die Dritte im Bunde der Gründerinnen der neuen Bewegung war Opal Tometi, eine erfahrene Aktivistin für Immigrantenrechte. Damit war am 13. Juli 2013 im Grunde eine neue schwarze Bürgerrechtsbewegung aus der Taufe gehoben. Sie zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sich in ihr die von rassistischer Gewalt betroffene junge Generation zu Wort meldete und klarmachte, nun nicht mehr zurückzuweichen.
Obamas beredtes Schweigen
Das rasche Anwachsen der Massenbewegung ging nicht spurlos an Washington vorbei. Bereits Ende März 2012 gab Präsident Obama dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit nach und ergriff bei einem Pressetermin das Wort. Nachdem am Vortag, dem 23. März, Tausende in Florida zur Unterstützung der Eltern Trayvons, Sybrina Fulton und Tracy Martin, auf die Straße gegangen waren, erklärte Obama laut New York Times, er spreche als afroamerikanischer Vater zweier Kinder. »Wenn ich an diesen Jungen denke, denke ich an meine eigenen Kinder.« Der Tod Martins sei »eine Tragödie«. Seine »wichtigste Botschaft« richte er deshalb an Trayvons Eltern. »Wenn ich einen Sohn hätte, dann sähe er wie Trayvon aus«, sagte Obama und fügte nach kurzer Pause hinzu, Trayvons Eltern würden nun berechtigterweise erwarten, dass dieser Fall »mit dem Ernst behandelt wird, den er verdient, um zu erfahren, was wirklich passierte«.
Obama vermied indes jedes Wort zu den heiklen Punkten des Falles. Er schwieg zu den Forderungen nach Zimmermans Verhaftung und der Abschaffung des problematischen »Stand-Your-Ground«-Gesetzes sowie nach Entlassung von Verantwortlichen der Polizeiführung. Er unterließ es auch, Zimmermans Todesschuss mit der rassistischen Gewalt in Verbindung zu bringen, die jährlich unter Schwarzen zahlreiche Opfer fordert und von einer militarisierten Polizei verübt wird, deren weiße Beamte sich wie eine Besatzungsarmee in den Armenghettos aufführen.
Im Frühjahr 2013 fasste das afroamerikanische »Malcolm X Grassroots Movement« (MXGM) in einer Analyse selbst erhobener statistischer Materialien die Fakten des Jahres 2012 zusammen und kam auf 313 Opfer rassistischer Polizeigewalt unter schwarzen US-Bürgern. Diese »außergesetzlichen Tötungen« werden laut MXGM als Handlungen von Polizeibeamten, aber auch von zivilen Bürgerwehren definiert, nach denen jeglicher »faire Prozess« ausbleibt. Ausschlaggebend sei dabei allein, dass eine schwarze Person getötet werde, weil der Täter »entschieden hat, dass sie kein menschliches Wesen ist, sondern ein Verbrecher, den man exekutieren kann, ohne dabei eine Strafverfolgung zu befürchten«.
Da von offizieller Seite in den USA keine verlässliche Statistik über Tötungsdelikte von Polizeibeamten geführt wird, ist man auf Daten wie die von MXGM oder der britischen Zeitung The Guardian angewiesen. Jahr für Jahr dokumentiert das Blatt akribisch alle entsprechenden Ereignisse in den einzelnen US-Bundesstaaten. Für das Jahr 2016 wurden 1.058 nachgewiesene Todesopfer gezählt, von denen 244 Afroamerikaner waren. In der Mehrzahl starben diese Menschen durch Schusswaffengebrauch der Beamten.
Weltweite Ausstrahlung
Im Gegensatz zu 2012 wird der rassistisch motivierten Polizeigewalt jedoch seit vier Jahren nicht mehr nur seitens der lokal betroffenen schwarzen Bevölkerung, sondern auch gesamtgesellschaftlich entgegengetreten. Berichte über Widerstandsaktionen finden in Form von Textnachrichten und Videoaufnahmen in kurzer Zeit im Internet Verbreitung. Einbezogen sind nicht nur die neue, sondern auch die traditionelle Bürgerrechtsbewegung, Gewerkschaften sowie Basis- und Stadtteilorganisationen. Das führt wiederum zu einer veränderten Darstellung in den Medien. Sie können nicht länger den Eindruck vermitteln, es handele sich um isolierte Ereignisse, um »Fehler« oder »Überreaktionen« der Polizei. Die Tatsache, dass es sich vielmehr um einen brutalen Ausdruck eines institutionellen Rassismus handelt, an dem auch die Präsidentschaft eines Afroamerikaners nichts ändern konnte, gehört heute in den USA zumindest in der schwarzen Bevölkerung und der multiethnischen Bürger- und Menschenrechtsbewegung zum Alltagsbewusstsein.
Das ist der größte Erfolg der sich seit 2013 kontinuierlich im ganzen Land ausbreitenden »Black Lives Matter«-Bewegung, die sich damit als eine von der jungen Generation getragene neue Bürgerrechtsbewegung in den USA verankert hat und sich mittlerweile zahlreicher Ableger von Nord- und Lateinamerika über Afrika bis nach Australien und Europa erfreut. In Rio de Janeiro, São Paulo, Kapstadt, Braamfontain, Toronto, Sydney, Paris, London und anderswo schließen sich BLM-Gruppen zusammen, für die nicht selten der radikale afroamerikanische Menschenrechtskämpfer und Panafrikanist Malcolm X Pate steht.
Seit Gründung von BLM gab es etliche weitere Polizeimorde an jungen afroamerikanischen Männern. Stellvertretend sei hier die Erschießung des 18jährigen Teenagers Michael Brown in Ferguson (Missouri) am 9. August 2014 genannt. Der Tod des unbewaffneten Jungen führte zur ersten großen Mobilisierung durch BLM-Gruppen in weiten Landesteilen der USA.
Die BLM-Gründerinnen und der hohe Anteil aktiver Frauen in dieser Bewegung stehen dafür, dass sich nach und nach auch ein öffentliches Bewusstsein darüber bildet, dass 20 Prozent der von Polizisten getöteten unbewaffneten Schwarzen Frauen oder Mädchen sind. Auf den Demonstrationen werden deshalb Namen wie der von der in Detroit erschossenen siebenjährigen Aiyana Stanley-Jones, der in Texas tödlich getroffenen 45jährigen Yvette Smith und vieler anderer laut gerufen, um aufzuzeigen, dass schwarze Frauen und Mädchen ebenso wie schwarze Männer und Jungen vom »Racial Profiling« der US-Polizei und -Justiz betroffen sind.
Exekutive mauert
Der wesentliche Erfolg der Vernetzung landesweit entstandener BLM-Gruppen und ihrer Mobilisierungskraft war, dass die öffentliche Aufmerksamkeit zum Thema Polizeigewalt im allgemeinen und zu ihren rassistischen Motiven im besonderen wuchs. Durch den Druck der Basis sahen sich das Weiße Haus und das Justizministerium gezwungen, gegen den Korpsgeist der Strafverfolgungsbehörden vorzugehen und nicht nur Ermittlungen gegen einzelne Beamte einzuleiten, sondern die Arbeit ganzer Police Departments wie der von Ferguson (Missouri) und Philadelphia (Pennsylvania) unter die Lupe zu nehmen. In bescheidenem Umfang wurden in den amtlichen Analysen Reformen vorgeschlagen, von deren Umsetzung sich die Obama-Regierung eine Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Bevölkerung und der Polizei versprach.
Doch nicht nur die Polizei stellt sich den Veränderungen des Status quo entgegen. Die Justiz sieht sich allemal eher als Beschützerin ihrer Vollzugsbeamten denn als Verteidigerin der Rechte der Staatsbürger. Wie das Wall Street Journal meldete, gab es 2015 unter dem Druck der neuen antirassistischen Bürgerrechtsbewegung mit zwölf Ermittlungsverfahren seit einer Dekade die höchste Zahl von Anklagen gegen einzelne uniformierte Gewalttäter. Aber obwohl in dem Jahr rund 1.200 Menschen durch staatliche Gewalt zu Tode kamen – davon 306 afroamerikanische Frauen, Männer, Jugendliche und sogar Kinder –, wurde kein einziger der Beamten wegen Totschlags oder Mordes verurteilt. »Was plastisch zeigt«, so das Journal, »dass Polizeibeamte, die an der Tötung einer anderen Person beteiligt sind, niemals für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden.« Das war trotz der gewachsenen Gegenbewegung auch 2016 nicht anders. In Baltimore mussten sechs Beamte im Fall des 2015 im Zuge seiner brutalen Festnahme an einem Genickbruch gestorbenen 25jährigen Freddie Gray zwar vor Gericht erscheinen. Die Staatsanwaltschaft ließ jedoch die Anklage »mangels ausreichender Beweise« wieder fallen.
Weil es der Justiz an Verfolgungswillen fehlt, wurde kein einziger Beamter für ein Tötungsdelikt im Dienst zu einer Haftstrafe verurteilt. In Philadelphia weigerte sich Bezirksstaatsanwalt Seth Williams, Anklage gegen zwei Polizisten zu erheben, von denen einer im Dezember 2014 den 26jährigen Afroamerikaner Brandon Tate-Brown bei einer Verkehrskontrolle erschossen hatte. Der Schusswaffeneinsatz sei »eine Tragödie und kein Verbrechen«, so Williams in einer Presseerklärung. Folglich war die schlimmste administrative »Strafe«, die uniformierte Täter in den letzten Jahren in ganz seltenen Fällen zu gewärtigen hatten, die Entfernung aus dem aktiven Polizeidienst. Im Juli 2016 blockierten deshalb BLM-Gruppen und das Aktionskomitee »Black Youth Project 100« in mehreren US-Städten Büros von Polizeigewerkschaften, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese konservativen bis rechten Standesvertretungen als mächtige Lobbygruppen Gewaltakte ihrer Mitglieder rechtfertigen und selbst jene harmlosen Reformen im Polizeidienst ablehnen, die nach regierungsamtlichen Untersuchungen rassistisch motivierter Vorfälle immer wieder eingefordert wurden.
Gegen Trump
Das Potential von BLM, seine Mitglieder zu mobilisieren, hatte sich 2016 vor allem während der Kandidatenkür der Demokratischen und der Republikanischen Partei für die US-Präsidentschaftswahl gezeigt. Viele lokal und regional agierende BLM-Gruppen machten Wahlkampfveranstaltungen zu ihrer Bühne und thematisierten von rassistischer Polizeigewalt bis zu den Masseninhaftierungen von Afroamerikanern und Latinos all das, was sonst weder Hillary Clinton noch ihre republikanischen Konkurrenten zur Sprache gebracht hätten. Auch Bernard Sanders, der im Vorwahlkampf gegen Clinton angetreten war und zunächst als »demokratischer Sozialist« Hoffnungen auf eine Niederlage des vom Wall-Street-Kapital unterstützten Clinton-Clans wecken konnte, musste erst von BLM-Aktivistinnen dazu gedrängt werden, das Thema des institutionellen Rassismus in der US-Gesellschaft aufzugreifen. Als Sanders seiner Parteikonkurrentin unterlag und bald darauf ankündigte, er werde Clinton als Spitzenkandidatin der Demokraten unterstützen, erntete er einige Kritik aus den Kreisen der BLM-Gruppen. Hillary Clintons Anspruch auf das politische Erbe Obamas und die Behauptung, vor allem für Frauen als mögliche »erste Präsidentin der USA« attraktiv zu sein, fand am wenigsten bei den Frauen der BLM-Bewegung Zustimmung. Statt auf die millionenschwere Clinton-Dynastie wollten sie lieber auf die Millionen widerständiger Menschen setzen, die es dem Clan nicht nachzusehen bereit ist, dass seit der Präsidentschaft von William Clinton in den 1990er Jahren fast eine Million vorwiegend junge Schwarze in die Mühlen des US-amerikanischen Gefängnissystems geworfen wurden, um sie dort als Arbeitssklaven auszubeuten.
Eine Veränderung in dieser zuvor einhelligen Haltung der BLM-Gruppen trat in dem Moment ein, als die bereits gekürte Hillary Clinton sich am Ende der Vorwahlen überraschend dem lange Zeit als chancenlos angesehenen polternden Demagogen Donald Trump gegenübersah. Nun folgten auch einige aus den bislang Clinton-kritischen BLM-Kreisen dem Beispiel Sanders’ sowie zahlreicher Prominenter und Intellektueller und nahmen die Haltung ein, gegen Trump doch besser das »kleinere Übel« Hillary Clinton zu unterstützen. Selbst gestandene BLM-Aktivistinnen waren dann schockiert und verunsichert, als der Immobilienmilliardär im November die Wahl gewann. Ausgerechnet dieser Trump, der »Black Lives Matter« während des Wahlkampfs im Sommer 2016 »eine Bedrohung« genannt hatte, weil er die Bewegung mit tödlichen Schüssen eines Einzeltäters auf Polizeibeamte in Dallas (Texas) in Zusammenhang gebracht hatte. Das war ein abstruser Vorwurf, aber wirksame Propaganda. Im Juli erging eine Petition an das Weiße Haus, in der gefordert wurde, »Black Lives Matter« zur »terroristischen Organisation« zu erklären. Das Papier wurde jedoch von nicht mehr als 141.444 Sympathisanten unterzeichnet. Demgegenüber hatte eine Umfrage der Wirtschaftszeitung International Business Times ergeben, dass 59 Prozent der schwarzen US-Bürger überzeugt sind, die BLM-Bewegung werde dazu beitragen, die rassistische Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, während nur 39 Prozent der weißen Befragten angaben, die Bewegung würde »keine Veränderung bewirken«.
Eine Woche nach Trumps Wahlsieg, am 15. November 2016, veröffentlichte das »Black Lives Matter Global Network« eine Erklärung, in der es hieß: »Wenn Schwarze und Frauen an Macht gewinnen, werden weiße Männer ungehalten. So ist es heute, und so war es, seit die Weißen dieses Land in Besitz genommen haben. Letzte Woche manifestierte sich dieser Ärger in der Wahl eines Rassisten in das höchste Amt der amerikanischen Regierung.« Die Verfasserinnen waren »nicht nur enttäuscht oder wütend«, sondern fühlten sich »verraten«. Als BLM-Sprecherin erläuterte Patrisse Cullors am selben Tag in einem Interview mit dem Nachrichtenportal Quartz die Inhalte der Erklärung. Vor Trumps Amtseinführung am 20. Januar müssten sich die Schwarzen organisieren und sich über ihre Forderungen für das erste Regierungsjahr einig werden, denn diese neue Präsidentschaft verändere »die politische Landschaft umfassend«. Es gehe sowohl um den Kampf gegen die rassistisch motivierten Absichten Trumps, Muslimen die Einreise in die USA zu verwehren, als auch darum, »die ökonomische, soziale und politische Macht für alle Menschen zu verteidigen und unser Land zu einem sicheren Ort für die schwarze Bevölkerung zu machen«. Ihnen schwebe »eine Vision der Integration und Gerechtigkeit und nicht der Einschüchterung und Angst« vor, so Cullors. »Wir haben verschiedene Strategien in unserem Werkzeugkasten, um Autonomie und Selbstbestimmung zu erkämpfen«, sagte die BLM-Mitbegründerin und betonte, dass die »gegenwärtige Arbeit in dieser Bewegung auf friedliche Art« geleistet werde.
Versuchte Vereinnahmung
Welche Instrumente das nach »neuer Größe Amerikas« strebende US-Establishment unter Trump bereithalten wird, lässt eine Meldung des Fortune Magazine erahnen. Demnach will die mächtige Ford Foundation, eine private Stiftung mit engen Beziehungen zur Wall Street und zum Weißen Haus, in den nächsten sechs Jahren 100 Millionen Dollar an führende Gruppierungen der BLM-Bewegung spenden. Damit sollen »mutige Experimente« gefördert werden, »die der Bewegung helfen, eine solide Infrastruktur aufzubauen«. »Berater und Sachverständige« will die Stiftung auch zur Verfügung stellen, und nach ihrer Vorstellung sollen Finanzierung und Beratungsdienste über einen Fonds organisiert werden, der »Black-Led Movement Fund« (BLMF) heißen soll.
Die kommende Regierungszeit unter Donald Trump verspricht also, zu einer Zerreiß- und Bewährungsprobe zu werden. Der Immobilientycoon will das Land nach eigenen Worten »nicht als Politiker, sondern als Unternehmer« führen. Ob die junge antirassistische Bewegung also mit dem »Big stick«, dem dicken Knüppel, bezwungen oder aber eingekauft und befriedet werden soll, wird die Zukunft zeigen.
2011 erklärte die baskische ETA das Ende ihres bewaffneten Kampfes. Die politischen Organisationen der baskischen Unabhängigkeitsbewegung setzen auf Friedensverhandlungen mit dem spanischen und dem französischen Staat. Diese aber verweigern sich
Arnaldo Otegi
Arnaldo Otegi ist Generalsekretär der sozialistischen baskischen Unabhängigkeitspartei Sortu. Der ehemalige Vorsitzende der 2003 verbotenen Partei Batasuna saß für sein politisches Engagement mehrmals im Gefängnis. Auf der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt am 14. Januar in Berlin wird er über den Stand des Friedensprozesses und die Perspektiven der baskischen Linken berichten. (jW)
Im August 2008 wurde ich aus dem Gefängnis entlassen. Ich saß mehr als ein Jahr lang in Haft, weil ich an einer Ehrung für das ETA-Mitglied José Miguel Beñarán Ordeñana, bekannt unter dem Namen Argala,¹ teilgenommen hatte. Der Widerstandskämpfer gegen die Franco-Diktatur, der sich in den Iparralde genannten, französisch verwalteten Nordteil des Baskenlandes geflüchtet hatte, war am 21. Dezember 1978 durch spanische Paramilitärs ermordet worden. Des weiteren wurde mir zur Last gelegt, mich 2006 und 2007 an dem bis dahin letzten Versuch beteiligt zu haben, den baskischen Konflikt unter Vermittlung der Regierungen von Norwegen und der Schweiz durch Dialog und Verhandlungen zu lösen. Die Vorläufer dieser Bemühungen reichen bis in das Jahr 2003 zurück, als Jesús Egiguren – der Vorsitzende der Sozialistischen Partei des Baskenlandes (PSE-EE), des regionalen Arms der spanischen sozialdemokratischen PSOE – und ich selbst diskrete Gespräche aufgenommen hatten. Wieder auf freiem Fuß war ich gemeinsam mit anderen Genossen der abertzalen² Linken der Überzeugung, dass eine tiefgreifende Revision der bis dahin verfolgten politischen Strategie notwendig sei, um eine demokratische Lösung des baskischen Konflikts zu erreichen.
Folgenloser Wandel
Das, was nach dem Ende der Diktatur Francisco Francos 1975 als beispielhafte »spanische Transition« angesehen wurde, war im Kern nichts anderes als ein Reformprozess, der durch das im Staat herrschende Kräfteverhältnis erzwungen wurde. Der Übergang von der faschistischen Diktatur zur parlamentarischen Demokratie erlaubte es, die Apparate des Franco-Regimes ohne jede personelle Veränderung ebenso beizubehalten wie die Monarchie (Franco selbst bestimmte König Juan Carlos zu seinem Nachfolger, d. Red.). Keines der Hauptprobleme des spanischen Staats als Rahmen verschiedener Nationen seit seiner Gründung in moderner Form im 19. Jahrhundert wurde dadurch gelöst, insbesondere nicht die baskische und katalanische nationale Frage. »Der Kampf der durch den spanischen Feudalismus unterdrückten Nationen«, erklärte der spätere Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei, Palmiro Togliatti, 1936 während des Spanischen Bürgerkriegs, »war ein objektiv revolutionärer Kampf«. Die Lösung der nationalen Frage war nur durch einen vollständigen Bruch mit dem vorherigen Regime möglich.
Aber ein solcher Bruch konnte nach 1975 leider nicht durchgesetzt werden. Jene Männer und Frauen von Euskadi Ta Askatasuna (»Baskenland und Freiheit«, ETA), die sich in den härtesten und dunkelsten Zeiten des Franquismus entschlossen hatten, dieses Regime, das das baskische Volk zum totalen Verschwinden verdammen wollte, unter Einsatz des eigenen Lebens zu bekämpfen, kamen zu der Einschätzung, dass dem postfranquistische Spanien hinsichtlich des Umgangs mit dem Selbstbestimmungsrecht des baskischen Volkes die demokratischen Mindeststandards fehlten. Auch im Spanien der Transition blieben die bewaffnete Gewalt, die zügellose Repression, die Folter sowie der Terror von Söldnergruppen und Paramilitärs an der Tagesordnung.
Die politischen Organisationen der abertzalen Linken haben seit Beginn der 1980er Jahre immer gesagt, dass es eine Lösung des Konflikts nur durch Dialog und Verhandlungen geben könne. Alle unsere Anstrengungen richteten sich auf dieses Ziel, sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Wir erlebten, dass es in anderen Staaten möglich war, durch Verhandlungen Lösungen zu finden. Die Friedensprozesse in El Salvador und Guatemala oder später in Südafrika und Nordirland haben es gezeigt.
Auch wir haben es versucht: 1987 eröffneten eine Delegation der ETA und der damals von der PSOE gestellten Regierung einen Dialog. Dieser kam allerdings über den »Dialog über den Dialog« nicht hinaus. Mitte der 1990er Jahre entwickelten wir unter dem Eindruck des irischen Friedensprozesses einen Dialog zwischen den verschiedenen baskischen politischen Kräften, doch leider stellte sich die Regierung der Partido Popular (PP) unter José María Aznar gegen jeden Fortschritt. Mitte der 2000er Jahre gab es schließlich den am weitesten entwickelten Versuch zu einer Dialoglösung durch Gespräche zwischen der ETA und der spanischen Regierung unter Vermittlung der Schweiz und Norwegens sowie durch Gespräche zwischen den baskischen Kräften. Leider gelang auch dieser Versuch nicht. Das Ganze brach zusammen, und ich selbst landete zusammen mit Dutzenden weiteren politischen Aktivisten im Gefängnis. Damit wurde die Drohung des damaligen Innenministers Alfredo Pérez Rubalcaba (PSOE), mehr als 200 baskische Aktivisten zu inhaftieren, erfüllt.
Wir hatten in diesen Friedensprozess große Hoffnungen gesetzt, weil wir ihn für eine echte Chance hielten. Sein Scheitern führte zu tiefgreifenden Diskussionen innerhalb der baskischen Linken. Wie war es möglich, dass wir nach mehr als fünfzig Jahren Kampf, der so viel Leid gefordert hatte, in einem bewaffneten Konflikt gefangen blieben? Wie konnte es sein, dass wir im Kampf um die nationale Befreiung nicht vorankamen, obwohl es im ganzen Land immer mehr Kräfte für nötig hielten, das Recht des baskischen Volkes anzuerkennen, selbst über seinen Weg entscheiden zu können? Was sollten wir tun, wenn diejenigen, die sich immer für die Autonomie³ eingesetzt hatten, öffentlich einräumten, dass sich das Autonomiemodell erschöpft habe? Wie konnten wir in dieser Frage vorankommen? War es nicht so, dass der Kale Borroka (Straßenmilitanz, d. Red.) nicht eher der spanischen Regierung diente, die diesen kontrollieren, ihn aber zugleich als Ausrede nutzen konnte, um jene Stimmen zum Schweigen zu bringen, die nicht nur im Baskenland, sondern auch in anderen Teilen des spanischen Staates Veränderungen verlangten? Waren nicht wir es gewesen, die – um mit Einstein zu sprechen – immer dieselbe Formel ausprobierten und darauf hofften, dass diese irgendwann einmal ein anderes Ergebnis hervorbringen würde?
Abkehr von der Gewalt
Einige von uns kamen deshalb zu der Schlussfolgerung, dass es notwendig sei, die bewaffnete Gewalt aus der politischen Auseinandersetzung zu verbannen, um so die politischen Veränderungen zu provozieren, die die Regierung verhindern wollte. Es wurde immer klarer, dass der spanische Staat in eine ökonomische, institutionelle, territoriale und strukturelle Krise geraten war. Die Tatsachen gaben uns recht. Genau an dem Tag, an dem wir das Diskussionspapier vorstellen wollten, in dem sich die Gesamtheit der abertzalen Kräfte für eine ausschließlich friedliche und demokratische Strategie aussprach, wurden wir festgenommen und später unter der überraschenden Anklage verurteilt, einer bewaffneten Bande anzugehören und deren Befehle zu befolgen. Das war am 13. Oktober 2009 (siehe junge Welt vom 15.10.2009).
Diese Verhaftungen bestätigten unseren Verdacht, dass die spanische Regierung kein Interesse an irgendeiner Lösung des Konflikts hatte. Das hat sich bis heute nicht geändert. Zu unserem Glück konnten die Festnahmen die gesellschaftliche Debatte nicht aufhalten, und die einmütige Haltung der abertzalen Linken brachte die ETA dazu, einen unbefristeten Waffenstillstand zu verkünden. Dieser führte unter dem Eindruck der internationalen Konferenz für die Lösung des baskischen Konflikts im Aiete-Palast von Donostia (San Sebastián) zur endgültigen Beendigung des bewaffneten Kampfes im Oktober 2011.
Die Konferenz von Aiete war das Ergebnis eines diskreten Prozesses, in dessen Verlauf die ETA und die spanische Regierung einen von internationalen Vermittlern vorgeschlagenen Fahrplan akzeptiert hatten. Dieser sah in groben Zügen humanitäre Maßnahmen des Staates zugunsten der politischen Gefangenen, die Erklärung der Einstellung der bewaffneten Aktivitäten, die Legalisierung der abertzalen Linken (deren Organisationen in den vergangenen Jahren unter Anwendung der Antiterrorgesetzgebung nach und nach verboten worden waren, d. Red.), und den Beginn von Verhandlungen mit einer Delegation der ETA in Norwegen vor. ETA und die Regierung vereinbarten, über die sogenannten Konsequenzen des Konflikts zu sprechen, also die Existenz von 750 politischen Gefangenen und Hunderten Exilierten, für die Lösungen gefunden werden sollten; des weiteren über den Prozess der Entwaffnung der ETA sowie Schritte zur Versöhnung mit besonderem Augenmerk für die Opfer des Konflikts. Die internationale Konferenz von Aiete forderte, dass politische Fragen durch die jeweiligen politischen Repräsentanten und im Dialog geklärt werden müssten.
Aber dann passierte nichts. Die spanische Regierung agierte so, wie sie es immer getan hat, und erfüllte die eingegangenen Verpflichtungen nicht. Es gab weder humanitäre Maßnahmen für die politischen Gefangenen noch einen Dialog mit der ETA. Die Legalisierung der abertzalen Linken war ein Kampf, der letztlich vor dem Verfassungsgericht gewonnen wurde, dessen Richter sich wohl bewusst waren, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der baskischen Bewegung recht geben würde.
Zum Glück war die entworfene ausschließlich friedliche und demokratische Strategie unilateral angelegt, so dass die Nichterfüllung der Verpflichtungen durch den spanischen Staat nicht zu einer Veränderung oder Aufgabe dieser Strategie führte. Die abertzale Linke tat das, was sie für das Beste hielt, um zu einem endgültigen Frieden und einer demokratischen Abstimmung über die Selbstbestimmung des baskischen Volkes zu gelangen.
Weigerung der Regierung
Die Regierungsübernahme durch die Partido Popular (Volkspartei, PP) im Dezember 2011 bestätigte unserer Strategie. Die Regierung der PP unter Mariano Rajoy war und ist nicht an einem endgültigen Frieden interessiert, sondern will, dass der Konflikt fortgesetzt wird. Nur so ist zu erklären, dass die Regierung auf die ausdrückliche Bereitschaft der ETA, ihre Waffen registrieren und versiegeln zu lassen, damit reagierte, die Mitglieder der internationalen Verifizierungskommission für das Ende der bewaffneten Aktivität vor Gericht zu zerren. Nur so ist zu verstehen, dass sie die von der ETA später öffentlich erklärte Bereitschaft zur vollständigen Entwaffnung durch die Zerstörung ihrer Arsenale abgelehnt hat und versuchte, jede an diesem Prozess beteiligte Person anzuklagen, so wie jüngst die Aktivisten der Initiative »Künstler des Friedens« und andere bekannte Mitglieder der Zivilgesellschaft aus dem französischen Teil des Baskenlandes (kurz vor Weihnachten wurden dort bekannte Persönlichkeiten festgenommen, die sich als Mediatoren für eine kontrollierte Entwaffnung der ETA zur Verfügung gestellt hatten, d. Red.)
Leider unterstützt die Regierung in Paris diese verantwortungslose Haltung Spaniens. Und leider schauen die Europäische Union und ihre höchsten Repräsentanten weg. Wie ist es möglich, dass eine seit fünfzig Jahren aktive bewaffnete Organisation im Besitz von Arsenalen voller Sprengstoff, Waffen und Munition inmitten Europas den Willen zeigt, ihre Waffen kontrolliert abzugeben – und ihr diese Möglichkeit verweigert wird? Von welchem Europa sprechen wir, wenn seine Institutionen bereit sind, eine Regierung wie die von Mariano Rajoy gewähren zu lassen und einen bewaffneten Konflikt aufrechtzuerhalten, obwohl dies aus rein politischen Gründen geschieht? Interessiert die europäischen Institutionen nicht, dass es in der Mitte Europas geheime Waffenlager gibt, weil der spanische Staat ihre geordnete Zerstörung nicht zulässt? Es sind dieselben Gremien, die die Sicherheitsgesetze in den verschiedenen europäischen Staaten verschärfen, die es offenbar nicht kümmert oder mit Sorge erfüllt, dass die Entwaffnung einer bewaffneten Organisation verhindert wird.
Der gleichen Logik folgt, dass die Regierung in Madrid sich weigert, selbst kleinste Schritte zur Bewältigung des Problems der baskischen politischen Gefangenen zu gehen. Und ich spreche nicht von einer politischen Lösung, sondern schlicht einer humanitären. Nach mehr als fünfzig Jahren bewaffnetem Kampf sollten schwerkranke oder alte Gefangene entlassen werden, was sogar die geltenden drakonischen Gesetze vorsehen. Heute sind die baskischen Gefangenen jedoch Hunderte Kilometer von ihren Heimatorten entfernt inhaftiert, wodurch das in der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannte Recht auf ein Familienleben verletzt wird. Sie unterliegen aktuell dem strengsten Sicherheitsregime. Tatsächlich wird heute für die baskischen Gefangenen eine Gesetzgebung und Gefängnispolitik des Krieges aufrechterhalten. Es ist eine Politik der Rache, durch die erreicht werden soll, was die Regierung politisch nicht durchsetzen konnte: ein absoluter Sieg und eine Unterwerfung der Besiegten.
Kampf um die Deutungshoheit
Die spanische Regierung versucht mit aller Macht, an ihrer Version der Geschichte festzuhalten, an ihrer Erzählung, nach der der Staat gewinnen und die baskische Unabhängigkeitsbewegung verlieren muss. Es ist ein Kampf um die Deutung der Geschichte wie der Gegenwart, den die Verantwortlichen in Madrid um so verzweifelter führen müssen, je offensichtlicher dessen Scheitern angesichts der Realität wird. Denn die katalanische Unabhängigkeitsbewegung gewinnt immer mehr an Einfluss, und die abertzale Linke ist nach ihrem Übergang in die Legalität in Gestalt des Parteienzusammenschlusses Euskal Herria Bildu (Vereintes Baskenland) zur zweitstärksten politischen Kraft des Baskenlandes geworden – die PP kommt erst an fünfter Stelle. 57 der 75 Abgeordneten des baskischen Parlaments der Autonomen Gemeinschaft des Baskenlandes unterstützen das Recht auf Selbstbestimmung des baskischen Volkes. Zum großen Leidwesen der Regierung nimmt der Einfluss der fortschrittlichen und für die Souveränität eintretenden Kräfte im Land zu. Es sind die Unionisten, die auf dem Rückzug sind.
Die Regierung in Madrid fürchtet, dass zur katalanischen Front künftig eine baskische kommt, die auf demokratische Weise das »Unfinished business« der spanischen Transition wieder auf den Tisch bringt: die baskische und katalanische Frage und ihre demokratische Lösung im Rahmen des spanischen Staates. Und das kann nur bedeuten, dass das Recht dieser beiden Völker, selbst zu entscheiden, welche Beziehungen sie zu Spanien haben wollen, anerkannt wird.
Wir denken, das ist der Grund, warum die Regierung nicht daran interessiert ist, dass sich der Frieden im Baskenland konsolidiert, dass sich die ETA entwaffnet und die politischen Gefangenen nach Hause zurückkehren. Ihr ist auch nicht an einer Versöhnung gelegen. Uns dagegen schon. Wir arbeiten ohne Unterlass dafür, dass die Entwaffnung der ETA so schnell wie möglich erfolgt, trotz der Schwierigkeiten, die Madrid und Paris dabei machen. Wir bemühen uns um einen breiten Konsens in der Gesellschaft, damit die Rechte der Gefangenen respektiert werden und wir sobald als möglich das Ende ihres Leidens und des Leidens ihrer Familien erleben und sie als aktive, dem Frieden verpflichtete Aktivisten nach Hause zurückkehren können.
Und schließlich arbeiten wir für die notwendige Versöhnung. Die Vergangenheit können wir leider nicht ändern oder ungeschehen machen. Den Schmerz oder die Gewalt, die in diesem Konflikt die ETA verursacht hat, wollen wir nicht leugnen. Aber wir können auch die durch den spanischen Staat verursachten Verbrechen nicht vergessen. Das Leiden so vieler Menschen darf weder ignoriert noch verharmlost werden. Es wäre schön, wenn nichts davon je geschehen wäre. Ich habe viele Familien kennengelernt, die Angehörige verloren haben. Und ich bewundere immer wieder die Großzügigkeit und das Mitgefühl, das sich viele von ihnen trotzdem erhalten haben. Ich bin mir bewusst, dass andere eine andere Position haben, auch das ist zu respektieren. Ich beschuldige niemanden und verlange nichts. Doch die Herausforderung für uns, die wir für den Frieden in unserem Land arbeiten, ist es, sicherzustellen, dass sich die Gewalt nicht wiederholt. Wir müssen die Lehren aus der Geschichte ziehen und auf Grundlage dieser eine Zukunft in Frieden und Freiheit errichten.
Wir müssen ein Land und eine Gesellschaft aufbauen, die sich auf feste demokratische Prinzipien stützt, in der die Menschen ihr Schicksal in den eigenen Händen halten. Ein Land, dessen einzige Grenze der demokratisch ausgedrückte Willen der Bevölkerung ist. Das werden wir tun, auch gegen die Blockaden des spanischen Staates. Ich bin überzeugt, dass wir auf diesem zu gehenden Weg von den fortschrittlichen Kräften in Spanien und in Europa begleitet werden.
Anmerkungen:
1 Das ETA-Mitglied Argala ist eine im Baskenland weithin bekannte Persönlichkeit. Er gilt als wichtiger marxistischer Theoretiker.
2 Abertzale bedeutet auf baskisch patriotisch. Es handelt sich um eine Selbstbezeichnung der linken baskischen Unabhängigkeitsbewegung.
3 Seit 1979 existiert die Baskische Autonome Gemeinschaft, bestehend aus den Provinzen Gipuzkoa, Bizkaia und Alava. Sie verfügt über ein eigenes Parlament und hat das Recht, selbst die Steuern einzutreiben. Die ebenfalls baskische Provinz Navarra, die über eine eigeschränkte Autonomie verfügt, zählt nicht dazu.
Offen neoliberal. Nach Absetzung von Staatschefin Dilma Rousseff wird in Brasilien wieder gegen die Armen regiert
Achim Wahl
Die weltweite Rechtswende hat auch Brasilien erfasst. Dilma Rousseff, die damalige Präsidentin von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT), wurde im Sommer dieses Jahres mit ausgesprochen fragwürdigen Mitteln aus ihrem Amt gedrängt. Seither regiert ein neoliberal ausgerichtetes Kabinett und beseitigt die wenigen sozialen Errungenschaften früherer Jahre. Die brasilianische Linke muss sich von diesem Rückschlag erst einmal erholen. Über die Lage in dem größten lateinamerikanischen Land wird auf der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz von junge Welt am 14. Januar in Berlin der Parlamentsabgeordnete Jean Wyllys unter dem Titel »Der Kampf gegen den Rückschritt und der Aufbau einer neuen Linken« berichten. Wyllys sitzt im brasilianischen Nationalkongress und ist Mitglied des Partido Socialismo e Liberdade. (jW)
Am 1. Januar 2015 trat Dilma Rousseff unter veränderten außenwirtschaftlichen und innenpolitischen Bedingungen ihre zweite Amtszeit an. Mit 51,64 Prozent der Stimmen hatte sich die Präsidentin Brasiliens in der Stichwahl am 26. Oktober 2014 gegen den Kandidaten des PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira), Aécio Neves, durchsetzen können. Ihre Partei, der Partido dos Trabalhadores (PT), hatte bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 5. Oktober besonders in den großen Städten Brasiliens Verluste hinzunehmen.
Es war das schlechteste Wahlergebnis seit 2002. Die Regierungskoalition mit dem PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro), einer Zentrumspartei, verlor mehr als 20 Parlamentssitze. Seither sind im Nationalkongress 28 Parteien vertreten, was die Bildung von parlamentarischen Mehrheiten verkompliziert. Von 513 Deputierten der Abgeordnetenkammer sind 248 Millionäre. Gewählt wurden Kandidaten, die sowohl religiöse Fundamentalisten wie auch die sogenannte Ruralisten, also Großagrarier bzw. Latifundisten, vertreten. Die aktuelle Zusammensetzung des Parlaments gilt als die konservativste seit 1964.
Der hauptsächliche Koalitionspartner des PT, der PMDB, erwies sich sogleich als Kontrahent der Präsidentinnenpartei und setzte in beiden Kammern seine Kandidaten als jeweilige Vorsitzende durch: Eduardo Cunha für das Abgeordnetenhaus und Renan Calheiros für den Senat. Beide gehören zum rechten Flügel der Partei. Wachsende Spannungen innerhalb der Koalition führten später dazu, dass der PMDB die Koalition einseitig aufkündigte und ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff anstrengte.
Das schlechte Abschneiden und der gestärkte Einfluss des rechten Koalitionspartners veranlassten die Staatschefin, fortan auf Austeritätskurs zu gehen. Ende 2014 hatte Rousseff Joaquim Levy (PMDB) zum Finanzminister und Kátia Abreu (PMDB) zur Ministerin für Landwirtschaft, Viehzucht und Versorgung ernannt. Levy ist ein Repräsentant der neoliberalen Schule und war im Internationalen Währungsfonds bei der großen Privatbank Bradesco tätig. Abreu ist langjährige Präsidentin der Konföderation für Landwirtschaft und Viehzucht mit mehr als 10.000 Farmern. Sie vertritt offen die Interessen des Agrobusiness und lehnt eine Landwirtschaftsreform ab. Mit diesen Kabinettsbesetzungen verschob sich die Zusammensetzung der Exekutive deutlich nach rechts, obwohl weiterhin linke Minister vertreten waren. Mehr und mehr wurde die Regierung von der Legislative abhängig.
Parlamentarischer Putsch
Rousseff beugte sich also entgegen ihren Wahlversprechen den Forderungen der rechten und neoliberalen Kreise. Korruptionsvorwürfe und die gegen das halbstaatliche Mineralölunternehmen Petrobras eingeleiteten Untersuchungen engten ihren politischen Spielraum weiter ein, während die besagten Kreise eine restaurative Offensive einleiteten. Massendemonstrationen gegen den PT und die Regierung folgten, die Zustimmungswerte für die Präsidentin gingen erheblich zurück, Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren wurden laut.
In diesem Zusammenhang wurde behauptet, Rousseff habe den Staatshaushalt manipuliert. Obwohl der Oberste Rechnungshof (Tribunal de Contas da União) nur ein Konsultativorgan der Regierung ist, lehnte er den Rechenschaftsbericht der ersten Amtszeit mit der Begründung ab, dieser sei fehlerhaft. Für die Kräfte um den Abgeordnetenhauspräsidenten Eduardo Cunha war das der willkommene Anlass, die Suspendierung der Staatschefin zu fordern. Die Einleitung des Verfahrens gegen sie begann mit Abstimmungen in beiden Kammern, also auch im Senat, und gingen zu ihren Ungunsten aus. Vizepräsident Michel Temer (PMDB) wurde zum Interimspräsidenten bestimmt. Damit war der parlamentarische Putsch vollzogen. Im August 2016 war das Verfahren abgeschlossen und Temer nun offiziell Staatsoberhaupt Brasiliens. Die von ihm ernannte Regierungsmannschaft lässt an einer beabsichtigten neoliberalen und konservativen Offensive wenig Zweifel. Das Kabinett ist eines der weißen Millionäre, Vertreter der alten »Eliten«, darunter viele, die selbst der Korruption beschuldigt werden. Zum Außenminister berief Temer den bisherigen Oppositionspolitiker des PSDB, José Serra. Beide, Präsident wie Chefdiplomat, sind Repräsentanten der Bourgeoisie von Sao Pãulo.
Henrique Mereilles wurde zum Finanzminister und Ilan Goldfein zum Präsidenten der Zentralbank Brasiliens ernannt. Damit ist die Kontrolle über eine Geldpolitik und die internationalen Finanztransaktionen gesichert, die den Interessen der Wallstreet und dem »Washington Consensus«, also einem dezidiert neoliberalen wirtschaftspolitischen Maßnahmenkatalog, entsprechen. Mereilles, US-Staatsbürger, war Chef der Bank FleetBoston Financial (1999–2002) und stand während der Amtszeit des vormaligen Präsidenten Lula da Silva (2003–2010) der Zentralbank vor. Goldfein war Chefökonom der größten Privatbank Brasiliens, der Banco Itaú, mit engsten Verbindungen zum IWF und zur Weltbank. Landwirtschaftsminister wurde einer der größten Lantifundisten Brasiliens, der »Sojabaron« Blairo Maggi. In diesem Amt setzt er sich seither für den Verkauf von Ländereien an ausländische Unternehmen ein.
Die wesentlichsten Elemente der konservativen Wende, die Temer betreibt, sind eine Einschränkung der Rolle des Staates, weitere Privatisierungen, Konzessionen an internationale Unternehmen, Abschaffung bestehender Arbeitsrechte sowie Kürzungen der Sozialprogramme und der Renten. Ohne Zögern beseitigt die Interimsregierung nicht nur politische und soziale Errungenschaften, sondern scheint auch eine außenpolitische Kehrtwende innerhalb des Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens), der Unasur (Union der südamerikanischen Staaten) sowie gegenüber den anderen Staaten im losen BRICS-Bündnis zu vollziehen.
Die Operation »Lava Jato«
Der parlamentarische Putsch hat eine Vorgeschichte. 2013 wurde das ganze Ausmaß der Korruption bei Petrobras bekannt. Der Kassierer einer Tankstelle in Brasília hatte Aufzeichnungen gemacht, die zur Verhaftung eines Kriminellen führten. In der Absicht, einer schweren Strafe zu entgehen, deckte der das System der Bestechung und Bereicherung um den Mineralölkonzern auf. Der mehrfach vorbestrafte Kriminelle war einer der wichtigsten Mittelsmänner bei der Weitergabe von Schmiergeldern an Bauunternehmen, Petrobras-Direktoren und Politiker. Das war der Beginn der Operation Lava Jato (an einer Tankstelle aufgedeckt, wurde die Operation »Lava Jato«, »Autowäsche« genannt), bei der auch Mitglieder der Regierungspartei PT ins Visier gerieten, wie etwa der dann verhaftete Schatzmeister João Vaccari.
Im Zuge der Ausdehnung ihres Geschäftsfeldes hatte sich um die Petrobras bzw. um deren leitende Funktionäre ein kriminelles Kartell von Bauunternehmen und politischen Parteien gebildet. Erhebliche Summen flossen in die Taschen der höchsten Direktoren des Unternehmens oder wurden politischen Parteien zugeleitet. Die Rede ist von drei Milliarden Dollar an Schmiergeldern.
Die Ermittler in dem Fall wurden zu Helden stilisiert, die sich im Kampf gegen die Korruption bewährten. Erstmals in der Geschichte Brasiliens wurde dieses Vergehen ernsthaft verfolgt und verurteilt. Aber Ziele und Methoden der Untersuchung widersprachen zunehmend juristischen Regeln und Gepflogenheiten. Es gab gezielte, in der Presse lancierte Denunziationen sowie »präventive« Verhaftungen. Der Vorwurf der Anstiftung zur Bestechung und öffentliche Einschüchterung waren seitens der ermittelnden Behörden keine Seltenheit.
Das verschärfte Vorgehen der leitenden Staatsanwaltschaft zeigte sich dann bei der illegalen Festnahme Lula da Silvas am 4. März 2016. Es war die unverkennbare Absicht, dessen etwaige Kandidatur bei den Präsidentenwahlen 2018 zu verhindern. Die Ermittlungen erfolgten sehr selektiv und richteten sich vor allem gegen den PT und gegen Rousseff. Das Chaos, das die Operation Lava Jato bisher angerichtet hat, birgt die Gefahr, dass die Justiz die ohnehin instabile bürgerliche Demokratie in Brasilien weiter aushöhlt.
Einflussnahme von außen
Im Oktober 2015 besuchte eine Gruppe von Juristen um Brasiliens Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot die USA. Ihr Ziel war es, Dokumente der Petrobras der US-Justiz zu übergeben, um gemeinsam mit US-Aktionären gegen das Unternehmen juristisch vorzugehen. Sie agierten also im fremden Interesse gegen den brasilianischen Staat. Der Aufenthalt in den USA verdeutlichte, dass auch die Vereinigten Staaten sich für Lava Jato interessierten. Die Operation konnte seit diesem Zeitpunkt nicht mehr ausschließlich als Korruptionsbekämpfung betrachtet werden. Es ging hier vielmehr darum, die Konturen einer grundlegenden politischen Wende auszuarbeiten, die auch im geopolitischen Interesse Washingtons lag.
Die Art und Weise, wie hier die Justiz vorging und den parlamentarischen Putsch gegen Rousseff gewissermaßen vorbereitete, zeigten, dass neue Konzepte der Einflussnahme, gewissermaßen »gewaltlose Aktionen«, ersonnen wurden. Man agierte mit psychologischen, sozialen und politischen Instrumenten. Solche Aktionen eines »sanften Putsches« oder der »smart power«, erarbeitet vom US-Ideologen Joseph Nye, unterscheiden sich von den bisherigen Methoden der Umstürze vergangener Jahre. Nach den Staatsstreichen in Honduras 2009 und Paraguay 2012 wurde 2016 auch in Brasilien diese »sanfte« oder »smarte« Variante angewandt.
Dazu gehört auch, dass im Zuge der landesweiten Proteste im Juni 2013 neue rechte Gruppierungen entstanden. Eine solche ist die Bewegung »Movimento Livre Brasil« (MLB – Bewegung Freies Brasilien). Sie wurde von dem libertären, weltweit tätigen Netzwerk »Students for Liberty« ins Leben gerufen. Diese US-amerikanische Gruppe wird unter anderem mit Geldern aus den Stiftungen der milliardenschweren Brüder Charles und David Koch gefördert, die ihrerseits die Tea-Party-Bewegung in den USA unterstützen. Eine andere rechte Vereinigung ist die »Vem Pra Rua« (»Raus auf die Straße«), die mit dem PSDB und Aécio Neves – dessen Präsidentschaftskandidaten von 2014 – in Verbindung steht. Beiden Organisationen wurden finanzielle Mittel, Lautsprecher und Propagandamaterial zur Verfügung gestellt. Einige ihrer Anführer wurden in den USA ausgebildet, u. a. im »Atlas Network«, einer Stiftung zur Förderung neoliberaler Politik, die der Tea-Party-Bewegung nahesteht. Naheliegend daher, dass diese neue Rechte die Freiheit des Marktes als Grundlage aller Freiheiten propagiert.
Daneben verstärkt sich auch der Einfluss der Evangelikalen in Brasilien. Dieser fundamentalistisch ausgerichteten protestantischen Strömung gehören, wie die Süddeutsche Zeitung am 15. April 2016 berichtete, laut dem aktuellen Zensus etwa 42 Millionen Menschen, das sind rund 20 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, an. Besonders stark ist diese Bewegung in den Vorstädten der großen urbanen Zentren. Inzwischen sind die Evangelikalen in verschiedenen Parteien vertreten, 18 Prozent der Abgeordneten des Kongresses gehören demnach diesen Sekten an. Eduardo Cunha vom PMDB, der bis Mai 2016 Präsident des Abgeordnetenhauses war, ist ein evangelikaler Radioprediger.
Politisches Chaos
Die Übernahme des höchsten Staatsamtes durch den damaligen Vizepräsidenten Michel Temer hat das Land nicht stabilisiert, sondern in einen chaotischen Zustand versetzt. Selbst Temers Zukunft bleibt ungewiss. Seine Regierung ist infolge des Rücktritts mehrerer Minister geschwächt, aus den eigenen Reihen wird Druck auf ihn aufgebaut. Seine Partei verlangt mehr Einfluss in zentralen Fragen. Die Austragung der Interessenkonflikte, die sich innerhalb der Machteliten abspielen, nimmt teilweise groteske Züge an. Die Auseinandersetzungen drehen sich dabei vor allem um den jeweils eigenen Anteil bei der Ausbeutung der Erdölreserven vor der Küste Brasiliens.
Die Regierung Temer steht im Begriff, Petrobras und die »Nationalbank für soziale und wirtschaftliche Entwicklung« zu privatisieren. Am 12. Dezember nahm der Senat den Gesetzantrag PEC 55 (Proposta de Emenda Constitucional – Verfassungszusatzantrag) mit 53 gegen 16 Stimmen an. Er legt fest, dass die Sozialausgaben für die nächsten 20 Jahre eingefroren werden. Beabsichtigt ist zudem eine Veränderung des Sozialversicherungssystems, mit der die staatliche Fürsorge durch private Anbieter ersetzt werden soll.
Der Eindruck politischer Instabilität verstärkt sich, wenn man berücksichtigt, dass die Untersuchung der Korruptionsfälle die Minister und Abgeordneten der Regierungsparteien im Kongress stark belastet. Hintergrund sind bereits gemachte oder noch ausstehende Aussagen von 77 Mitarbeitern von Odebrecht. Der Konzern ist das größte Bauunternehmen des Landes, das Großprojekte wie das Wasserkraftwerk Belo Monte (Staat Pará) oder den Hafen Mariel (Kuba) realisiert. Odebrecht ist wesentlich an der endemischen Korruption in Brasilien beteiligt. Wenn zutrifft, was bisher ausgesagt worden ist, dann hatte die Firma eine spezielle Abteilung, deren einzige Aufgabe die Bestechung war. Bei einer Hausdurchsuchung beim ehemaligen Unternehmenschef Marcelo Odebrecht wurden Unterlagen mit Angaben zu 240 Politikern von 22 Parteien gefunden, die Schmiergelder erhalten hatten. Darunter Temer, Serra sowie 130 Abgeordnete und 20 Gouverneure. Odebrecht wurde zu 19 Jahren Haft verurteilt. Nun allerdings hat man sich auf einen Deal zur Strafminderung geeinigt. Odebrecht bezahlt verteilt auf 23 Jahre 6,7 Milliarden Reais (etwa zwei Milliarden Euro) Strafe als Entschädigung sowohl an den Staat als auch an ausländische Konkurrenten und kann zukünftig wieder Verträge abschließen.
Die Reaktion der Linken
Für die Schaffung einer breiten Opposition sind erste Schritte gegangen worden. Soziale Bewegungen und Vertreter linker Parteien einigten sich auf ein gemeinsames Vorgehen. Bereits Anfang September 2015 wurde in Belo Horizonte über die Bildung einer »Brasilianischen Volksfront« (Frente Brasil Popular) informiert. Daran beteiligen sich die Gewerkschaft CUT, die Studentenorganisation UNE, die Landlosenbewegung MST, die Consulta Popular, die Via Campesina, Frauenorganisationen, die Bewegung der Staudammgeschädigten (MAB), die Juristenvereinigung und Vertreter linker Parteien einschließlich der PT. Heute ist sie offen für alle Kräfte, die den Putsch verurteilen und sich der konservativen Wende entgegenstellen wollen. Die Frente will auf die Straße zu mobilisieren. Im Mittelpunkt ihrer Anstrengungen steht die Verteidigung der Demokratie und der Errungenschaften der letzten Jahre.
Für den PT ist die Lage schwierig. Im kommenden April soll ein Parteitag abgehalten werden, und nicht zu übersehen sind die Versuche, ihn hinauszuschieben, die Regularien seiner Vorbereitung zu verändern und kritische Kräfte in der Partei auszubremsen. Letztere fordern eine umfassende Neubewertung der Situation, eine kritische Einschätzung der vergangenen 14 Jahre Regierungstätigkeit und die Ablösung der gegenwärtigen Parteiführung. Teile des PT setzen nach wie vor auf den Expräsidenten Inácio Lula da Silva, dessen politische Zukunft allerdings vom Ausgang der Untersuchung der gegen ihn erhobenen Vorwürfen abhängt.
Zu klären hat die Linke Brasiliens und insbesondere der PT eine zentrale Frage. Aus welchen Gründen verlor die Partei einen bedeutenden Teil derjenigen Wähler, für die wesentliche soziale Verbesserungen realisiert werden konnten? Dazu lässt sich sagen, dass die von den PT-Regierungen in Gang gesetze Politik, die eben nicht neoliberal war, nicht von weiteren Reformen im politischen System flankiert wurde. Dazu hätte etwa die Ausarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung gehört. Eine Agrarreform, das zentrale Thema der Landlosenbewegung wurde nicht in Angriff genommen. Die Bilanz der PT-Regierung bleibt damit ambivalent.
Über den traurigen Niedergang der italienischen Arbeiterbewegung. Vor 25 Jahren wurde der Partito della Rifondazione Comunista gegründet. Ein Nachruf
Stefano G. Azzarà
Die Frage mitregieren oder nicht beschäftigt momentan die Mitglieder der Linkspartei. Das Thema »Rot-Rot-Grün« ist derzeit in aller Munde. Was daran gut sein soll oder vielmehr schlecht sein wird, ist Gegenstand der Podiumsdiskussion der kommenden Rosa-Luxemburg-Konferenz im Januar. Dass Mitregieren in der Regel den eigenen Untergang beschleunigt, vermag auch das Beispiel der italienischen Partei der kommunistischen Neugründung zu zeigen. (jW)
Als 1991 der Kalte Krieg endete, wurde auf dem 20. Parteitag auch das Kapitel der siebzig Jahre des Partito Comunista Italiano (PCI) beschlossen. Im selben Jahr jedoch entstand auf Initiative einiger maßgeblicher Exponenten – vor allem dank der rechtzeitigen, im verborgenen stattfindenden Arbeit des Anführers der »prosowjetischen« Strömung innerhalb des PCI, Armando Cossutta – die Bewegung und später dann die Partei der Kommunistischen Neugründung (Partito della Rifondazione Comunista, PRC). Diesem ersten Gründerkern, dessen Mitglieder sich bei aller unterschiedlichen Orientierung doch zumindest auf die Mutterpartei beriefen, schloss sich bald ein kleiner Trupp von Anhängern der eher linksradikalen Democrazia Proletaria an.
Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte dieser Partei detailliert zu rekonstruieren. Erinnert sei aber an die ersten, halb geheimen Zusammenkünfte und an den aufgeregten Wahlkampf zu den Regionalwahlen in Sizilien, bei dem zum ersten Mal das Parteisymbol auftauchte und bei denen der PRC überraschende sechs Prozent holte. Erinnert sei aber vor allem daran, dass der PRC es schaffte, die Zustimmung desjenigen Teils der Wählerschaft des Ex-PCI zu erhalten, der sich nicht mit der Namensänderung dieser Partei und noch viel weniger mit deren politischer Neuausrichtung abfinden wollte. Der PRC erreichte vor allem im industriellen Norditalien gute Ergebnisse (die in Städten wie Mailand und Turin oberhalb der zehn Prozent lagen). Damit lässt sich zeigen, dass eine Linke, die sich nicht dem Zeitgeist angepasst hatte, bei Lohnarbeitern und Teilen der Mittelschicht noch eine Chance hatte.
25 Jahre später und nachdem er sich direkt oder indirekt an den beiden seitherigen Mitte-links-Regierungen beteiligt und unzählige Koalitionen auf lokaler Ebene unterstützt hat, ist der PRC heute im Grunde genommen verschwunden. Mitverantwortlich für unpopuläre Entscheidungen, die mit der Notwendigkeit begründet wurden, einen inexistenten »Berlusconi-Faschismus« zu stoppen, aber zugleich den Klassenunterschied vergrößerten, verlor er Mitglieder und Sympathisanten und war nicht mehr in der Lage, sich zu den Wahlen autonom, mit eigenem Namen und eigenem Symbol aufzustellen. Spätestens seit 2008, als die Partei mangels Zustimmung aus dem Parlament flog, konnte sie nicht mehr konstruktiv agieren und war von den politischen und kulturellen Debatten des Landes fortan ausgeschlossen. Verkümmert zu einer Konföderation lokaler Splittergruppen, die (von jenen abgesehen, die sich mit der grenzenlosen Ausdauer ihres Voluntarismus dagegen stemmen) beinahe nur noch in den »sozialen Medien« überlebt und zum bloßen Logo geworden ist, scheint sie ganz und gar unfähig, sich zu regenerieren und hat sich zur Geisel eines Sekretärs gemacht, der aus Mangel an Alternativen auf Lebenszeit bestellt zu sein scheint. Dieser Paolo Ferrero besitzt heute, nachdem er stets ein Zusammengehen mit PDS- DS- PD1 befürwortet hatte und während der zweiten Regierung Prodi zum Minister für Nichts (nämlich »für soziale Solidarität«) ernannt worden war, nicht mehr die notwendige Glaubwürdigkeit, zu den Volksklassen zu sprechen und vermag keinen rechten Daseinsgrund mehr für die eigene politische Organisation anzugeben.
Anhängsel von Mitte-links
Warum nahm die Entwicklung der Partei diesen Verlauf? Wie war es möglich, dass der gesamte Reichtum an Ideen, an Leidenschaft und Engagement, zusammengetragen von Frauen und Männern, die sich in der Tradition der historischen Arbeiterbewegung sahen, in relativ kurzer Zeit so schändlich und gleichgültig vergeudet wurde? Wie, dass dieser Reichtum in mehrere Teile zerbrach, mit denen sich nichts mehr anfangen ließ?
Eine eindeutige Verantwortlichkeit existiert nicht. Die objektive Situation, gekennzeichnet durch eine historische Niederlage der subalternen Klassen, war so hoffnungslos, dass die Herausforderung des Wiederaufbaus einer kommunistischen Partei am Ende des 20. Jahrhunderts auch mit den besten Absichten zu ambitiös gewesen wäre. Ein aussichtsloses Unterfangen also. Doch ebenso richtig ist eine auf das Gegenteil zielende Frage: Wie konnte sich eine politische Kraft, die zu keiner Zeit bedeutsame Neuerungen hervorgebracht hat, 20 Jahre lang auf den Lorbeeren des historischen Kommunismus ausruhen? Die Wahrheit ist, die kommunistische Tradition in Italien war so verwurzelt, dass auch dieses halbe Wunder möglich war. So sehr, dass wir unter gewissen Gesichtspunkten in diesem Land erst heute die Folgen des Falls der Berliner Mauer vollumfänglich erleben.
Es gibt da einen weiteren objektiven Aspekt, der zu berücksichtigen ist: die fortschreitende Machtkonzentration der Exekutive zum Nachteil der Parlamente und der Repräsentation, die sich in ganz Europa beobachten ließ und die schon bald Formen eines bis dahin unbekannten postmodernen Bonapartismus annehmen würde. Dieser Prozess verfestigte sich in Italien nicht in der Ära des Dezisionismus, wie er von Bettino Cra xi, dem Anführer des Partito Socialista Italiana, betrieben wurde, sondern gegen diesen mit der Einführung des Mehrheitswahlrechts 1991. Das heißt, mit der Beseitigung des reinen Verhältniswahlrechts, das seit 1946 das politische Feld in Italien geordnet hatte. Daran trägt der PDS, hervorgegangen aus der Asche des PCI, maßgeblich Verantwortung. Denn er brachte ein Referendum für das Mehrheitswahlrecht auf den Weg, mit dem die Exkommunisten sich der Mittel des Subversivismus der herrschenden Klassen Italiens2 bedienten und die Parteien des Zentrums zum Bündnis zwangen, weil sie darin den kürzesten Weg zur Machterlangung in einem im wesentlichen moderaten Land sahen. Diese Umstände haben dafür gesorgt, dass Rifondazione Comunista zum linken Flügel von Mitte-links werden konnte, noch bevor die Partei ein eigenes Programm ausgearbeitet hatte. Sie geriet damit zu einer politischen Kraft, die aus systemischen Gründen dazu verdammt war, immerzu die »radikale« Flanke im Bündnis mit der gemäßigten Linken abzudecken, mithin ohne substantielle Autonomie blieb und andernfalls untergegangen wäre. Sie begann sich genau in dem Moment aufzulösen, als Walter Veltroni mit der Gründung des PD der Phase der Zusammenarbeit auf nationaler Ebene ein Ende setzte.
Glaube und Ablehnung
Wenngleich unerlässlich, reichen diese Erwägungen doch nicht hin. Sie wären gar tröstlich, wenn man vor den subjektiven Aspekten der Geschichte die Augen verschlösse. Das Profil des Partito della Rifondazione Comunista war von der Gründung an nämlich nur äußerst schwach ausgeprägt, es fehlten Fundament und Perspektiven. Im PRC kamen zunächst die am stärksten ideologisierten Erben des PCI zusammen – einer Partei, deren Geschichte auch deshalb ruhmreich genannt werden muss, weil sie die moderne Demokratie in Italien mit dem Blut ihrer Partisanen im Krieg gegen die Faschisten und dank der politischen Weisheit ihres Anführers Palmiro Togliatti bei Kriegsende aufgebaut hatte. Zugleich jedoch eine Partei, die zu verschiedenen Zeiten bloß dem Namen nach eine kommunistische war. Denn sie verband sich in vielerlei Hinsicht mit der Idee, derzufolge sich der soziale Fortschritt einzig und allein auf die Modernisierung des heimischen Kapitalismus zu reduzieren habe, eines Kapitalismus, der vor seiner eigenen zerstörerischen und parasitären Natur zu schützen sei. Ein solch falsch verstandener nationaler Verantwortungssinn, mit dem diese Modernisierung durch die Opfer der unteren Klassen und durch Zurückhaltung bei den Lohnforderungen realisiert wurde, war einem vorherrschend falschen Bewusstsein bei den Kadern von Partei und Gewerkschaft geschuldet und verdichtete sich unter den Funktionären der mittleren Parteiebene allzu leicht zur unausgesprochenen Geschichtsphilosophie. Wie bereits im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war man überzeugt, auf der Seite der Vernunft zu stehen, und davon, dass eine immanente Notwendigkeit früher oder später zu einer gerechteren und gleichen Gesellschaft führen werde, was auch immer die zufälligen Entscheidungen der Parteikirche seien.
Wer von der Tradition des PCI herkommt, hatte, so lässt sich sagen, schon mit der Muttermilch eine Haltung aufgenommen, die auf Schadensbegrenzung aus war. Diese Mentalität strebte stets das angeblich kleinere Übel in der Angst an, dass alle Alternativen schlechter sein könnten, während das »Große und Gute« lediglich vage und unbestimmt in den Predigten der sonntäglichen Versammlungen aufschien – ein Realismus, der zum Surrealismus wurde.
Im Gegensatz zu den ehemaligen PCI-Mitgliedern standen innerhalb des PRC die »libertären« Erben der Neuen Linken aus der Zeit zwischen 1968 und 1977 und damit der Phase jener großen Modernisierung der italienischen Gesellschaft, die nach den Jahren des ökonomischen Booms vonstatten ging. Sie erfolgte im Kampf gegen die rigiden familiären und sozialen Hierarchien des agrarischen und patriarchalischen Italiens sowie durch den Übergang von einer strengen, dem Konsum feindlich gegenüberstehenden Moral zu einer dem Zeitalter der Massenproduktion angemessenen liberalen. Diese Modernisierung trat lange im Gewand einer ultraradikalen Revolution auf, deren Anhänger die »bürgerliche« Natur des prosowjetischen Kommunismus im Namen eines vom Maoismus inspirierten egalitären Ideals angriffen, die allerdings nichts als imaginiert war. Damit aber wurde der moderne Begriff von Freiheit, die auf politischem Terrain bewusst, kollektiv und organisiert anzustreben war, abgelöst durch einen postmodernen, der sich auf die Forderung nach bürgerlichen Rechten und in der beliebigen Wahl von Lifestyle und Konsum beschränkte, mithin Freiheit zur Privatangelegenheit degradierte.
Diese Strömung innerhalb des PRC war ziemlich nah an dem, was Ernst Bloch den »Wärmestrom« des Marxismus nannte, allerdings mit einem ausgeprägten Hang zur Poesie und zur phantastischen Vorstellung von »neuen Subjekten« und einer neuen »Multitude« (Antonio Negri). Hinzu kam die für die auf Bewegungen Fixierten so typische Neigung, allem, was gesellschaftlich raschelt und hustet, hinterherzujagen, ohne je die Sache materialistisch zu analysieren. Diese Strömung verfügte über ein dürftiges Konzept und zeichnete sich durch eine stumpfsinnige Ablehnung des Marxismus aus, der als dogmatische und ökonomistische Ideologie denunziert wurde und von dem es hieß, er wisse mit den neuen gesellschaftlichen Fragestellungen (Feminismus, Jugendfrage, Ökologie) nichts anzufangen. Den Marxismus tauschten sie gegen einen dilettantischen Synkretismus, der sich als veredelter »Pluralismus« und als »Hybridisierung« ausgab. So entstand ein Palimpsest, in dem der konstitutive Auftrag von der Verteidigung der Arbeit schrittweise durch einen radikalen Eigensinn im Namen der absoluten individuellen Begehrlichkeiten und Freiheiten ersetzt und der Charakter einer Linken postmodern und losgelöst bestimmt. Eine solche Linke war dann bereit zum opportunistischen Kompromiss, weil sie die Momente der neoliberalen passiven Revolution als tatsächlich revolutionär umdeutete. Genannt seien zum Beispiel die Demontage des Wohlfahrtsstaates und die gleichzeitige Ausdehnung des tertiären Sektors, die als Absterben des Staates und als Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft gepriesen wurden.
Eine emblematische Figur
Nicht dass diese beiden Strömungen des PRC nichts miteinander zu tun haben wollten. Im Gegenteil. Mehrere Male vereinigten sie sich aus Gründen machttaktischer Erwägungen, vollzogen allerdings auch zahllose Kehrtwenden und Spaltungen, trugen Fehden aus oder schlossen Allianzen. Auf diese Weise aber ergab sich nicht mehr, sondern weniger als die Summe ihrer Teile. Man war vereint im programmatischen Mangel einer politischen und kulturellen Autonomie, dessen Verkörperung Fausto Bertinotti abgab. Wie Gorbatschow für Russland war er, von Cossuttas PRC als Sekretär eingesetzt, für das unrühmliche Ende des Kommunismus in Italien die geradezu emblematische Figur.
Angesichts eines wachsenden Unbehagens unter den schwächsten Gesellschaftsschichten zog es Bertinotti vor, an den nächtlichen Festen des bessergestellten Bürgertums auf den Dächern Roms teilzunehmen. In seinem Narzissmus erschien ihm das politisch vorteilhaft. Vor allem aber zögerte Bertinotti nicht, die eigene Partei auf dem Altar einer »radikalen«, postmodernen und definitiv postkommunistischen Linken zu opfern. Diese Wende verstand er als großes Projekt der »Modernisierung«, die, indem sie die Sozialdemokratie verdrängte, das nationale und sogar internationale politische Feld hätte verändern sollen (nicht unwichtig und nicht zufällig war seine Rolle bei der Gründung der Europäischen Linken). Er war es, der der italienischen Linken vor dem Hintergrund einer bonapartistischen politischen Praxis einen zutiefst antidemokratischen Geist einimpfte. Tatsächlich begannen mit Bertinotti in dem PRC Experimente mit einigen typischen Elementen der Postdemokratie, die daraufhin auch von anderen politischen Kräften übernommen wurden: von der Auswahl der Führungskader durch das US-amerikanische System der Primaries bis hin zu einer Parteiführung, die sich nicht mehr durch die Synthese der verschiedenen Strömungen definierte, sondern durch den Willen des Chefs und dessen höfisch gehorsamen Anhängern.
Von der Mitte der 90er Jahre bis 2008 durchzog den PRC ein scharfer interner Kampf. Aus diesem Konflikt, der ohne Pardon geführt wurde, ging der Partito della Rifondazione Comunista – trotz der Mühen einiger Strömungen wie jener, die sich um die Zeitschrift l’Ernesto gruppierte – reichlich ramponiert hervor. Die Partei erwies sich auf diese Weise als ein kleines Laboratorium für jene unheilvolle Rechtswende, die in der Zwischenzeit das ganze Land erfasst hatte und für die dann die Mitte-links-Kräfte nicht weniger verantwortlich waren als jene Silvio Berlusconis.
Nach ihm dann das Nichts: Indem sie sich uneingeschränkt mit ihrem charismatischen Führer identifizierte, begann sich Rifondazione in dem Moment aufzulösen, als Bertinotti seinen Posten als Präsident der Abgeordnetenkammer verließ. Zwar verharrt er weiterhin in der Partei, scheint aber nichts aus den eigenen katastrophalen Erfahrungen gelernt zu haben. Das zeigt seine mehrfach demonstrierte Unfähigkeit, den historischen Bruch, der sich mit der Systemniederlage von 1989/91 ereignete, anzuerkennen. Den negiert er (der reale Sozialismus war nichts anderes als »Totalitarismus«, und dessen Kollaps betrifft uns nicht) oder kompensiert ihn durch Phantasien, die eine bevorstehende Linkswende der europäischen Völker beschwören. Bertinotti hat den Zusammenhang zwischen dem internationalen und dem nationalen Klassenkonflikt nie begriffen, und folglich auch nicht den Zusammenhang zwischen dem Ende der UdSSR und dem Sieg des Neoliberalismus im Westen: Immer hat er daher die Globalisierung als möglichen idealen Anbruch einer »anderen Welt« ausgelegt, ohne zu sehen, dass sie beileibe nicht das universelle Bauwerk der Gattung Mensch war, sondern einzig das Hegemonieprojekt für ein amerikanisches 21. Jahrhundert. Ausgehend von ähnlichen Fehlüberlegungen identifiziert der PRC den Prozess kontinentaler Annäherungen, der zur Herausbildung eines einheitlichen europäischen Raums führen könnte und der an sich progressiv wäre, unkritisch mit den politischen und ökonomischen Institutionen der EU. Es sei in deren Inneren möglich, zusammen mit solchen Kräften wie Syriza und Podemos sowie früher oder später mit einer »reformierten« Sozialdemokratischen Partei Europas einen Reformweg einzuschlagen von dem man glaubt, er führe zu einem »anderen Europa«, das aber in Wahrheit unauffindbar ist.
Langwieriger Neuanfang
Diese Haltung teilt der PRC mit seiner Zwillingspartei, mit dem nostalgischen, in nicht geringeren Schwierigkeiten steckenden PdCI. Die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, begünstigt die Hegemonie der Rechten enorm. Die strukturelle Krise hat die Mittelschichten getroffen, die, verarmt und verunsichert, der Unternehmens- und Finanzbourgeoisie, aber auch dem kulturellen, akademischen und medienpräsenten Bürgertum das politische Mandat aufgekündigt haben und nun glauben, die Dinge selbst richten zu können. Den Sündenbock erblicken sie in den Migranten und im vagen Begriff von »Establishment«, die Lösung in den Rezepten von Autarkie und Protektionismus. Daher haben in Italien wie in allen anderen Ländern Europas die reaktionärsten Kräfte innerhalb der herrschenden Klassen leichtes Spiel. Sie sind dadurch in der Lage, sich hinter dem »populistischen« Konzept einer Überwindung der politischen Kategorien von links und rechts zu verstecken, sich als das Neue auszugeben und sich die Unzufriedenheit und die Wut des Kleinbürgertums zunutze zu machen. Unter diesen Umständen ist die Unterwerfungsbereitschaft der Kommunisten unter die Weltauffassung einer liberalen Linken, die zugleich eine imperiale und neokoloniale Linke ist – man denke an die Kriminalisierung des Nationalstaats, den Export von »Demokratie und Menschenrechten« vermöge des Krieges, den Primat der negativen Freiheit gegenüber der positiven und gegenüber den Grundrechten … – der sicherste Weg, endgültig hinweggefegt zu werden.
Man wird dagegen zur Kenntnis zu nehmen haben, dass die Zeit der modernen Demokratie, also jenes historischen Regimes, das die politischen Rechte mit den ökonomischen und sozialen Rechten vereinte, für immer vorbei ist. Durch die Niederlage der lohnabhängigen Klasse ist die Einheit der Arbeitswelt, die die Voraussetzung des sozialen Ausgleichs der europäischen Gesellschaften wie der Demokratie war, zertrümmert worden. Damit begann eine neue Phase, in der die Privatisierung des Sozialstaates begleitet wurde von einer vollständigen Neubestimmung der Machtstrukturen und der Regierungs- bzw. Verwaltungskompetenzen auf nationaler und supranationaler Ebene. Noch haben wir nichts von dem gesehen, was sich noch ereignen könnte, und angesichts der dramatischen Kräfteverhältnisse, die eine weitere Offensive der herrschenden Klassen nahelegen, gibt es keine Abkürzungen mittels Wahlen, die eine strukturelle Krise verschleiern könnten.
Vereinen, was getrennt war, die Arbeitswelt auf der Basis eines fortschrittlichen und autonomen Projekts wieder zusammenführen, die Wiederherstellung einer Widerstandsfront der unteren Klassen: Dies wäre heute die Aufgabe der Linken und der Kommunisten, so sehr sie auch zur Zeit in etliche Splitter zerfallen sein mögen. Um das zu erreichen, wird es notwendig sein, unter veränderten Umständen und in neuen Formen denselben Weg einzuschlagen, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts beschritten wurde. Das bedeutet, anders gesagt, ein unterirdisches und verborgenes kulturelles, politisches wie gewerkschaftliches Engagement in den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen in Gang zu setzen, das Jahrzehnte dauern wird. Wohlwissend, dass im Rahmen einer Strategie des Rückzugs die Taktik eine ganz andere sein muss als jene »hegemoniale« während einer Aufstiegsphase. Und weil es nicht an uns ist, die Prozesse zu lenken, wäre jeder Kompromiss, der von der Unnachgiebigkeit abweicht – soll heißen von der Notwendigkeit einer grundlegenden Neubestimmung dessen, was heute »links« ist, indem man sich von der Mentalität des »kleineren Übels« klar abgrenzt – mitnichten gleichzusetzen mit taktischem Geschick oder Verantwortungsethik, sondern schlicht mit Unterwürfigkeit. Damit machte man sich angesichts der neoliberalen Hegemonie zum Komplizen einer bürgerlichen Restauration und wehrlos gegenüber dem Rechtspopulismus.
Aber auch diese Anstrengung wird zu nichts führen, wenn es letztlich nicht gelingt, den Begriff der Moderne neu zu interpretieren. Das heißt, von neuem jenes Versprechen des umfassenden Wohls und des Reichtums für alle zu verkörpern, ohne das die Kommunisten und Linken – im Unterschied zu dem, was in anderen Weltregionen geschieht, in denen der Sozialismus zum Glück noch immer der Name ist, der eine neue Welt verheißt – für immer als historische Relikte erachtet werden.
Anmerkungen
1 Der Partito Democratico della Sinistra (PDS) ging 1991 aus dem Partito Comunista Italiano hervor und verstand sich als moderate Linkspartei. 1998 entstanden die Democratici di Sinistra als Zusammenschluss des PDS mit einigen kleineren Linksgruppen, wie den Christsozialen, der Arbeiterpartei und den Vereinigten Kommunisten. Im Oktober 2007 gründete sich der Partito Democratico als Vereinigung von DS und der Partei La Margherita – einer Nachfolgepartei der ehemaligen christdemokratischen Regierungspartei Democrazia Cristiana.
2 Als »Subersivismus« der herrschenden Klassen bestimmte der italienische Marxist Antonio Gramsci die Neigung dominanter gesellschaftlicher Gruppen, bestimmte Regeln und demokratische Prozeduren zu missachten, um Minderheiten zu unterdrücken und die eigenen Machtpositionen zu verteidigen.
Wenn linke Parteien bürgerlichen Regierungen beitreten, stärkt das die politische Struktur der Kapitalherrschaft. Ein historischer Überblick und eine Warnung an Die Linke
Ekkehard Lieberam
Die Frage einer linken Regierungsbeteiligung im Rahmen einer sogenannten rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene wird inner- und außerhalb der Partei Die Linke seit geraumer Zeit diskutiert. Im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 und angesichts der neuen Berliner Koalition, die in dieser Woche ihre Arbeit begonnen hat, nimmt die Debatte nun wieder an Fahrt auf. Mit der Frage, was eine linke Regierungsbeteiligung außen- und innenpolitisch bedeutet, befasst sich auch das Podiumsgespräch der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2017 in Berlin. Unter dem Motto »Nach der Bundestagswahl 2017: NATO führt Krieg – die Linke regiert?« diskutieren dort der Vorsitzende der Partei Die Linke, Bernd Riexinger, Aitak Barani von der Stadtteilinitiative Zusammen e. V. (Frankfurt a. M.), die Sprecherin der Kommunistischen Plattform in der Partei Die Linke, Ellen Brombacher, und der Vorsitzende der Deutschen Kommunistischen Partei, Patrik Köbele. Die Redaktion veröffentlicht aus diesem Anlass in den kommenden Tagen an dieser Stelle Beiträge, die sich mit den Fallstricken vermeintlich linker Regierungen befassen. Der folgende, leicht gekürzte Text wird Ende des Jahres im Bulletin des »Geraer Sozialistischen Dialogs« erscheinen. (jW)
Innerhalb der Partei Die Linke erlebten wir in der letzten Zeit beim Thema Regierungsbeteiligung viel Verwirrendes und Erstaunliches. Die Frage des Mitregierens im Bund ist im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 zum Fixpunkt aller Diskussionen geworden. Zunächst, nach den enttäuschenden Ergebnissen der Landtagswahlen am 13. März 2016 in Sachsen-Anhalt (Die Linke verlor 7,2 Prozentpunkte) waren sich die meisten noch einig, dass es ein »Weiter so« nicht geben dürfe, dass man sich als Partei der Lohnabhängigen und besonders der Prekarisierten, als Friedens-, ja als systemverändernde Partei profilieren müsse. Der Magdeburger Parteitag im Mai 2016 orientierte auf Opposition. Einen Monat zuvor hatten die Kovorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger sogar in einem Papier zur »Revolution« aufgerufen: »Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie«. Ein »linkes Lager« im Parteiensystem gebe es nicht, hieß es da. Man müsse die »außerparlamentarischen Bewegungen stärken«.1
Dann war das alles vergessen. Bernd Riexinger sprach am 20. Juni vom bevorstehenden »Lagerwahlkampf gegen die Bürgerlich-Konservativen«.2 Katja Kipping meinte im ARD-Sommerinterview in der Sendung »Berichts aus Berlin« vom 31. Juli: »Wir wollen eine links-grüne Regierung, die einen Politikwechsel einleitet.« Gregor Gysi verlangte gemeinsame Beratungen mit der SPD. Bodo Ramelow mahnte, dass an der NATO-Frage eine Koalition mit SPD und Grünen nicht scheitern dürfe. Und in einem ersten Entwurf für die Wahlkampfführung im Jahr 2017 von Ende August, vorgelegt vom Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn, war seltsam inhaltsleer formuliert worden: »Wir wollen und wir werden regieren, wenn wir mit anderen Politik ändern können.«3 Der Bundesvorstand lehnte diesen Vorschlag dann überraschend mit einer Mehrheit von 60 Prozent selbst als Diskussionsgrundlage ab, ein seltener, wenn nicht gar einmaliger Vorgang in der 150jährigen deutschen Parteiengeschichte. Die dann am 4. Dezember angenommene Wahlkampfstrategie setzt nun stärker auf ein oppositionelles Profil, ohne eine Koalition mit SPD und Grünen auszuschließen.
Unbeirrt
Aber die Verfechter eines auf »R2G« (»Rot-Rot-Grün«) ausgerichteten Wahlkampfs ließen sich nicht beirren. Am 18. Oktober gab es einen »Trialog« von SPD, Linken und Grünen in Berlin. Etwa 30 Politiker der Linkspartei nahmen daran teil, auch Matthias Höhn. Man werde sich am 11. Dezember wieder treffen, »um über eine mögliche Koalition nach der Bundestagswahl zu sprechen«.4 Kurz vor dem ersten Advent kam dann die frohe Botschaft. Unter dem irritierenden Motto »Dem Trübsinn ein Ende« trafen sich am 26. November Dietmar Bartsch (Die Linke), Anton Hofreiter (Grüne) und Katarina Barley (SPD) in Leipzig und diskutierten mit knapp 300 Teilnehmern über eine »Machtoption rot-rot-grün«.5
In Mecklenburg-Vorpommern war Die Linke am 4. September nach einem aufs Regieren und die »Heimatliebe« ausgerichteten Wahlkampf mit 5,2 Prozentpunkten Verlust vom Wähler abgestraft worden. Das sorgte für Frust. Aber in Berlin, 14 Tage später, kam die Linkspartei auf das respektable Ergebnis von 15,6 Prozent der Zweitstimmen. Wieder war Mitregieren im Rahmen einer rot-rot-grünen Landesregierung angesagt. Eine Mitgliederbefragung stimmte dem in der vergangenen Woche mit fast 90 Prozent der abgegebenen Stimmen zu.
Bedenklich ist das Niveau der neuerlichen Regierungsbeteiligungsdebatte im Bund. Es wird so getan, als ob der Bundestag die Zentralachse der Politik wäre und die Macht aus den Wahlurnen käme. Die Hoffnung auf »Milderung des Neoliberalismus« oder gar auf einen »politischen Richtungswechsel« lässt vergessen, dass Herrschaft aus ökonomischer Macht erwächst und SPD sowie Bündnisgrüne nach wie vor zur »Agenda 2010« und zur Kriegsführung in aller Welt stehen. Schon wer die Umfragewerte zusammenzählt, müsste eigentlich wissen, dass es angesichts der voraussehbaren Mehrheitsverhältnisse im 19. Bundestag keine Mehrheiten für »R2G« geben wird.
Geradezu erschreckend aber ist die Geschichtsvergessenheit der Debatte. Es gibt in Deutschland und international eine Vielzahl von praktischen Erfahrungen mit dem Regieren von Linkssozialisten und Kommunisten in bürgerlichen Staaten. PDS und Linkspartei regierten selbst seit 1998 in vier Bundesländern mit. Weder die historischen noch die jüngsten Erfahrungen spielen jedoch in der aktuellen Debatte eine merkliche Rolle. Diskutiert wird gern über Details der Koalitionsvereinbarungen. Strategische Fragen aber werden verdrängt. Die »Integrationsfalle Mitregieren« hat Geschichtsvergessenheit nachgerade zur Voraussetzung. Denn die international negative Bilanz von Linksregierungen würde sonst stören. Sie ist deshalb auch kein Thema. Kritische Analysen der Regierungspraxis seitens der Parteiführung in Ländern wie Thüringen und Brandenburg gibt es nicht. Dabei behauptet sich angesichts der geschichtlichen und der jüngsten Erfahrungen Rosa Luxemburgs Sentenz vom Ende des vergangenen Jahrhunderts: »Wild nicht erlegt und die Flinte zugleich verloren«.6
Millerands Sündenfall
Historisch gesehen begann alles mit dem Eintritt des französischen Sozialisten Alexandre Etienne Millerand am 22. Juni 1899 als Handelsminister in das Kabinett von Pierre Waldeck-Rousseau, dem mit General Gaston de Galliffet sogar einer der Schlächter der Pariser Kommune angehörte.
Die unmittelbar danach in der SPD und in den anderen Parteien der Sozialistischen Internationale begonnene Auseinandersetzung um Sinn und Unsinn des Millerandismus bzw. Ministerialismus war eine heftige und gescheite Debatte. Der Internationale Sozialistenkongress von 1900 in Paris und auch noch der von 1904 in Amsterdam beschäftigten sich mit der Regierungsfrage. An der Debatte beteiligten sich in Deutschland besonders August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Karl Kautsky. Der Kongress in Paris nahm die »Resolution Kautsky« an, in der der Eintritt von Sozialisten in eine bürgerliche Regierung als »Notbehelf« bezeichnet und von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht wurde. Beim Kongress in Amsterdam wurde in Übereinstimmung mit einem Beschluss des Dresdener SPD-Parteitages von 1903, festgelegt, dass die Sozialdemokratie »einen Anteil der Regierungsgewalt in einer bürgerlichen Regierung nicht erstreben kann.«7
Diese Debatte der SPD ab 1899 war eine Prinzipiendebatte einer marxistischen Partei. Erkannt wurde, dass Mitregieren ohne Verluste sozialistischer Grundsätze in aller Regel nicht zu haben ist. Es ging um den Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstrategie (Eroberung der politischen Macht, sozialistisches Endziel) und der Regierungsfrage und damit um tragfähige programmatische Positionen. Erstaunlich sind aus heutiger Sicht die Prognosekraft wie auch die Aktualität der damals formulierten Grundsätze. Es sind vor allem vier Erkenntnisse, die unsere Aufmerksamkeit verdienen:
Zum einen ist dies die Aussage von Wilhelm Liebknecht in seinem Brief an die französische Arbeiterpartei vom 10. August 1899: »Ein Sozialist, der in eine Bourgeoisieregierung eintritt, geht entweder zum Feind über, oder er gibt sich in die Gewalt des Feindes. In jedem Fall trennt ein Sozialist, der Mitglied einer Bourgeoisieregierung wird, sich von uns, den kämpfenden Sozialisten.«8
Zum anderen gehört zu den damals formulierten und heute noch beachtenswerten Positionen der Satz von Rosa Luxemburg: »In der bürgerlichen Regierung ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.«9
Diese Position ist keineswegs veraltet. Grundsätzlich gilt: Als Opposition trägt eine kommunistische oder linkssozialistische Partei dazu bei, Gegenmacht und Gegenöffentlichkeit zu entwickeln; als regierende Partei stärkt sie fast unweigerlich die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse.
Weiterhin ist hochaktuell, was Rosa Luxemburg seinerzeit zum Verhältnis von Regieren und eigenen Grundsätzen sagte: Die Taktik finde ihre Grenze dort, wo sozialistische Prinzipien in Frage gestellt werden.10
Außerhalb dieser Grenzen, kann es keine Taktik und so auch kein Mitregieren geben. Eine Anerkennung etwa der »Sozialpartnerschaft«, der Schuldenbremse und der Kriminalisierung der DDR als »Unrechtsstaat« wie in der Thüringer Koalitionsvereinbarung vom Dezember 2014 durch Die Linke ist prinzipienwidriges Taktieren. Infolgedessen gehen dann »beim Regieren selbst« weitere eigene Grundsätze (Verteidigung der demokratischen Rechte gegen den Verfassungsschutz oder Ablehnung von Entlassungen im Öffentlichen Dienst) sukzessive den Bach herunter.
Eine bedeutende Ausnahme
Schließlich nennt Rosa Luxemburg eine wichtige Ausnahme von der Regel einer Ablehnung der Regierungsbeteiligung: Es gäbe »Augenblicke«, wo eine solche als »notwendig erschiene«. Das sei namentlich der Fall, wo es sich um »die demokratischen Errungenschaften, wie die Republik, handelt«.11
Natürlich verlangt nicht jede Bedrohung demokratischer Errungenschaften eine Aufgabe der Oppositionsrolle. Rosa Luxemburgs Hinweis gilt bei außergewöhnlichen Bedrohungen. Es gehört zu den politischen Fehlern der KPD, dass sie gemäß den Weisungen aus Moskau in der Endphase der Weimarer Republik dies im Kampf gegen den Nazifaschismus nicht berücksichtigte. Sie erklärte die SPD-Führung zum Feind, obwohl die Aufgabe anstand, mit Sozialdemokraten (auch mit den führenden) und bürgerlichen Demokraten entschlossen und gemeinsam die Übertragung der Macht an die Nazipartei zu verhindern. In Frankreich setzte die Kommunistische Partei ab 1934 auf eine Volksfrontpolitik mit den Sozialisten und Radikalen. Sie unterstützte das am 6. Juni 1936 gebildete Kabinett der Sozialisten und der Radikalen Partei unter Leon Blum, beteiligte sich aber nicht an ihr mit eigenen Ministern. In Spanien kam es nach dem Ausbruch des Krieges im September 1936 zu einer Volksfrontregierung, der erstmals auf nationaler Ebene in einem bürgerlichen Staat Mitglieder der Kommunistischen Partei angehörten. In beiden Ländern gelang es mit dieser Politik, den Vormarsch der Faschisten eine Zeitlang aufzuhalten.
Am 9. November 1918 übertrug Reichskanzler Max von Baden, mit Verweis auf eine entsprechende Absicht von Wilhelm II., die Regierungsgewalt an Friedrich Ebert als neuen Reichskanzler. Als Revolutionsregierung wurde der Rat der Volksbeauftragten gebildet, dem jeweils drei Vertreter der SPD und der USPD angehörten. Er bezeichnete sich selbst als »rein sozialistisch« und formulierte als Aufgabe, nunmehr »das sozialistische Programm zu verwirklichen«12 Unter Karl Kautsky setzte die Regierung am 24. November eine Sozialisierungskommission ein. Karl Liebknecht wurde aufgefordert, in den Rat der Volksbeauftragten einzutreten. Man wollte seine Autorität nutzen. Liebknecht lehnte ab, worauf noch einzugehen ist.
Geschaffen war so das Grundmuster, um eine Regierungsteilnahme von links zu rechtfertigen: Es ist die Verheißung, damit beginne der Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaft bzw. (heute) hin zu einer »sozialen Gesellschaft« oder zu einem politischer Richtungswechsel weg vom Neoliberalismus.
Friedrich Ebert ließ Armee, Justiz und Beamtenapparat unangetastet und schloss am 10. November ein geheimes Abkommen mit dem Chef der Obersten Heeresleitung im Kampf gegen die Revolution. Der Sozialismus kam nicht, er wurde verhindert. Man betrieb in einer Revolution, die das Potential in sich hatte, von einer bürgerlich-demokratischen in eine sozialistische hinüberzuwachsen, Herrschaftssicherung unter linker Flagge. Ab Februar 1919 war Gustav Noske Reichskriegsminister. Die Revolution wurde militärisch niedergeschlagen.
Wichtige Lehre
Zu den wichtigen Lehren der deutschen Novemberrevolution gehört, dass Regieren durch »Sozialisten« in der Regel mit Machtveränderung zugunsten der Lohnarbeiter in Richtung Sozialismus nichts zu tun hat. Mitregieren ist in der Hauptsache eine Integrationsfalle. Wenn eine sozialistische oder kommunistische Partei in diese hineintappt, dann verstärken sich Anpassung und Fügsamkeit. Die Interessen ihrer Führungsschicht verbinden sich mit den Interessen der Konzerne und Banken, die Parteiführung selbst wird allmählich eine politische Struktur der Kapitalherrschaft. In einem längeren geschichtlichen Prozess des Hin und Her (bedingt durch Konflikte zwischen den Interessen der Führungsgruppe und den entgegengesetzten Klasseninteressen der Basis) kommt es zunächst zur Einordnung der Führung und dann der Gesamtpartei in das System kapitalistischer Klassenherrschaft. Dieser Prozess erstreckte sich bei der SPD über Jahrzehnte bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aus einer sozialistischen Prinzipienpartei wurde eine Organisation, die die Denkschemata und die Freund- und Feindbilder der Herrschenden vollkommen übernahm, die sich unter Gerhard Schröder mit der »Agenda 2010« geradezu als Rammbock des Neoliberalismus betätigte – wobei in Teilen der Führung, vor allem aber an der Basis und bei den Jungsozialisten jeweils mit unterschiedlicher Ausprägung noch vage Erinnerungen an das einstige sozialistische Programm existieren.
Rosa Luxemburg hatte grundsätzlich die Möglichkeit verneint, in eine Regierung einzutreten bevor der bürgerliche Staat in Trümmern liegt. In den ersten Tagen der Novemberrevolution lehnte Karl Liebknecht den Eintritt in den Rat der Volksbeauftragten ab. Er stellte Bedingungen wie die Übertragung der Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte. Ebert und die SPD-Vertreter stimmten nicht zu. Liebknecht folgte dem Konzept Lenins vom Oktober 1917: »Keine Unterstürzung der Provisorischen Regierung. Alle Macht den Sowjets«. Die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets im Rahmen einer Doppelherrschaft hatte in Russland, gestützt auf die revolutionären Massen, zum Sturz der Provisorischen Regierung und zur Errichtung der Sowjetmacht geführt. In Deutschland war das gleiche Konzept 1918 nicht erfolgreich. Der Einfluss der revolutionären Kräfte in der Arbeiterbewegung war schwächer; die politischen Reserven der Konterrevolution größer.
Die Kommunistische Internationale gab auf ihrem IV. Weltkongress im November/Dezember 1922 die Losung der Arbeiterregierung aus. Sie ging davon aus, dass in der nach ihrer Einschätzung begonnenen vorrevolutionären Situation in einigen Ländern die Machteroberung mit der Schaffung einer Einheitsfront und mit Arbeiterregierungen aus Kommunisten und linken Sozialdemokraten auf neue Weise mit der Regierungsfrage verbunden werden müsse.
In Deutschland orientierte die KPD auf den Sturz der Reichsregierung unter Wilhelm Cuno und die Bildung einer solchen Regierung. Der 8. Parteitag der KPD (unter dem Vorsitz Heinrich Brandlers) stimmte dem Ende Januar 1923 mit Zweidrittelmehrheit zu. In der entsprechenden Resolution hieß es: »Die Arbeiterregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiterklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben.«13
Im Oktober 1923 bildeten sich in Thüringen und Sachsen Regierungen mit jeweils zwei Ministern der KPD. Sie bestanden nur 27 bzw. 19 Tage. Die Reichsregierung setzte sie mittels Artikel 48 der Weimarer Verfassung ab und ließ die Reichswehr einmarschieren. Der Plan der Kommunistischen Internationale, das vorhersehbare militärische Eingreifen der Reichswehr mit einem Generalstreik zu beantworten und so eine Revolution auszulösen, schlug fehl. Die Überlegungen von Heinrich Brandler und seiner Anhänger aber gingen offensichtlich weiter: eben gestützt auf revolutionäre Massenbewegungen in der Regierung im Rahmen der bürgerlichen Demokratie real Arbeiterpolitik zu machen und dabei den Weg zum Sozialismus zu öffnen.
An dieses Konzept knüpfte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von kommunistischen und linkssozialdemokratischen Parteien an, zumeist unter den Losungen der Linksfront und der Linksregierung. Es gab in Europa (abgesehen von Regierungsbeteiligungen von 1945 bis 1947) derartige Versuche zu verschiedenen Zeiten, unter sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kräftekonstellationen in acht Ländern: in Finnland, Frankreich, Zypern, Schweden Norwegen, Dänemark, Italien und Griechenland.
Gefahr der Sozialdemokratisierung
Die Erfahrungen sind überwiegend negativ. In Italien kam es zu einer Sozialdemokratisierung der Kommunistischen Partei, die sich umbenannte und voll in den bürgerlichen Politikbetrieb einordnete. Die Partei der Kommunistischen Neugründung (Partito della Rifondazione Comunista), die sich 1991 konstituierte, beteiligte sich ab 1996 zweimal an Regierungen. Sie scheiterte danach an den Sperrklauseln (vier bzw. acht Prozent) und ist heute in beiden Kammern des Parlaments nicht mehr vertreten. In Griechenland versprach Alexis Tsipras nach Bekanntwerden des Wahlsieges am Abend des 25. Januar 2015, Griechenland lasse damit »das Spardiktat und die Angst« hinter sich, eine angesichts der festgefügten Kapitalherrschaft in der EU absurde Illusion. Von damals 36,5 Prozent der Wahlstimmen blieben bei Umfragen im September 2016 gerade einmal noch 17,5 Prozent übrig. Für die linken Parteien in den skandinavischen Ländern Vertreter in die Exekutive entsandten, gilt: »Schlechte Erfahrungen mit Regierungsbeteiligungen lösen kaum politikwirksame Lernprozesse oder gar Mobilisierungseffekte von unten, sondern eher Resignation und weitere Anpassung aus.«14
Differenzierter sind die Ergebnisse der Linksregierung in Frankreich nach dem Sieg von François Mitterand bei den Präsidentschaftswahlen am 10. Mai 1981 zu bewerten. Im ersten Halbjahr der am 23. Juni 1981 gebildeten Linksregierung, der auch vier Kommunisten als Minister angehörten, gab es nicht nur Versprechungen, sondern tatsächlich Eingriffe in die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und wichtige Reformen im Interesse der Lohnabhängigen. 39 Banken und fünf große Konzerne wurden verstaatlicht. Die Rechtstellung der Arbeiter und der Gewerkschaften in den Betrieben wurde deutlich verbessert. Und es wurden substantielle soziale Verbesserungen für die Lohnabhängigen durchgesetzt: 39-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich, Erhöhung des Mindestlohnes um 20 Prozent, Absenkung des Rentenalters auf 60 Jahre. In der Außen- und Militärpolitik allerdings, die in den Händen von Mitterrand lag, blieb alles wie bisher.
Aber bereits nach einem halben Jahr kamen die Reformen zum Stillstand. Mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen setzte die Kapitalistenklasse die Linksregierung unter Druck. Ihre Waffen waren Kapitalflucht, Investitionsverweigerung und Pressekampagnen. Hinzu kamen die Auswirkungen einer zyklischen Wirtschaftskrise, einschließlich rapide steigender Arbeitslosenzahlen. Auch die Finanzmärkte setzten die französische Regierung massiv unter Druck. Die Linksregierung ging schon 1982 zu einer Politik der Steuererleichterungen für das Kapital über. Die Vertreter der Kommunistischen Partei blieben dennoch in der Regierung und blockierten sogar Demonstrationen gegen diese Politik. Die Kommunistische Partei verlor daraufhin drastisch an Einfluss. 1981 hatte sie bei den Parlamentswahlen noch 16,1 Prozent der Stimmen erhalten, 2012 im Rahmen des »demokratischen und republikanischen Bündnisses« waren es nur noch 6,9 Prozent.
Notwendigkeit harter Opposition
Die Regierungsfrage ist auch heute historisch-konkret zu beantworten. »R2G« im Bund wäre eine politische Großkatastrophe für die Linken. Bereits die Beispiele aus jüngster Zeit in Italien und Griechenland legen nahe, dass seit geraumer Zeit in Europa Mitregieren politisch geradezu tödlich sein kann. Die Erfahrungen der PDS und der Linken in den Regierungen ostdeutscher Bundesländer bestätigen dies. In den Landesregierungen haben sich deren Minister und Staatssekretäre von entscheidenden Grundsätzen ihrer Partei verabschiedet. Im Ergebnis verliert Die Linke nicht nur an politischem Profil, sondern auch an Stimmen. Selbst in Thüringen mit ihrem nach wie vor populären Ministerpräsidenten Bodo Ramelow hat sie nach Umfragen im November gegenüber dem Wahlergebnis vom 14. September 2014 (29,2 Prozent) mit 23 Prozent gut sechs Prozentpunkte verloren.
Das weitere Schicksal der Linkspartei ist schwer zu prognostizieren. Ist der Anpassungskurs erst einmal eingeschlagen, lässt er sich nur schwer wieder umkehren. Für das nächste Jahr ist es daher besonders wichtig, dass Die Linke zumindest das Theater um »R2G« im Bund beendet und den Bundestagswahlkampf als Kampf um eine linke Alternative zur neoliberalen Politik führt.
Anmerkungen:
1 Katja Kipping/Bernd Riexinger: Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie, http://t1p.de/5j9q
2 N-TV, Kurznachrichten vom 20.6.2016, AFP
3 Strategischer Ansatz für die Bundestagswahl 2017. Wahlstrategie, Stand 12.9.2016, S. 3
4 Michael Merz: Rendezvous in Szene gesetzt, junge Welt, 20.10.2016
5 Aert von Riel: Große Koalition hat sich erschöpft, Neues Deutschland, 28.11.2016
6 Rosa Luxemburg, Possibilismus und Opportunismus, Sächsische Arbeiterzeitung, 30.9.1898
9 Rosa Luxemburg: Eine taktische Frage, Leipziger Volkszeitung, 6.7.1899
10 Vgl. Rosa Luxemburg: Die badische Budgetabstimmung 1901, in: dies.: Gesammelte Werke, Band 1, 2. Halbband, Berlin 1970, S. 78
11 Luxemburg: Eine taktische Frage, a.a.O.
12 Regierungsprogramm des Rates der Volksbeauftragten, 12. November 1918, zit. n.: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, Berlin 1966, S. 494
13 Zit. n.: ebd., S. 650
14 Edeltraut Felfe: Wenn nicht gewagt wird, das Kapital anzugreifen …, in: Gleiss Thies/u.a. (Hg.): Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden. Die Linke und das Regieren, Köln 2016, S. 126
Die XXII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz findet am 14. Januar 2017 im Mercure Hotel MOA, Stephanstr. 41, 10559 Berlin, statt. Das Motto der diesjährigen Veranstaltung lautet: »Gegen rechts ist nicht genug. Sozialistische Alternativen erkämpfen.« junge Welt wird die Veranstaltung mit diesem Blog begleiten.
Schwerpunkt der Veranstaltung sind Vorträge und Diskussionen zu Erfahrungen, Analysen und Aktivitäten linker Bewegungen und Parteien weltweit sowie der Austausch zu Entwicklungen und politischen Kämpfen in Deutschland. Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz treffen sich regelmäßig mehr als 2000 Menschen unterschiedlicher Herkunft und jeden Alters, um über linke Theorie und Politik, Geschichte und Gegenwart antiimperialistischer Bewegungen und Perspektiven gesellschaftlicher Veränderungen zu diskutieren.
Da wir nicht mehr garantieren können, dass online bestellte Eintrittsbänder für die Konferenz die Käufer auf dem Postweg rechtzeitig erreichen, sind seit dem 4. Januar über unsere Internetseite nur noch Reservierungen möglich (hier klicken). Reservierte Eintrittsbänder müssen am Tag der Konferenz bis 10.30 Uhr an der Tageskasse abgeholt werden, sonst werden sie wieder für den Verkauf freigegeben.
Der Vorverkauf läuft weiter in der Ladengalerie der Tageszeitung jungen Welt, Torstraße 6, 10119 Berlin. Hier können Sie noch bis Freitag, den 13. Januar 2017, Eintrittsbänder erwerben. Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag von 11 bis 18 Uhr, Freitag von 10 bis 14 Uhr. Auch an der Tageskasse werden am Konferenztag noch Restkarten verfügbar sein. Die Tageskasse öffnet am 14. Januar 2017 um 10.00 Uhr.
Für eine Welt ohne Ausbeutung, Verdummung und Krieg
Am kommenden Wochenende findet in Berlin die XXII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz der Tageszeitung junge Welt statt, die von über 30 linken Gruppen und Medien unterstützt wird. In diesem Jahr werden einige Routinen durchbrochen, so stellt der neue Veranstaltungsort im Konferenzkomplex des Mercure Hotel MOA in Moabit eine große Herausforderung dar. Der Ort bietet mehr Platz, weshalb mehr Besucher als je zuvor an den Vorträgen und Diskussionen teilnehmen können. Und das ist auch gut so, denn der bisherige Vorverkauf lässt auf eine sehr gut besuchte Konferenz schließen. Einlassbänder im Vorverkauf gibt es noch in der jW-Ladengalerie und am Veranstaltungstag an der Tageskasse zu kaufen. Bestellungen über den jW-Shop können wir jedoch nicht mehr entgegennehmen, da ein rechtzeitiger Versand nicht mehr zu garantieren ist. Reservierungen sind noch online unter www.rosa-luxemburg-konferenz.de möglich, reservierte Bänder müssen am Veranstaltungstag bis spätestens 10:30 Uhr an der Tageskasse abgeholt werden.
Die Herausforderung besteht auch darin, dass diese Konferenz in einer politisch sehr komplizierten Zeit stattfindet. Deshalb wird mit besonderer Spannung die Podiumsdiskussion gegen 18.00 Uhr erwartet, in der eingeschätzt werden soll, ob eine Beteiligung der Partei Die Linke an einer Bundesregierung dem Fortschritt oder der Reaktion den Weg bereitet. Die schwierigen Zeiten drücken sich aber auch in dem Umstand aus, dass unsere internationalen Referentinnen und Referenten mehr als sonst von Repression bedroht sind. Arnaldo Otegi aus dem Baskenland etwa, der bereits aus politischen Gründen viele Jahre inhaftiert war, wurde erst vor kurzem die Teilnahme an Wahlen verweigert. Der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas aus der Türkei ist kurz nach seiner Einladung zur Konferenz von Erdogan-Schergen verhaftet worden – trotzdem werden ein hochrangiges Mitglied der HDP und Demirtas selbst zu Wort kommen. Auch Mumia Abu-Jamal wird seine Grußadresse wieder direkt aus dem Knast an die Konferenzteilnehmer richten, seine Freilassung konnte noch nicht erkämpft werden. Gegen unseren Gast aus Brasilien, den linken Parlamentsabgeordneten Jean Wyllys, läuft ein Verfahren, weil er einen faschistischen Folterer unbotmäßig behandelt haben soll. Auch unser Referent aus Kolumbien, ein Vertreter der FARC-EP, der ältesten und aktivsten Guerilla-Organisationen Lateinamerikas, kann sich nicht ohne weiteres frei bewegen – auch wenn seine Organisation mittlerweile von der Terrorliste des Europäischen Parlaments gestrichen wurde. Für Referenten wie Besucher werden jedenfalls erhöhte Sicherheitsstandards eingerichtet als sonst, auch das stellt für uns eine besondere Herausforderung dar.
Aber auch diese Konferenz wird beweisen: Trotz Repression und Desinformation, trotz des Vormarsches rechter Gesinnung sind jene, die für eine Welt ohne Ausbeutung, Verdummung und Krieg stehen, und jene, die sich für eine sozialistische Gesellschaft stark machen, nicht aufzuhalten. Und es sind nicht wenige! Neben Analyse und Information aus erster Hand, linker Gegenkultur und vielen Kontakten sind es gerade diese Erfahrungen, die die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz zu einer so unvergleichlichen Veranstaltung machen. Auch deshalb ist das gemeinsame Singen der Internationale gegen 20 Uhr nach der Podiumsdiskussion einer der Höhepunkte der Konferenz.
Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz gehören Politik und Kultur eng zusammen
In 14 Tagen findet die XXII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz statt – in politisch sehr bewegten Zeiten. Unsere Referentinnen und Referenten kommen von drei Kontinenten, nicht wenige von ihnen sind von Freiheitsentzug und schlimmerem bedroht. Die Konferenz ist schon deshalb ein konkreter Akt der internationalen Solidarität. Der Vorverkauf der Einlassbänder läuft noch bis 3. Januar. Es empfiehl sich, diesen zu nutzen. Danach gibt es diese nur noch in der Ladengalerie und an der Tageskasse. Reservierungen werden weiter entgegengenommen, die Bänder müssen dann aber rechtzeitig an der Tageskasse abgeholt werden.
Neben den Hauptreferaten gibt es wieder ein umfangreiches Begleitprogramm, eine Kunstausstellung und zahlreiche Buch- und Infostände von Organisationen und Verlagen. In diesem Jahr spielt die Filmkunst eine hervorgehobene Rolle: Gian Paolo Picchiami, Leadsänger der legendären Banda Bassotti aus Italien, stellt den aktuellen Film »Banda Bassotti – La brigata internazionale« vor. Über die Begegnung von Moshe Zuckermann aus Israel, der antifaschistischen Musikerin Esther Bejarano und dem Schauspieler Rolf Becker sowie ihre Gespräche über jüdische Welten liegt ein beeindruckender Dokumentarfilm vor, Auszüge werden den Konferenzteilnehmern gezeigt, noch vor der Premiere am 2. Februar in der jW-Ladengalerie. Volker Külow und Wladislaw Hedeler berichten über Pläne für das zweite Lenin-Buch im Verlag 8. Mai GmbH: Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution soll Lenins »Staat und Revolution« neu ediert werden.
Musik kommt auch nicht zu kurz: Heinz Ratz von der Band Strom & Wasser erzählt über sein gemeinsam mit Konstantin Wecker initiiertes »Büro für Offensivkultur«. Mit seinem Gitarristen Ruben Röh lädt er zu einem kleinen Konzert ein. Der chilenische Ausnahmekünstler Nicolás Miquea diskutiert mit M&R-Chefredakteurin Susann Witt-Stahl über Rechtsentwicklung in der Kultur. Auch er wird auf der Konferenz seine energischen Lieder gegen den Trend setzen. Der Schauspieler Rolf Becker stellt den uruguayischen Musiker Daniel Viglietti vor, der am 25. Februar bei der großen Festveranstaltung zum 70jährigen Jubiläum der Jungen Welt in Berlin auftreten wird. Nach der Podiumsdiskussion lassen wir die Veranstaltung kraftvoll ausklingen, wenn die Konferenzgäste gegen 20 Uhr gemeinsam die Internationale singen.
Wer dann immer noch weitermachen will, kann die Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Veranstaltung der DKP am gleichen Ort besuchen – oder sich auf Mojito bei kubanischer Livemusik des Proyecto Son Batey freuen.
Weil die Linken zerstritten sind, gibt es jetzt das »Büro für Offensivkultur«. Heinz Ratz stellt es auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz vor. Ein Interview
Christof Meueler
Bevor Sie Musiker wurden, waren Sie Schriftsteller?
Bin ich immer noch. Ich komme ja von der Literatur. Aber auf Dauer ist es langweilig, in der Stadtbücherei vor sechs älteren Damen zu lesen, wenn du Anfang 20 bist. Deshalb hab’ ich mit 25 angefangen, Musik zu machen. Ich hab’ mir das Bass-Spielen selber beigebracht und auch Gitarre und dann meine Gedichte vertont. Das ist bis heute so: erst der Text, dann die Musik.
Und irgendwann haben Sie mit Extremsport angefangen, für die Politik.
Das war 2008, der »moralische Triathlon«. Ich bin 1.000 Kilometer durch Deutschland zu Fuß gelaufen, für Obdachlose. Und d+ann bin ich 1.000 Kilometer in Flüssen geschwommen, für den Artenschutz. Schließlich bin ich 7.000 Kilometer geradelt, für die Flüchtlinge. Zum Abschluss eines solchen Tages gab es immer ein Konzert.
Wahnsinn.
Genau.
Wie kamen Sie auf diese Idee?
Ich kam darauf, weil ich was verändern wollte. Oder zumindest das Angebot machen wollte, bestimmte Sachen zu diskutieren. Aber weil ich zu unbekannt bin, dachte ich, dass ich etwas Spektakuläres machen muss, damit man darüber berichtet. Denn wenn die Medien sich dafür interessieren, dann kommt die Politik über das Hintertürchen rein.
Das hat funktioniert?
Ja, schon. Auf einem gewissen Undergroundlevel, denn es hat sich ja nichts wirklich verbessert, aber die Aufmerksamkeit habe ich auf jeden Fall gekriegt.
Was war am anstrengendsten?
Das Schwimmen war logistisch die größte Herausforderung, ich hatte riesige Schwimmstrecken von 20, 30 Kilometern pro Tag. Vorher hatte ich mir nur einen Diercke-Atlas angeschaut, mit Maßstab 1: 250.000. Da sah das alles nicht so schlimm aus. Ich hatte das nicht groß geplant, sondern bin einfach reingesprungen.
Doch insgesamt gesehen war das Fahrradfahren am mühsamsten. Ich habe die Flüchtlingsheime besucht, und die Flüchtlinge dachten, da kommt einer, der ist Musiker, der kann uns helfen. Ich wurde jeden Tag haufenweise mit Problemen konfrontiert, die ich gar nicht lösen konnte. Das war sehr belastend. Aber die Flüchtlinge sind mit mir und der Band aufgetreten und bekamen so eine Stimme. Und dann ging es los mit täglichen Polizeikontrollen, den ganzen Ängsten und Vorschriften der Behörden. Manche Flüchtlinge standen kurz vor der Abschiebung. Wir waren ständig im Kontakt mit Anwälten. Trotzdem war das Thema sehr schwer in die Presse zu bekommen, es interessierte kaum jemanden. Aber dann machte die BBC eine halbe Stunde einen Bericht und plötzlich waren wir in den »Tagesthemen«. Und es kamen Fernsehteams aus Südkorea, Brasilien und den USA, die uns filmten. Schließlich bekam ich 2012 noch die Integrationsmedaille der Bundesregierung.
So etwas gibt es?
Ja, die Grünen hatten mich vorgeschlagen. Zuerst wollte ich ablehnen, weil ich dachte, von einer Regierung, die diese Politik gegen die Flüchtlinge macht, kann ich das nicht annehmen. Gleichzeitig war mir aber klar, dass ich dadurch a) konkreten Schutz für die Flüchtlinge habe, die mit mir spielen, weil man die danach nicht mehr so einfach abschieben kann, und dass ich es b) schaffe, trotz meines anarchistischen Hintergrunds in die berühmte Mitte der Gesellschaft zu kommen. Also habe ich die Medaille aus strategischen Gründen angenommen. Tatsächlich haben wir dann vor dem Verfassungsgericht gespielt oder vor der rheinland-pfälzischen Regierung, und es dabei geschafft, Ärzte und Rechtsanwälte, die diese Konzerte besuchten, mit in die Lager zu nehmen, damit sie sich um die Flüchtlinge kümmern. Deutschland ist halt so, das Bürgertum ist die entscheidende politische Kraft.
Hat man sich im sogenannten Flüchtlingssommer 2015 auch an Sie gewandt?
Wir haben uns da bewusst rausgehalten, weil viele Leute, die unsere politischen Gegner waren, sich auf einmal aus reinen PR-Gründen als Flüchtlingsfreunde auftraten. Das war total verlogen. Interessanterweise wurden diejenigen, die jahrelang mit den Flüchtlingen gearbeitet haben, gar nicht mehr angehört, sondern nur irgendwelche selbsternannten Experten. Auf einmal gab es ja viele Gelder zu verteilen, und jeder hat irgendwelche Projekte gemacht, um die abzugreifen. Das war zum Grausen. Da wollte ich nicht mitmachen. Wir spielen mit den geflüchteten Musikern nur, wenn man uns wirklich braucht. Das Projekt war sozusagen im Schlafmodus.
Und jetzt kommt das »Büro für Offensivkultur«, das Sie kürzlich mit Konstantin Wecker gegründet haben.
Zwischendurch war ich etwas politikmüde. Ich habe ein Theaterstück mit 13 alten Autos geschrieben und aufgeführt, die »Kieler Blechmusikanten« und ein Projekt begonnen, für das ich in europäische Städte gefahren bin, um mit Musikern und Künstlern vor Ort zusammenzuarbeiten, um den kulturellen Reichtum, nicht den ökonomischen, zu betonen. Denn ich hatte mich sehr darüber geärgert, wie mit Griechenland umgesprungen wurde. Ein Album mit diesem Konzept ist schon erschienen: »Reykjavik«. Nächstes Jahr geht es nach Bilbao.
Und dann habe ich mir überlegt, was kann für mich heute eine sinnvolle politische Arbeit sein? Auf der einen Seite hab’ ich gesehen, wie mir Hunderte Menschen bei den Projekten geholfen haben, auf der anderen Seite gibt es jetzt diese ganze rechte Gewalt von Pegida bis AfD. Wie soll man reagieren? Zumal die linke Szene seit langer Zeit zerstritten ist, weil die Leute wegen Kleinigkeiten nicht zusammenarbeiten wollen. Konstantin Wecker ist davon genauso genervt wie ich. Er sagt, das war in den 70er Jahren schon so, und in den 80ern hat er erlebt, wie sich die Friedensbewegung aufgelöst hat.
Also dachte ich mir, man muss unabhängig und mobil sein. Dann könnte man den engagierten Leuten vor Ort, vor allem in den ländlichen Gebieten, helfen, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, indem man prominente Künstler dort auftreten lässt, Spenden sammelt und die Politik dafür interessiert. Weil ich so viele Kontakte habe, sowohl zur Basis als auch zu den Künstlern, die mir vertrauen, könnte ich der ideale Klebstoff sein, um das hinzukriegen, glaube ich. Organisieren kann ich jedenfalls.
Dieses Büro ist also in Ihrem Wohnzimmer?
Im Moment ja. Eigentlich bräuchte man eine Person dafür als Vollzeitkraft. Und ein gewisses Budget für Reisekosten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung will das Projekt nicht unterstützen. Wir kriegen das aber schon hin, auch ohne die. Die notwendigste Arbeit ist die Aktivierung unserer Kontakte.
Haben Sie keine Angst vor dem Burnout-Syndrom?
Ich lass’ mich nicht drängen. Alle fragen uns: Wann geht’s denn los? Und ich sage immer: Ein starker Baum wächst langsam.
Sind Sie Sportler, oder wurden Sie zwangsweise einer, aus politischen Gründen?
Ja, wieder. Als junger Mann habe ich sehr viel Sport getrieben. Als ich die Kunst und die Literatur entdeckt hab’, hörte ich schlagartig damit auf. Ich hab’ dann über die Politik wieder zum Sport gefunden, wusste aber noch, wie ich mit körperlichen Belastungen umgehen muss. Das war auch meiner Gesundheit förderlich.
Viele Popmusiker neigen eher dazu, rauschhaft Party zu feiern.
Das war bei mir nie so. Wir sind als Band sehr diszipliniert. Unser Saxophonist ist ein großer Freund des Rotweins, aber wir anderen sind ...
… fit wie die Turnschuhe?
Ja, wir sind solide Typen. Das merken wir immer, wenn wir mit anderen Bands zusammenspielen. Was da immer abgeht, und wir, wir gehen früh ins Bett.