Hamburg empfing am 7. und 8. Juli 2017 Staatschefs und Vertreter der EU zum G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Sie erwartete eine große und kreative Protestbewegung.
Vor zehn Jahren trafen sich die Regierungschefs der G-8-Länder in Heiligendamm und wurden durch Tausende Demonstranten gestört
Markus Mohr
Am alten Seebadeort Heiligendamm in der Mecklenburger Bucht trafen sich vor zehn Jahren acht Staatschefs, von denen es heißt, es seien die wichtigsten der Welt. Wollte man den Grund ihrer Zusammenkunft ein wenig verkürzt und etwas überspitzt, aber beileibe nicht falsch angeben, müsste man sagen: Sie kamen zusammen, um über die Aufrechterhaltung der globalen Ausbeutung zu beratschlagen. Das Gipfeltreffen der informellen »Gruppe der acht« (Russland ist aus dem Klub wegen ungebührlichen Betragens, nämlich Grenzverschiebung, mittlerweile ausgeschlossen worden) wertete die Gastgeberin Angela Merkel damals als »Erfolg«. In Erinnerung geblieben ist ein Foto, aufgenommen am 7. Juni 2007, das acht Männer und eine Frau zeigt, die in einem Strandkorb sitzen und lachen – weniger oder vielmehr gar nicht hingegen, was dort genau besprochen wurde.
Die Proteste, die sich gegen die Staatenlenker aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Russland und den Vereinigten Staaten richteten, dürften indes ebenfalls noch erinnerlich sein. Gegner der von diesen Männern und dieser Frau repräsentierten kapitalistischen Weltordnung hatten früh begonnen, mit mal mehr, mal weniger radikalen Maßnahmen, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass sie das bevorstehende Gipfeltreffen ablehnten. Ende Dezember 2006 ging das Auto der Ehefrau von Thomas Mirow, damals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, in Flammen auf, auf der Fassade seines Hauses platzten Farbbeutel. Bekannt hatte sich eine autonome Gruppe, die fand, der SPD-Mann habe das verdient, denn er sitze an »den strategischen Hebeln der Macht«. Er sei zur Stelle, »wo immer in Deutschland und in internationalen Organisationen über Schuldenprogramm, Kreditvergabe oder Strukturanpassung für die Regionen des Trikonts entschieden wird«, hieß es in einem der Hamburger Morgenpost zugegangenen Schreiben.
Hausdurchsuchungen
Ein verkohltes Kraftfahrzeug und eine verschmierte Hauswand reichten, und die Bundesanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Am 9. Mai 2007 rückte die Polizei im Hamburger Schanzenviertel mit Dutzenden Mannschaftswagen an, verschaffte sich mit Stemmeisen Zugang zum autonomen Zentrum »Rote Flora« und beschlagnahmte Computer und Aktenordner. Von der obersten Ermittlungsbehörde angeordnete Razzien gegen linksradikale G-8-Kritiker fanden am gleichen Tag auch in Berlin, Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Brandenburg statt.
Die im Bündnis der Gegner des Gipfels von Heiligendamm vertretenen Gruppen – das Spektrum reichte von ATTAC bis hin zur Interventionistischen Linken (IL) – kritisierten geschlossen das Vorgehen der Staatsmacht, in einer Reihe von Städten formierten sich Protestdemonstrationen. Anfang Januar 2008 befand der Bundesgerichtshof, dass die Durchsuchungsaktion rechtswidrig war und die Generalbundesanwältin gar nicht zuständig.
Am 2. Juni 2007 versammelten sich nach Veranstalterangaben etwa 80.000 Menschen in Rostock unter der Parole »Make Capitalism History« zu einer internationalen Großdemonstration gegen den G-8-Gipfel. Der Marsch verlief weitgehend friedlich, allerdings gingen auch Fensterscheiben und Glastüren zweier Sparkassenfilialen zu Bruch, Steine flogen auf einen Streifenwagen. Das reichte aus Sicht der Polizei offenbar aus, um die Abschlusskundgebung am Stadthafen anzugreifen und dort Wasserwerfer einzusetzen. Vermummte reagierten mit Steinwürfen auf Beamte. Den heftigsten Widerstand gegen die Staatsgewalt leisteten linksradikale Demonstrationsblöcke türkisch-kurdischer Gruppen, die von der Staatsmacht brutal angegangen wurden.
Einen Tag später gab die Polizei bekannt, es habe 1.000 Verletzte auf beiden Seiten gegeben, darunter 433 Polizisten. Eine Zahl, die ebenso wie die Höhe des entstandenen Sachschadens (in den Medien war zunächst die Summe von einer Million Euro behauptet worden, später war nur noch von 50.000 Euro die Rede) kurze Zeit später deutlich nach unten korrigiert werden musste. So stelle sich etwa heraus, dass von den 30 als schwerverletzt gemeldeten Beamten lediglich zwei stationär im Krankenhaus behandelt werden mussten.
Gute und böse Gipfelgegner
Nach den militanten Auseinandersetzungen schlugen im Demonstrationsbündnis die Wellen hoch. Peter Wahl von ATTAC forderte den Ausschluss der Autonomen, ein langjähriger Vertreter der IL schob die Schuld an den Randalen kurzerhand auf »ausländische« Aktivisten, vorwiegend aus Italien und Griechenland, und Werner Rätz, ebenfalls ATTAC, bejahte die Frage der Frankfurter Rundschau, ob denn nunmehr die Reihen der Globalisierungsgegner »zu sortieren« seien, um sich besser von »Gewalttätern abgrenzen« zu können. Michael Kronawitter, damals Mitglied der mittlerweile aufgelösten Antifaschistischen Aktion Berlin, hielt dagegen. Auf der Titelseite von junge Welt ließ er verlauten: »Es hat nicht wenige mit klammheimlicher Freude berührt, Berliner Polizisten auch einmal rennen zu sehen«. Und weiter: »Militanz heißt, nicht noch die andere Wange hinzuhalten, sondern auch mal zurückzuschlagen.« Zur »Sortierung« in gute und böse Demonstranten kam es nicht.
Höhepunkt der Aktionen des Protestbündnisses und dessen »Erfolg« war allerdings die offensiv angekündigte zweitägige Massenblockade aller Zufahrtswege nach Heiligendamm, in der Absicht, den Tagungssitz auf dem Landweg zu isolieren. Und tatsächlich war die Versorgung der Gipfelteilnehmer zeitweise nur zu Wasser und zu Luft möglich. Allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz wurde das Treffen der »Gruppe der acht« in seinem Ablauf gestört. An diesem Akt des Ungehorsams beteiligten sich rund 10.000 Aktivisten. Aus Sicht der radikalen Linken waren die Blockaden ebenso wie die »Entglasung« von Banken und die Steinwürfe auf martialisch ausgerüstete und wenig zimperliche Polizeihundertschaften während der Demonstration am 2. Juni eine kollektive, entschlossene und offensive Intervention. Insbesondere die Blockaden zeigten, dass die Bereitschaft bestand, sich gegen Zumutungen des staatlichen Gewaltmonopols eigenständig Räume jenseits des vorgegebenen Ordnung zu besetzen.
Auf der Internetseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung findet sich seit einigen Tagen ein Animationsstreifen, der auf den Alternativgipfel zu G 20 in Hamburg vorbereiten soll. Einige G-20-Repräsentanten werden in ihm karikiert: Donald Trump springt aus dem Fenster eines Wolkenkratzers direkt in ein Passagierflugzeug, das losdüst und in der nächsten Szene die Flamme in der Hand der New Yorker Freiheitsstatue auslöscht. Offenbar betrachten die Filmautoren die Statue nicht als üblen Witz, sondern als ernstzunehmendes Symbol.
Es folgt Angela Merkel mit Handraute: Sie schaut einem hoch beladenen Contanierschiff mit der Aufschrift »To Saudi Arabia« bei der Ausfahrt zu. Am Bug des Kahns befindet sich statt des Schiffsnamens als Signet ein stilisiertes Gewehr.
Danach Recep Tayyip Erdogan, ebenso mürrisch wie in natura, aber dicklich: Er tippt im Flugzeug sitzend auf seinem Laptop herum, und auf dessen Monitor erscheint ein Düsenjäger, der über einem Territorium, das mit der Fahne der autonomen Region Kurdistan im Irak unterlegt ist, Bomben abwirft.
Schließlich Wladimir Putin: Unbewegtes Gesicht, Farbe ungefähr die des Plakats von 1953: »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau. Darum CDU«. Das Motiv stammt aus den 30er Jahren, dazu ertönt Hundegekläff. Nächste Szene: Ein Passagierflugzeug auf einem Rollfeld, vor der Gangway ein Pulk, offenbar Journalisten. Von oben aus der offenen Tür winkt der rostrote Putin, Blitzlichtgewitter, dann ein »Schwenk« hinter die Reportergruppe: Da stehen acht Soldaten, die statt Gesichtern weiße Flecken unterm Käppi haben und Maschinenpistolen auf die Journalisten richten. Hinter ihnen wacht noch einer mit Pelzuniformmütze.
So geht das, wenn jemand in der Rosa-Luxemburg-Stiftung witzig wird: Alles eine Soße in der Weltpolitik. Beim Freisein von Denken und Ideen helfen Nazipropaganda und CDU-Blödsinn.
Hamburg: G-20-Gegner wollen Hysterie kreativ und satirisch begegnen
Kristian Stemmler
Die Panikmache vor dem G-20-Gipfel in Hamburg zeigt Wirkung. Wie das Hamburger Abendblatt am Samstag berichtete, gab bei einer Leserumfrage mit 29,7 Prozent fast ein Drittel der Teilnehmer an, die Stadt verlassen zu wollen, wenn sich am 7. und 8. Juli die Staatschefs der 19 wichtigsten Industrie und Schwellenländer sowie EU-Vertreter an der Elbe treffen. Gut zwei Drittel – 62,9 Prozent – befürchten nach eigener Aussage gewalttätige Auseinandersetzungen während des Gipfels.
Zwar ist die über die Homepage des Abendblattes geführte Umfrage nicht repräsentativ, aber mit mehr als 5.800 Teilnehmern bildet sie die Atmosphäre in der Stadt vermutlich recht gut ab. Die Zeitung, Sprachrohr des hanseatischen Bürgertums, hat diese Stimmung selbst mit herbeigeführt – seit Wochen schwadronieren bürgerliche Politiker und Medien von Tausenden militanten Gipfelgegnern, die aus ganz Europa zum Gipfel anreisen und die Stadt in Schutt und Asche legen würden.
Ein Armutszeugnis sind die Ergebnisse für den rot-grünen Senat und Hamburgs Ersten Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), der das Gipfeltreffen in die Stadt holte. Offenbar trauen die Bürger der Polizei nicht zu, für ihre Sicherheit sorgen zu können – oder sie wollen nicht wegen der hochrangigen Gäste in ihrem Alltag behindert werden. Fast drei Viertel der Befragten, 73,6 Prozent, lehnen die Entscheidung, die G 20 nach Hamburg einzuladen, generell ab. 35,2 Prozent wollen an Demonstrationen teilnehmen oder können sich dies zumindest vorstellen.
Die Welt Hamburg goss am Freitag weiter Öl ins Feuer. Zu einem Foto, das Vermummte hinter einer brennenden Barrikade zeigt, berichtete das Springer-Blatt, Gipfelgegner hätten Karten von Hamburg veröffentlicht, in denen Reichenviertel als Ziele markiert seien. Angesichts von Brandanschlägen in den vergangenen Wochen könne dies als »Aufforderung zu weiteren Attacken« verstanden werden.
Die Karten seien auf englisch verfasst, trügen den Titel »Know your friends and your enemies« (Kenne deine Freunde und Feinde) und seien für »Protestler aus dem Ausland« gedacht, behauptet die Welt, ohne den Ort oder die Form der Veröffentlichung zu benennen. Auf den Karten seien außer den Nobelvororten wie Blankenese, Pöseldorf oder Uhlenhorst, die mit Geldsäcken markiert seien, auch linke Zentren wie die Rote Flora, mögliche Routen der Staatsgäste und die Generalkonsulate der am Gipfel teilnehmenden Staaten verzeichnet.
Während Massenmedien die Hysterie ankurbeln, hat sich die Linksfraktion in der Bürgerschaft danach erkundigt, was Gipfelgegnern Anfang Juli blühen könnte. Mit einer Anfrage brachte sie ans Licht, unter welchen Bedingungen in Gewahrsam genommene Demonstranten in einer Gefangenensammelstelle (Gesa) im Süden der Stadt untergebracht werden sollen.
Auf dem Gelände eines früheren Lebensmittelgroßhandels in der Nähe des Harburger Bahnhofs haben die Behörden einen Sammelknast mit rund 400 Plätzen errichtet. Bis zu fünf Gefangene sollen dort nach Senatsangaben auf neun Quadratmetern zusammengepfercht werden. »In den Sammelzellen werden die Festgenommenen gerade einmal 1,8 Quadratmeter pro Person haben. Das ist menschenunwürdig«, kritisierte Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Fraktion, am 8. Mai gegenüber der taz. Bis zu einer richterlichen Entscheidung könne es 48 Stunden dauern.
Mit einer Aktionsakademie in der Stadtteilschule Walddörfer will ATTAC von heute bis Sonntag junge Gipfelgegner auf den G-20-Protest vorbereiten. Erwartet werden rund 100 Teilnehmer aus ganz Deutschland, erklärte die Organisation am Freitag. Auf dem Programm stehen unter anderem Straßentheater, »Rebel Clowning«, also das Veräppeln der Obrigkeit im Zirkusstil, Adbusting (kreative Veränderungen von Plakaten), ein Kletterkurs und ein Aktionstraining unter dem Motto »Skills for Block G 20«, also das Erwerben von Fähigkeiten für Blockadeaktionen, die für den 7. Juli, den ersten Tag des Gipfels geplant sind.
Hamburger Senat sagt nicht, wie hoch die Kosten für das Treffen sind. Gespräch mit Norbert Hackbusch
Anselm Lenz
Sie wollen ermitteln, was der G-20-Gipfel der Stadt Hamburg wirklich an Geld und Ressourcen abverlangt. Am kommenden Donnerstag soll darüber in der Bürgerschaft diskutiert werden. Aber die Kosten für eine Konferenz müssten doch im Vorfeld für den Haushalt berechnet worden sein. Woher rührt also die Unklarheit?
Die normale Vorgehensweise nach der Landeshaushaltsordnung wäre diese: Die Stadt sagt, dass sie ein Vorhaben plant, dann wird den Bürgern mitgeteilt, wie teuer es wird. So ist es zumindest vorgeschrieben. In diesem Fall ist dieser Weg nicht gewählt worden. So etwas Ähnliches haben wir schon bei der Olympia-Bewerbung Hamburgs erlebt.
Ist davon auszugehen, dass das Treffen der Regierungschefs der G 20 ein ähnliches Fiasko für den Fiskus wird?
Wir wissen nicht genau, warum der Gipfel gerade in Hamburg stattfinden soll. Irgend etwas ist zwischen dem Ersten Bürgermeister Olaf Scholz, SPD, und der Bundeskanzlerin Angela Merkel besprochen worden. Die Stadt Hamburg hat bisher nur eine Zusage von der Bundesregierung, dass diese Kosten in Höhe von 50 Millionen Euro übernimmt. Wir gehen aber davon aus, dass die Belastungen um einiges höher ausfallen werden.
Warum?
Wir haben festgestellt, dass das Treffen der G 20 in Toronto weit über 400 Millionen Euro gekostet hat, von denen die Stadt Toronto 370 Millionen übernehmen musste. Da müssen wir aber nochmal genauer schauen, welche Kosten wie zusammengerechnet wurden. Wahrscheinlich lag der Gesamtbetrag noch höher. Über solche Fragen müssen die Bürger aber Bescheid wissen. Genau das werden wir in der Bürgerschaft am Donnerstag kommender Woche einfordern.
Ist Ihnen bekannt, was allein der Posten für die Unterbringung der Gipfelteilnehmer ausmacht?
Das wissen wir nicht so genau, denn wir haben keine Daten darüber, welche Ausgaben von den jeweiligen Staaten übernommen werden. Es besteht hier also keine Transparenz, wir können nur schätzen und uns an den Erfahrungen von Toronto orientieren. Die Sicherheitsausgaben muss Hamburg auf jeden Fall bezahlen. Wir wissen nicht, wie hoch die Kosten für den Polizeieinsatz werden. Außerdem wurden Sicherheitsunternehmen für bestimmte Aufgaben engagiert. Auch für diese Firmen müssen Beträge ausgegeben werden, über die wir nicht aufgeklärt werden.
Was bedeutet das für den Hamburger Haushalt?
All das stellt eine starke Belastung dar. Wenn wir als Partei auch nur die kleinsten Forderungen stellen, entgegnet uns der Senat immer: »Wo ist denn die Gegenfinanzierung dafür?« Jetzt sagt der Senat einfach, er wisse noch nicht genau, wie er den G-20-Gipfel bezahlen soll. Das ist doch eine Unverschämtheit. Bei solchen Großprojekten handelt die Stadt unverantwortlich, aber bei jedem kleinen sozialen Projekt sagt Rot-Grün, das wir uns das nicht mehr leisten könnten.
Wir haben in den Bereichen der Stadtteilkultur, der Bürgerhäuser und Kommunikationszentren ein Defizit von mehreren Millionen Euro. Ein zweites Beispiel ist der Betreuungsschlüssel der Kindertagesstätten, also das Verhältnis von Erzieherinnen zu Kindern. Hier schneidet Hamburg im Vergleich zu anderen Bundesländern schlecht ab. Beides ließe sich in den kommenden zwei Jahren problemlos ändern, wenn die G 20 nicht nach Hamburg kämen.
Zum Schluss bitte ich Sie um eine politische Einordnung. Gegen den G-20-Gipfel sind bereits Proteste angekündigt. Wie bewerten Sie das Zusammenkommen der Regierungschefs in Hamburg?
Wir brauchen uns nur die verschiedenen Personen, die dort zusammenkommen, anzuschauen – vor allen will ich hier den türkischen Präsidenten Erdogan und den US-Präsidenten Trump nennen –, um zu sehen, welche Bedrohung sie für die Welt darstellen. Das ist schon alleine Grund genug zu demonstrieren. Außerdem wissen wir von früheren G-20-Treffen, dass es sich nicht um ein demokratisches Gremium handelt. Vielmehr dient es der Interessenvertretung der Mächtigen dieser Welt.
Entwicklungsorganisationen fordern von G-20-Gesundheitsministern Alternative zu kommerzieller Forschung. Gipfel der »Zivilgesellschaft« im Juni
Jana Frielinghaus
Lob für die Bundesregierung gab es am Freitag auf einer Pressekonferenz in Berlin. Eingeladen hatten Venro, Dachverband von rund 100 deutschen Entwicklungshilfeorganisationen, und das Forum Umwelt und Entwicklung. Deren Vertreter präsentierten die Forderungen »zivilgesellschaftlicher« Initiativen an die G-20-Gesundheitsminister in Sachen medizinische Versorgung. Ein Treffen der Minister begann ebenfalls am Freitag in Berlin.
Unter der deutschen G-20-Präsidentschaft, betonte Venro-Geschäftsführerin Heike Spielmans, sei die Gesundheit erstmals Thema auch auf einem Gipfel des politischen Spitzenpersonals der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sowie der Europäischen Union. Die Staats- und Regierungschefs dieser »selbstbeauftragten Governance-Struktur« (Spielmans) treffen sich am 7. und 8. Juli in Hamburg. In Sachen Gesundheit spiele Berlin eine »sehr gute Rolle«, sagte Marwin Meier von der christlichen Entwicklungsorganisation World Vision. Zumindest finanziert die Regierung im Vorfeld des Gipfels eine zusätzliche internationale Tagung, die »Civil-20-Konferenz«, die am 18. und 19. Juni ebenfalls in Hamburg stattfinden wird mit Vertretern von rund 150 Organisationen aus mehr als 50 Ländern. Zu sechs Schwerpunkten sollen dort »Empfehlungen« an die G 20 ausgearbeitet werden, darunter zur Reform des Finanzsystems und eben zu »globaler Gesundheit«.
Marwin Meier, der einer von zwei Sprechern der entsprechenden »Civil20«-Arbeitsgruppe ist, fasste die wichtigsten gesundheitspolitischen Forderungen zusammen: Stärkung der nationalen Gesundheitssysteme weltweit, mehr Geld für die dramatisch unterfinanzierte Weltgesundheitsorganisation (WHO) und eine »Entkopplung der Forschung an Medikamenten von den Preisen«. Von Forderungen nach staatlicher Kontrolle darüber sind die NGO hier aber weit entfernt. Vielmehr regte Meier die Bildung von staatlichen Fonds und »Produktentwicklungspartnerschaften« etwa für die Herstellung spezifischer Mittel gegen Armutskrankheiten wie Tuberkulose an. Er ist zuversichtlich, dass sich am gegenwärtigen profitorientierten Gesundheitssystem etwas ändern lässt: Die wachsende Angst vor Seuchen und vor gegen Antibiotika resistenten Keimen könne ein Motor für Reformen werden.
Tatsächlich stellte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) die Verbesserung des Schutzes vor globalen Epidemien in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum Auftakt des Treffens. Der WHO komme eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung entsprechender Risiken zu, erklärte er am Freitag in Berlin.
Die zwiespältige Position – ein wenig Feigenblatt, ein wenig Trostpflasterverteiler –, die sich Entwicklungsorganisationen im »G-20-Prozess« haben zuweisen lassen, wurde am Freitag deutlich, als die Frage nach der Rolle privater Geldgeber wie der Bill-and-Melinda-Gates-Foundation aufkam. Die NGO ließen es sich nicht nehmen, deren Einfluss auf Inhalt und Ausrichtung von Entwicklungs- und Gesundheitsprogrammen zu kritisieren, betonte Meier, räumte aber ein: »Wir sind befangen.« Denn die Organisationen erhalten speziell von der Gates-Stiftung große Summen.
Jürgen Maier, Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung und einer der Vorsitzenden des Steuerungsgremiums zur Vorbereitung des Civil-20-Gipfels, befand, es wäre sinnvoller, wenn die westlichen Staaten für »Leute wie Gates die Steuersätze von 1990« wieder einführen würden. Dann könne über den Einsatz von Geldern »auch wieder demokratisch entschieden werden«. Spielmans bestätigte auf jW-Nachfrage, dass sich Venro und andere Akteure der »Civil-20-Konferenz« auch am »Gipfel der globalen Solidarität« Anfang Juli in Hamburg beteiligen werden. Zudem gehöre das Forum Umwelt und Entwicklung zu den Veranstaltern der »Protestwelle« gegen den G-20-Gipfel am 2. Juli in Hamburg, sagte Jürgen Maier.
Innenminister kündigt Kontrollen an Grenzen zu EU-Staaten zum Gipfel in Hamburg an. Behörden schüren Angst vor »gewaltbereiten Linksextremisten«
Kristian Stemmler
Noch 50 Tage bis zum G-20-Gipfel in Hamburg, und bürgerliche Politiker arbeiten weiter daran, ein Klima der Angst zu erzeugen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat angekündigt, zum Treffen der Staatschefs der 19 sogenannten wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und von EU-Vertretern im Juli Kontrollen an den deutschen Grenzen wieder einzuführen, wie die Welt am Mittwoch berichtete. Hintergrund sind laut »Sicherheitskreisen« Befürchtungen, dass »gewaltbereite Linksextremisten« aus dem Ausland zum Gipfel anreisen könnten.
Die Welt zitiert eine Sprecherin des Innenministeriums mit den Worten, die Schengen-Binnengrenzen sollten rund um den am 7. und 8. Juli stattfindenden Gipfel wieder kontrolliert werden. Damit wolle man »Sicherheitsbelangen Rechnung tragen, die Anreise potentieller Gewalttäter in das Bundesgebiet verhindern und zu einem störungsfreien Verlauf der Veranstaltung beitragen«. Im sogenannten Schengen-Raum, zu dem 26 europäische Staaten gehören, sind Grenzkontrollen abgeschafft, können aber anlassbedingt wieder aufgenommen werden.
Bereits am Montag hatte die taz Hamburg berichtet, die Bundespolizeidirektion in Bad Bramstedt habe eine Verstärkung der Grenzüberwachung in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern zum G-20-Treffen angekündigt. »Die Gewaltbereitschaft, insbesondere der linksextremistischen Szene, nehmen alle Experten ernst«, zitierte das Blatt Direktionspräsident Bodo Kaping. Es gehe darum, die Anreise von »polizeilich bekannten Autonomen« aus Skandinavien zu verhindern. Als eine »völlige Außerkraftsetzung europäischer Grundrechte« kritisierte Elke Steven vom Grundrechtekomitee in der taz die angekündigten Maßnahmen. Das Recht auf Versammlungsfreiheit und das Recht auf Bewegungsfreiheit in der EU würden durch Einreiseverbote ausgehebelt.
Um der Panikmache etwas entgegenzusetzen, veröffentlichte ein Bündnis von Gipfelgegnern aus mehreren Ländern im Namen der »International G 20 Coordination« zu Wochenbeginn einen offenen Brief »an die Menschen in Hamburg«. Zu den Verfassern gehören der Ökonom Patrick Bond aus Südafrika, der irische Soziologe Laurence Cox und Bettina Müller von ATTAC Argentinien.
»Ihr habt wahrscheinlich hauptsächlich von den Politikern und den Medien von uns erfahren, die euch Angst vor uns machen wollen, wenn sie uns als ›Störenfriede‹ und ›Krawallmacher‹ bezeichnen«, heißt es in dem Brief. Und weiter: »Die wahren Eindringlinge und Zerstörer unserer Städte sind die G 20, und wir müssen uns gemeinsam vor ihnen schützen. Wenn sie eine demokratiefreie Zone in Hamburg wollen, wollen wir ein G-20-freies Hamburg.«
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) setzt indes weiter auf Konfrontation. Im Gespräch mit dem Radiosender NDR 90,3 stellte er sich hinter eine Entscheidung des Bezirks Hamburg-Nord, das »antikapitalistische Camp« von 10.000 Gipfelgegnern im Stadtpark nicht zu genehmigen. Der Bezirk hatte auf mögliche Schäden hingewiesen. Erst vor einer Woche hatte die Lokalpresse gejubelt, dass im Stadtpark mit dem Segen des Bezirks am 9. September die Rolling Stones auftreten dürfen – vor rund 80.000 Fans.
Auch die Folgen des Gipfels für Hamburgs Obdachlose sind dem Senator egal. Vor einer Woche erklärte Grote in der Bürgerschaft, es gebe keine Einschränkungen für Obdachlose, er sehe keinen Bedarf für alternative Übernachtungsplätze. Diese Behauptung bezeichnete Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter des Straßenmagazins Hinz und Kunzt, auf der Homepage des Magazins als fahrlässig. Er gehe von bis zu 300 Obdachlosen aus, die von »Sicherheitsmaßnahmen« betroffen seien. Schon jetzt würden erste Platten (Übernachtungsplätze) geräumt.
Kanzlerin reitet auf »B-20-Wirtschaftsgipfel« Attacke gegen Politik der »Abschottung«
Die Bundeskanzlerin steht bei den deutschen Leitmedien weiter hoch im Kurs. »Merkel hat elf Wochen zur Rettung der Weltwirtschaft«, betitelte Welt.de am Mittwoch vormittag einen Beitrag, der sich mit einem Auftritt der Bundeskanzlerin bei einer lautstarken Lobbyorganisation des Kapitals – der sogenannten B 20 – am Mittwoch in Berlin beschäftigte. Und tatsächlich, dort brach die derart Berufene erneut eine Lanze für das neoliberale Konzept.
Die Gruppe der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) sei in einer besonderen Verantwortung, gegen Protektionismus weltweit vorzugehen, erklärte die deutsche Regierungschefin und umriss damit sowohl das Feindbild als auch den Hauptadressaten. Dazu brachte sie ein Argument vor, das verdächtig nach einem Zirkelschluss roch: »Allein die Existenz der G20 bedeutet, dass Abschottung und Protektionismus Wege in die Sackgasse, aber nicht Wege nach vorne sind«, sagte Merkel auf dem sogenannten B-20-Wirtschaftsgipfel. Die Veranstaltung war als Beitrag im Rahmen der deutschen G-20-Präsidentschaft deklariert.
»Wer versucht, sich internationalem Wettbewerb zu entziehen, kann sich vielleicht kurzfristige Vorteile versprechen«, sagte die Kanzlerin, ohne Länder zu nennen. »Aber mittel- und langfristig wird die eigene Innovationsfähigkeit geschwächt.« Deshalb seien Freiheit und Offenheit in der Wirtschaft so wichtig.
»Auf lange Sicht sind wir alle tot«, hatte einst der kapitalistische Wirtschaftsweise John Maynard Keynes gesagt. Und Ökonomen wissen, Abschottung kann durchaus sinnvoll für sich entwickelnde nationale Wirtschaften sein. Allerdings setzt das globale Kapital derzeit schlicht auf uneingeschränkte Weltherrschaft, was »mittelfristig« gewiss nicht ins Paradies führen dürfte. Das sehen auch einige Vertreter der 19 in der G20 vereinigten Länder so. Und selbst US-Präsident Donald Trump scheint staatlichen Regulierungsmaßnahmen zum Schutz des Heimatmarktes nicht abgeneigt. Vor allem das hat viele Lobbyisten der Globalisierung aufgeschreckt.
Frau Merkel soll es offenbar richten: Die G20 sei in einer besonderen Verantwortung, weil ihre Länder für drei Viertel der Wirtschaftsleistung auf der Welt stünden. In den vergangenen Jahren habe es aber eine Zunahme protektionistischer Maßnahmen gegeben, sagte die Kanzlerin. Da hat sie bis Anfang Juli noch einiges zu tun. Denn da findet in Hamburg der G-20-Gipfel statt. Dieter Schubert (Quelle: Reuters)
Hamburg will Camps für G-20-Gegner verhindern. Bleibt es dabei, werden Plätze besetzt werden müssen. Ein Gespräch mit Deniz Ergün
Kristian Stemmler
Zehntausende Aktivisten kommen Anfang Juli zum G-20-Gipfel nach Hamburg. Für sie sollen zwei große Camps aufgebaut werden, eines im Stadtpark, eines im Volkspark im Bezirk Altona. Ein Sprecher des Bezirksamts Hamburg-Nord hat am Dienstag in der Lokalpresse erklärt, der Stadtpark komme dafür nicht in Frage. Auch Hamburgs Innensenator Andy Grote, SPD, hat sich kürzlich im Innenausschuss der Bürgerschaft gegen die Camps ausgesprochen. Will die Stadt die Protestierenden loswerden?
Ja, das ist seit Monaten erkennbar. Politik und Behörden wollen es der Protestbewegung so schwer wie möglich machen; der Senat ist weiter auf eine Konfrontation aus. Wenn sie die G20 nach Hamburg holen, dann müssen sie auch mit Protesten rechnen. Wir sollten wieder an den Verhandlungstisch, doch der Erste Bürgermeister Olaf Scholz verhält sich wie ein Sultan. Aber Hamburg ist nicht Ankara. Die Zehntausenden Menschen werden kommen, und wenn sie nicht in der ganzen Stadt wild campen sollen, müssen wir an einer Lösung des Problems arbeiten. Sonst wären wir gezwungen, wie die Occupy-Bewegung Plätze zu besetzen.
Der Senat meint, die von auswärts anreisenden Aktivisten könnten sich private Unterkünfte suchen oder Jugendherbergen und Hostels nutzen. Was sagen Sie dazu?
Ein absurder Vorschlag. Während der Protestwoche werden die Hotelpreise explodieren. Wie sollen da 15.000 bis 20.000 Menschen aus aller Welt ein Zimmer finden?
Es soll ein antikapitalistisches Camp geben, darüber hinaus eines, das verschiedene politische Spektren ansprechen soll. Was planen Sie genau?
Beide Camps arbeiten solidarisch zusammen und sind auf jeweils 10.000 Menschen ausgelegt. Im spektrenübergreifenden Camp soll die ganze Woche ein großes Kulturprogramm auf die Beine gestellt werden. Wir werden nach Hamburg mobilisieren, egal wie sich die Herren im Rathaus verhalten.
Die Polizei meint, so ein Camp sei ein idealer Ort, um militante Aktionen zu planen.
Für uns ist das Camp ein Ort des Zusammenkommens. Militante Aktionen werden wahrscheinlich klandestin vorbereitet und nicht öffentlich mit 10.000 Menschen. Solche Aussagen dienen nur dazu, den Protest aus der Stadt zu drängen.
Werden Sie die Gerichte anrufen?
Klar. Wenn nötig, werden wir rechtliche Schritte einleiten.
Innensenator Grote hat im Innenausschuss erklärt, das Heiligengeistfeld werde für die Abschlusskundgebung der Großdemo am 8. Juli nicht freigegeben: Es liege zu nah an den Messehallen, Hauptveranstaltungsort des Gipfels.
Die Herren der Welt wollen wohl unter sich bleiben, wenn sie sich in Hamburg treffen, aber da spielen wir nicht mit. Wir werden weder unsere Zelte außerhalb der Stadt aufschlagen noch zulassen, dass sie die Demo an den Rand der Stadt drängen.
Grote hat auch verkündet, allein die Polizei habe über Sicherheitszonen und Versammlungsorte zu befinden.
Es wird immer deutlicher, dass dieser Senat mit dem G-20-Gipfel vollkommen überfordert ist. Nun wird ständig von gewalttätigen Protesten gesprochen – ein Versuch, wieder Herr der Lage zu werden. Es ist aber nicht zu akzeptieren, dass eine ganze Stadt mehrere Wochen in Geiselhaft genommen werden soll für eine falsche politische Entscheidung.
Damit spielen Sie auf die angedachten Sicherheitsvorkehrungen an: Sie reichen vom Sammelknast bis zur Einrichtung einer »blauen Zone«, in der nicht demonstriert werden darf. Die Stadt lässt offenbar keine Gelegenheit aus, die G- 20-Protestbewegung zu reizen. Wie wirkt sich das auf die Stimmung aus?
Die Stadt versucht es ungewiss zu lassen, ob legaler Protest möglich sein wird. Dadurch soll unsere Mobilisierung torpediert werden. Mit Gewaltphantasien wollen sie ein Teil der Zivilgesellschaft von den Protesten abhalten. Deutlich wird nur, dass wir uns nicht auf diesen Senat bei der Durchsetzung des Versammlungsrechts verlassen können. Auch wenn wir nicht willkommen sind, werden wir im Juli Zehntausende Menschen sein und der Welt zeigen, dass es auch ein anderes Hamburg gibt.
Hamburg: Bündnis von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen sowie Gewerkschaften und Kirchen mobilisiert zu Bootsdemo und Protestmarsch am 2. Juli
Kristian Stemmler
Eine Bootsdemo, ein »Bannermeer« und ein Protestmarsch – das sollen die drei Teile eines Aktionstags sein, mit dem ein Bündnis unter dem Namen »G 20 Protestwelle« zum Gipfel der Staatenlenker in Hamburg Flagge zeigen will. Stattfinden soll er am 2. Juli, also bereits am Sonntag vor dem für den 7. und 8. Juli geplanten Treffen des politischen Spitzenpersonals der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sowie der EU in der Hansestadt. Am Dienstag stellte das Bündnis in der deutschen Zentrale von Greenpeace in Hamburg seine Forderungen und das Programm des Aktionstags vor.
Mit einer »kraftvollen Protestwelle« von Zehntausenden Menschen wolle man klarmachen, »dass der Nationalismus von Trump, Erdogan, Putin und Co.« genauso auf Widerstand treffe »wie die Konzernpolitik der G 20«, sagte Christoph Bautz, Mitgründer der Kampagnenplattform Campact. Zum eher bürgerlich geprägten Bündnis gehören Organisationen aus den Bereichen Umweltschutz, Landwirtschaft, Bürgerrechte und Entwicklungspolitik, darunter Greenpeace, Nabu und Oxfam, sowie Gewerkschaften und Kirchen.
Bautz betonte, der Protest richte sich nicht gegen den Gipfel an sich, sondern gegen die Politik, die von den Staaten verfolgt werde. Gegenüber den G 7 und den G 8, »illustren Runden«, die sich anmaßten, für die Weltbevölkerung zu sprechen, sei G 20 »ein Fortschritt«. Immerhin säßen die sogenannten BRICS-Staaten mit am Tisch, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Die G 20 seien »Teil des Problems, aber auch Teil der Lösung«, meinte Bautz.
Der stellvertretende Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Ernst-Christoph Stolper, sagte, die deutsche G-20-Präsidentschaft verlaufe bisher »enttäuschend«. Die Bundesregierung sei nicht in der Lage, die »Rolle des ehrlichen Maklers« zu übernehmen, weil mit ihrer Umweltpolitik die Ziele des Klimaschutzes in weite Ferne gerückt seien und die »harte Politik der schwarzen Null« zur Entsolidarisierung in Europa beitrage. Uwe Polkaehn, Vorsitzender des DGB Nord, forderte eine gerechte Verteilung der Einkommen und gute Löhne. Nur so sei den Rechtspopulisten »der Wind aus den Segeln zu nehmen«.
Das Protestwelle-Bündnis wurde nach dem Zusammenschluss »Grenzenlose Solidarität statt G 20« gegründet, der zu einer »internationalen Großdemonstration« am 8. Juli, dem zweiten Tag des Gipfels, mobilisiert und von Linkspartei, ATTAC und der Interventionistischen Linken angeführt wird. Bereits im Dezember hatten Bautz und Uwe Hiksch von den Naturfreunden eine zweite Großkundgebung ins Spiel gebracht. Ihren Vorstoß begründeten sie damals gegenüber jW mit Befürchtungen, am 8. Juli sei die Sicherheit der Demoteilnehmer nicht gewährleistet. In Gesprächen wurde ein Kompromiss ausgehandelt: Campact & Co. sollten zu einem Aktionstag aufrufen und nicht zu einer zweiten Kundgebung.
Am Dienstag erklärte Bautz auf die Frage von jW, ob das neue Bündnis nicht der Demo am 8. Juli das Wasser abgrabe, man wolle protestieren, bevor sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf die Staatschefs richteten. Dies habe zum Beispiel beim G-7-Gipfel auf Schloss Elmau gut funktioniert: Mehr als 30.000 Menschen hätten am Donnerstag vor dem Treffen in München demonstriert.
Jugend- und Studierendenbündnis fordert Absage des G-20-Gipfels in Hamburg
Martin Dolzer
Gegen den im Juli bevorstehenden G-20-Gipfel in Hamburg haben dort am Mittwoch abend rund 1.000 Menschen protestiert. Die friedliche Demonstration von der Innenstadt zum Campus der Universität begleitete ein großes Polizeiaufgebot – es blockierte mehrere Seitenstraßen in Richtung Messe, des Tagungsorts der Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer, schon zweieinhalb Monate vor dem geplanten Treffen.
Zu der Demonstration aufgerufen hatte das von Hamburger Studierenden gegründete Bündnis »Gemeinsam statt G20«, das mit Protesten wie diesem und einer Unterschriftenaktion den Gipfel in der Hansestadt doch noch verhindern will. »Es soll Druck auf den Hamburger Senat und die Bundesregierung aufgebaut werden«, hieß es auf einer Pressekonferenz zum Auftakt der Kampagne am 31. März.
Ali Ahmed, Sprecher der Flüchtlingsgruppe »Lampedusa in Hamburg«, sagte in einer Rede zu Beginn der Demonstration, dass die Regierungen der G20 verantwortlich für den Krieg in Libyen 2011 und viele weitere bewaffnete Konflikte in Afrika waren und sind. Die Kolonialpolitik der letzten 600 Jahre habe viele Länder dieses Kontinents sowie Südamerikas und Asiens zerstört. »Ihr Studierende hier in Europa und die Jugend in Afrika seid die tragenden Kräfte unserer Zukunft«, betonte er und rief zum Kampf gegen den Kapitalismus, »ein System, das für Krieg, Flucht und Leid verantwortlich ist«, auf. »Ihr seid diejenigen, die eine Welt aufbauen können, in der alle Menschen respektvoll zusammenleben«, so Ahmed.
Franziska Hildebrandt, Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) der Universität Hamburg, hob hervor, dass die Mehrheit der Hamburger den G-20-Gipfel ablehne. »Denn wir sind als Hamburger engagiert für Abrüstung und Stopp der Waffenexporte, für die Rekommunalisierung der Energienetze und Krankenhäuser, für eine ›Schule für alle‹, für öffentliche Investitionen in Kultur, Soziales und Bildung, für kritische Hochschulen, also für ein soziales Gemeinwesen. Die G20 stehen mit ihrer Politik im krassen Gegensatz zu diesem Engagement.«
Ein Beitrag des Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland e. V. (NAV-DEM) verdeutlichte, dass die Politik der EU und der USA strukturelle Gewalt bedeute, die maßgeblich für die Probleme verantwortlich sei, deren vermeintliche Lösung auf dem G-20-Treffen ohne demokratische Legitimation geplant werde. Die Welt brauche dringend Alternativen im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung. Ein Sprecher der Grünen Jugend forderte eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftspolitik, die allen Menschen diene.
»Wie die Regierung und der Senat auf die Idee kommen, den G-20-Gipfel mitten in Hamburg abzuhalten, ist völlig unverständlich. Damit wird auf Eskalation gesetzt«, hatte Jon Wullenweber, Referent für Hochschulpolitik des AStA der Technischen Universität Harburg, bereits auf der Pressekonferenz erklärt. Der Ausbau der Videoüberwachung und die Errichtung sogenannter Sicherheitszonen seien starke Grundrechtseingriffe. »Deswegen sagen wir, dass der G-20-Gipfel nicht stattfinden kann.« Geoffrey Youett vom AStA der Universität kritisierte, dass die Tagung geschätzte 750 Millionen kosten solle, die an Jugend- und Bildungseinrichtungen oder im Gesundheitssystem besser aufgehoben wären.
Hotelbranche profitiert von G-20-Gipfel in Hamburg. Das Personal erwartet viel Stress für wenig Geld
Kristian Stemmler
Nicht nur 19 Staatschefs und Vertreter der EU kommen in gut zweieinhalb Monaten zum G-20-Gipfel nach Hamburg, sondern auch Tausende Mitarbeiter in den Delegationen der Staaten und Tausende Journalisten. Für die Hotels in und um Hamburg ist das ein Riesengeschäft. Schon jetzt sind viele Häuser für die Tage des Gipfels, 7. und 8. Juli, ausgebucht. Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Anlass genug, auf die prekären Arbeitsbedingungen in der Branche aufmerksam zu machen. »G-20-Gipfel: Für die Hotels ein Riesengeschäft – aber nur mit fairen Arbeitsbedingungen!« heißt es in einer Pressemitteilung des DGB Hamburg vom Freitag.
»So manches Hotel baut sein Geschäftsmodell auf miesen Arbeitsbedingungen und Dumpinglöhnen auf. Das verurteilen wir«, erklärte Hamburgs DGB-Vorsitzende Katja Karger in der Mitteilung. Sie versprach: »Auch vor und während des Gipfels werden wir genau hinschauen, wie die Unternehmen mit ihren Beschäftigten umgehen.« Dies gelte für das Servicepersonal ebenso wie für Reinigungskräfte oder Sicherheitsleute.
Scharfe Kritik an der Ausbeutung in den Hotels übte Rüdiger Winter vom Bildungswerk Arbeit und Leben Hamburg, das vom DGB und der Volkshochschule getragen wird. »Aus der Beratungspraxis unserer Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit bekommen wir Einblick in die Situation der Beschäftigten. Immer wieder kommen Menschen zu uns, die von schlechten Arbeitsbedingungen und Minibezahlung berichten. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Die Dunkelziffer schätze ich als erschreckend hoch ein.«
Winter illustrierte die Methoden der Hotels mit zwei Fällen. So wurde eine Hotelangestellte pro Zimmer und nicht pro Stunde bezahlt. Von neun Stunden Putz- und Aufräumarbeit bekam sie nur drei bezahlt. Für solche Praktiken sei ihr Arbeitgeber schon mehrmals erfolglos verklagt worden. Eine andere Angestellte reinigte Zimmer in einem Vier-Sterne-Hotel. Die Arbeitsstunden wurden zwar aufgezeichnet, jedoch das Ende der Arbeitszeit jeweils anhand der gereinigten Zimmer errechnet. So verdiente sie deutlich weniger, als ihr zustand. Nach der Probezeit wurde ihr gekündigt.
In der Pressemitteilung fordern der DGB Hamburg sowie die regionalen Bezirke der IG Bauen, Agrar, Umwelt und der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG), dass den Beschäftigten der Hotels durch die hohen Sicherheitsvorkehrungen beim G-20-Gipfel keine Nachteile entstehen dürfen. »Wer als Beschäftigter in einem Hotel zum Beispiel keine Sicherheitsfreigabe bekommt, darf nicht in den Zwangsurlaub geschickt werden«, sagte Arno Fischer von der NGG.
Das Hamburger Abendblatt berichtete in seiner Ausgabe vom Samstag weiter hinten mit drei Absätzen über den Appell der Gewerkschaften. In derselben Ausgabe wurde der Lokalteil mit einem großen Beitrag über die Startschwierigkeiten des Luxushotels The Westin in der Elbphilharmonie aufgemacht. Gäste hätten sich im Internet über verdreckte Zimmer und unfreundliches Personal beschwert. Hoteldirektorin Dagmar Zechmann wird in der Zeitung mit der Äußerung zitiert, wie die gesamte Hotellerie habe man Probleme, »engagiertes und qualifiziertes Personal« zu finden. Liegt das vielleicht an den Arbeitsbedingungen in der Branche?
April, April, das wäre ja auch nur zu schön gewesen: Hamburger Senat sagt G-20-Gipfel aufgrund von Sicherheitsbedenken ab
Kristian Stemmler
Der Hamburger Senat hat entschieden, den für den 7. und 8. Juli in der Hansestadt geplanten G-20-Gipfel abzusagen. Das teilte die Senatspressestelle mit. »Nach den jüngsten Brandanschlägen auf Fahrzeuge der Hamburger Polizei und veränderten Prognosen der Sicherheitsbehörden, die mit kaum zu kontrollierenden Ausschreitungen rechnen, haben wir uns schweren Herzens entschlossen, die Einladung für den Gipfel zurückzuziehen«, wurde Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) in der Erklärung zitiert. Dies sei mit dem Bundesinnenministerium abgestimmt.
Nach Informationen des Hamburger Abendblattes soll das Treffen der Staatschefs der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und von EU-Vertretern nun am geplanten Termin auf der Nordseeinsel Sylt stattfinden. Bereits Tage vor dem Gipfel soll der nördliche Bereich der Insel vom Ort List bis kurz vor Kampen evakuiert und abgesperrt werden. »Da, wo wir abriegeln, hat Sylt nur wenige Kilometer Ausdehnung, und es gibt nur eine Straße«, zitiert das Abendblatt einen Sicherheitsexperten. Das erleichtere die Absicherung. Auch solle der Eisenbahnverkehr über den Hindenburgdamm, einzige Verbindung der Insel zum Festland, schon vor dem Treffen unterbrochen werden, genau wie alle Fährverbindungen. Der in Hamburg bereits dienstverpflichtete G-20-Gesamtseinsatzleiter Hartmut Dudde werde an Schleswig-Holstein zur Beratung des dortigen Koordinierungsgremiums ausgeliehen. Man werde vermutlich nur rund 3.000 Polizeibeamte statt der für Hamburg eingeplanten 14.000 für die Absicherung des Gipfels brauchen.
Bundesinnenminister Thomas de Maiziére (CDU) äußerte Verständnis für die Entscheidung des Senats. Sie sei »nachvollziehbar«, sagte er der Welt, auch wenn es schwer zu ertragen sei, »dass ein solches Treffen wegen der inakzeptablen linksextremen Gewalt nicht mehr in einer deutschen Großstadt organisiert werden kann«. Auch seine Sicherheitsexperten hätten empfohlen, für den Gipfel erneut einen möglichst abgelegenen und gut zu sichernden Ort zu wählen. Scharfe Kritik an der Hamburger Entscheidung kam dagegen vom bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU). »Der rot-grüne Senat weicht erneut vor der nackten Gewalt und den Drohungen des linken Mobs zurück«, sagte er der Passauer Neuen Presse. Diese Entwicklung zeige deutlich, »wohin das Land steuert, wenn nach der Bundestagswahl im September SPD, Grüne und die SED-Erben von der Linkspartei ans Ruder kommen«.
Von den G-20-Gegnern wurde die Verlegung des Gipfels mit Genugtuung aufgenommen. Es sei ein Fanal, »dass sich die Vertreter einer Politik, die für die dramatisch zunehmende Zahl an Flüchtlingen weltweit, für Armut, Unterdrückung, Kriege und Klimawandel verantwortlich sind, nicht mehr in einer deutschen Großstadt treffen können«, hieß es in einer Erklärung des Bündnisses »Grenzenlose Solidarität statt G20«. Werner Rätz vom am Bündnis beteiligten Netzwerk ATTAC erklärte gegenüber jW, man halte dennoch an der Großkundgebung am 8. Juli in Hamburg fest. »Selbst wenn sich die Staatenlenker auf Sylt einbunkern: Der Protest gegen ihre menschenfeindliche Politik muss kraftvoll fortgesetzt werden, und da eignet sich Hamburg«, betonte Rätz. Er geht zudem davon aus, dass trotz aller Absperrungen auch Protestaktionen auf der Nordseeinsel stattfinden werden.
Hamburg: Bündnis »Bildung ohne Bundeswehr« will geplante G-20-Proteste inhaltlich unterfüttern. Ein Gespräch mit Alison Dorsch
John Lütten
Unter dem Titel »Wir wollen eure Kriege nicht!« organisieren Sie mehrere Veranstaltungen, die im Vorfeld des G-20-Gipfels über Ursachen und Interessenlagen verschiedener internationaler Konflikte aufklären sollen. Worauf wollen Sie damit hinaus?
Ein Großteil der Anti-G-20-Arbeit, die bereits angelaufen ist, ist unmittelbar aktionistisch ausgerichtet. Uns ist es aber wichtig, dass vorab auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den beteiligten Staaten stattfindet. Insbesondere die USA und die EU sind heute für Ausbeutung, Elend und Kriege im kapitalistischen Weltsystem verantwortlich. Die Linke hierzulande muss sich damit auseinandersetzen, warum und wie unsere herrschenden Klassen diese Konflikte forcieren und dadurch weite Teile des Globus verwüsten.
Welche Relevanz besitzt der Gipfel Ihrer Meinung nach für die beteiligten Wirtschaftsmächte?
Die G-20-Staaten stehen sich zwar vielfach in politischen und militärischen Auseinandersetzungen gegenüber. Dennoch haben sie gleichzeitig auch gemeinsame Interessen. Wenngleich in unterschiedlichem Maße, profitieren sie vom kapitalistischen Weltsystem. Treffen wie der G-20-Gipfel sind Strukturen, die es den Herrschenden ermöglichen, trotz interner Konkurrenzen und Widersprüche vorübergehend Kompromisse auszuhandeln und punktuell strategisch zusammenzuarbeiten.
Ihre Reihe behandelt u. a. die Beziehungen des Westens zu den Golfmonarchien, den Ukraine-Konflikt und die »Afrika-Strategien der imperialistischen Mächte«. Alles Themen, denen auch die hiesige Linke eher wenig Beachtung schenkt.
Wir wollen bewusst auf diese blinden Flecken aufmerksam machen. Wer »internationale Solidarität« wirklich hochhält, der muss eben auch über den Krieg im Jemen, die Beteiligung von bekennenden Faschisten an einer vom Westen gestützten ukrainischen Regierung und die Ambitionen der Bundesregierung in Afrika reden. Eine schlagkräftige Linke muss erklären können, wo die Ursachen für diese Krisen liegen. Nur so kann sie die beteiligten Akteure politisch beurteilen und wirksame Strategien des Protests und Widerstands entwickeln. Wir müssen die außenpolitische Staatsräson Deutschlands und die NATO zur Disposition stellen, wenn wir den Menschen auf der Welt ein Mindestmaß an Selbstbestimmung ermöglichen wollen.
Fehlt Ihnen also ein antiimperialistischer Fokus bei den geplanten G-20-Protesten?
Nicht nur dort. Es mangelt der deutschen Linken auch über die Anti-G-20-Proteste hinaus an klaren friedenspolitischen, antimilitaristischen und antiimperialistischen Positionen. Darum wird der Propaganda des »Menschenrechtsimperialismus« auch von Linken viel zu oft Glauben geschenkt. Imperialistische Kriege sind jedoch eine systemimmanente Notwendigkeit im globalen kapitalistischen Konkurrenzkampf und werden nicht für Frauen oder Demokratie geführt. Die Bundeswehr ist nicht die Caritas. Die internationalen Beziehungen sind ein globales Netz von ökonomischen Ausbeutungsketten. Es wäre Aufgabe der Linken, sich diese Erkenntnisse kritischer Gesellschaftstheorie anzueignen und aus ihr eine Praxis abzuleiten, die an den Kriegsursachen ansetzt.
Sie selbst werden im Juli über die »Bundeswehr im Einsatz an der Heimatfront« referieren. Was erwarten Sie diesbezüglich vom G-20-Gipfel?
Wir gehen davon aus, dass die Bundeswehr im Kontext der Proteste gegen den Gipfel eingesetzt wird. Kooperation von Polizei und Bundeswehr ist längst Alltag – zum Beispiel bei politischen Großereignissen wie dem G-8-Treffen in Heiligendamm 2007 oder dem OSZE-Gipfel in Hamburg vergangenes Jahr. Derzeit sind vor allem unter dem Stichwort »Terrorabwehr« Vorstöße zu beobachten, die bestehende Kooperation und den Einsatz der Armee im Inland auszubauen und sie ideologisch sowie juristisch besser abzusichern.
Stadt Hamburg versucht mit fadenscheinigen Begründungen Demonstration gegen den G-20-Gipfel einzuschränken. Gespräch mit Jan van Aken
Gitta Düperthal
Das Bündnis »Grenzenlose Solidarität statt G 20« befindet sich in Auseinandersetzungen um die Versammlungsfreiheit mit der Hamburger Wirtschaftsbehörde. Dabei geht es um die Abschlussdemo der Aktionswoche gegen den G-20-Gipfel am 8. Juli. Steht auf der Kippe, ob sie stattfinden kann?
Nein, für unsere Abschlussdemo am Ende der Protestwoche mit unterschiedlichen vom Bündnis geplanten Aktionsformen halten wir an der Route fest: Unsere Demo am 8. Juli wird von der Moorweide bis zum Heiligengeistfeld führen.
Aber die zuständige Hamburger Behörde will das verhindern.
Aufgrund von Bauarbeiten stehe die Fläche des Heiligengeistfelds nicht zur Verfügung, heißt es. Sie war aber klug genug, dazu zu schreiben: Nur zwei Tage später wird dieser Platz für den Schlagermove in Hamburg vorbereitet. Insofern handelt es sich wohl eher um den Versuch, mit verwaltungsrechtlichen Tricks die Demo auszuhebeln.
Auch der Behörde muss aber wohl bewusst sein, dass sie mit einer solchen Argumentation mutmaßlich nicht die besten Chancen hat, sich durchzusetzen, wenn dies als Streitfall vor Gericht geht, oder?
Ich habe keine Ahnung, was den SPD-Grünen-Senat umtreibt, so ein blödes Spiel zu spielen. Es muss ihm doch klar sein, dass wir klagen werden, wenn wir die Fläche nicht kriegen.
Was ist der aktuelle Stand?
Zusätzlich zu besagter Absage für den Platz der Abschlusskundgebung hat uns die Polizei schon mitgeteilt: So wie wir die verschiedenen Demorouten von der Moorweide zum Heiligengeistfeld angemeldet haben, wird es nicht gehen. Darüber ist am 7. April ein Gespräch im Polizeipräsidium anberaumt. Wir werden uns zunächst anhören, was sie dazu sagt. Und gegebenenfalls in beiden Angelegenheiten gerichtlich dagegen vorgehen.
Weshalb bestehen Sie auf dem Heiligengeistfeld als Ort der Kundgebung?
Es ist einer der wenigen Plätze in der Nähe der Messe, wo 100.000 Leute Platz finden. Wir wissen zwar nicht, ob 50.000 oder 150.000 Aktivisten teilnehmen werden; müssen aber in jedem Fall für eine große Menge planen. In vielen Städten haben sich Bündnisse gebildet, die sich an Protesten gegen das G-20-Treffen beteiligen wollen. Wir wollen nicht auf die grüne Wiese vor der Stadt, sondern in die Nähe der Messehallen, wo der Gipfel stattfindet.
Von Hamburg bis München, von Barcelona bis Athen, von Toronto bis Sydney bereiten sich Aktivisten vor: Die Woche vor dem Gipfel wird zum Schauplatz vielfältiger Gegenproteste. Welche Themen werden im Mittelpunkt stehen?
Frieden, soziale Gerechtigkeit, Klimawandel. Wir als Partei Die Linke treten dabei vor allem für gerechten Welthandel und globale Gerechtigkeit ein sowie für eine Zukunft in Frieden. Andere werden vorrangig auf die Parole »Stoppt den Klimawandel« setzen. Viele Kurden werden teilnehmen, um eine dauerhafte friedliche Autonomielösung für die Kurden zu erreichen – und um gegen den beim Gipfel anwesenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu protestieren.
Das Bündnis plant unter anderem, den reibungslosen Ablauf des G-20-Machtspektakels empfindlich zu stören.
Das betrifft nicht die Demonstration am 8. Juli in Hamburg, sondern wahrscheinlich eher das Bündnis, das für den 7. Juli zu Blockaden aufgerufen hat. Für die Abschlusskundgebung ist eine große Breite geplant; Menschen, die einen Kinderwagen schieben, und Rollstuhlfahrer sollen teilnehmen können. Darüber sind wir uns alle im Bündnis einig, auch die linksradikalen Gruppen. Sollte es dort also zu Gewalt kommen, kann dies nur von seiten der Polizei sein. Am 2. Juli wird es eine große Auftaktaktion in Hamburg geben und unter der Woche eine Gegenkonferenz.
Gibt es Streit, wie radikal Aktionen sein sollen?
Nein, unterschiedliche Gruppen tragen verschiedene Aktionen mit; einige nur zwei oder drei davon, andere alle. Wir als Partei Die Linke rufen vor allem zur Demo am 8. Juli auf. Wir finden aber eine Vielfalt von Herangehensweisen gut und distanzieren uns nicht davon.
Am 7. und 8. Juli 2017 soll in Hamburg der G-20-Gipfel stattfinden. Das Bündnis »G 20 entern« ruft zu Protesten auf. Ein Gespräch mit Noah Kramer
Dr. Seltsam
So, liebe Freunde, ich darf euch präsentieren: einen Genossen vom Bündnis »G 20 entern«. Ihr wollt uns alle hier aufrufen, dass wir zu den Aktionen gegen G 20 nach Hamburg kommen. Informierst du uns kurz über die Basics?
Vom 7. bis 8. Juli findet der Gipfel statt. Vom 2. Juli bis zum 9. Juli gibt es ein Protestcamp. Wir werden auch schon in den Tagen vor dem eigentlichen Gipfel beginnen, verschiedenen Profiteuren von Krieg und Neoliberalismus in Hamburg Besuche abzustatten und diese kenntlich machen. Darüber hinaus wird es am 11. Februar in Hamburg eine Aktionskonferenz geben. Da wollen wir inhaltlich diskutieren, in welchem Stadium sich der Kapitalismus befindet, was der Imperialismus gerade anrichtet. Dort wollen wir auch das praktische Rüstzeug vermitteln, das es braucht, damit wir im Juli unseren Widerstand entschlossen auf die Straße tragen können.
Man darf also gespannt sein. Aber, man hat ja schon in den Nachrichten gesehen, dass das umfassend eingezäunt und abgesichert wird. Wird man überhaupt demonstrieren können?
Wir können guten Gewissens alle Menschen nach Hamburg einladen, um sich an den vielfältigen Aktionen gegen den Gipfel zu beteiligen. Wir haben gerade mit dem OSZE-Treffen im vergangenen Dezember in Hamburg die Erfahrung gemacht, was es heißt, wenn weit über 10.000 Polizisten mit allem, was dazu gehört, also Wasserwerfern, gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern, eine Stadt quasi besetzen. Gleichzeitig ist es für uns der Ansporn zu sagen, jetzt gehen wir erst recht dorthin. Jetzt gehen wir erst recht auf die Straße. Wenn sich die G 20 in Hamburg treffen wollen, dann wird das nicht ungestört ablaufen. Da sind wir ganz entschlossen.
Wer Hamburg ein bisschen kennt, der weiß, es ist alles sehr kleinteilig. Das Treffen ist wahrscheinlich im Kongresszentrum am Bahnhof Dammtor. Das kann man doch gar nicht »abdichten«. Ich meine, da geht man links aus der S-Bahn raus, da ist man direkt dort. Dann ist das Schanzenviertel eine S-Bahn-Station weiter. Und das müsst ihr alles in eins kriegen, dass nun die Gegenkräfte sich nicht gegenseitig auf die Zehen treten.
Ich glaube, Hamburg ist groß genug. Wir werden uns auch nicht von der Polizei vorschreiben lassen, wo wir zu demonstrieren haben, wo wir unseren Widerstand artikulieren. Wir sind da breit aufgestellt, auch der Hafen wird dieses Mal ins Visier genommen werden, um auch wirklich der Hamburger Wirtschaft einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Wenn sie uns diesen Gipfel und ihre Besatzungsmacht aufzwingen werden, dann werden wir das so nicht hinnehmen. Und wir haben auch schon beim OSZE-Treffen im Dezember erlebt, dass die vielen Polizisten, die Scharfschützen, die Hubschrauber, die gepanzerten Fahrzeuge, dass die sicherlich auf den ersten Eindruck sehr massiv wirken und auch dazu dienen sollen, Leute einzuschüchtern. Aber genau das hat nicht geklappt.
Der Kapitalismus zerstört das Bekannte und Traditionelle. Viele Menschen erfahren das als existentielle Verunsicherung. Die Linke darf das Leiden am Fortschritt nicht den Rechten überlassen, sondern muss Wege finden, gesellschaftliche Ängste nach links zu wenden
Götz Eisenberg
Erich Kästner hat 1958 in Hamburg anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung eine Rede gehalten, in der es heißt: »Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. (…) Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.«
Dieser Passus enthält Handlungsanweisungen für diejenigen unter uns, die in Deutschland und Europa die Gefahr einer Faschisierung erkennen. Wir müssen uns dringend um linke Aneignungsformen von Energien, Sehnsüchten, Leidenserfahrungen und Ängsten bemühen. Sonst werden sie von den Rechten instrumentalisiert und nach rückwärts in Gang gesetzt. Wenn es den Faschisten und Rechtspopulisten gelingt, wie in den Jahren vor 1933, die real existierende kapitalistische Entfremdung in die völkische Schimäre der »Überfremdung« zu verwandeln, werden wir Zeugen einer Faschisierung – mit Migranten, Flüchtlingen und Linken in der Rolle der Sündenböcke und Opfer. Die Umwandlung von Entfremdungserfahrungen in Hass auf Fremde und Fremdes ist eine basale rechte Operation und das Geheimnis des Erfolges der sogenannten Rechtspopulisten. Dabei nicht mitzumachen und statt dessen darauf zu beharren, dass es die sich selbst antreibende Teufelsmühle des Kapitals ist, die uns alles entfremdet, markiert eine klare Scheidelinie zwischen linker und rechter Politik.
Im Namen »des Volkes«
Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – es ist nicht mehr, wie zu Karl Marx‘ Zeiten, das Gespenst des Kommunismus, sondern das des Populismus. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen, wo »populus« das Volk bezeichnet. Soziologisch verweist »Volk« auf vorbürgerlich-feudale Zustände. Könige und Kaiser sprachen von »meinem Volk«. Die bürgerliche Gesellschaft ist durch den Klassengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat gekennzeichnet, nicht durch den Gegensatz von der in Stände und Kasten sich gliedernden Masse des Volkes und der Obrigkeit. »Das Volk« existiert im Alltag des bürgerlichen Politikbetriebs eigentlich nur als legitimierendes »Ding an sich«, das für die Konstruktion einer politischen Gesamtordnung benötigt wird. Schließlich hatte das Grundgesetz »das Volk« als Souverän eingesetzt, von dem alle Staatsgewalt ausgehen sollte. »Aber wo geht sie hin?« fragte Brecht.
Souverän ist »das Volk« nur in den Schriftsätzen der Staatsrechtler. Gerichte verkünden Urteile in seinem Namen; Politiker rufen es gelegentlich an, wenn sie irgendwelche Sonderinteressen als Ausdruck eines allgemeinen Willens erscheinen lassen wollen. Ansonsten stört es eher den geregelten Betrieb, der bestens ohne seine direkte Beteiligung auskommt. Die politischen Institutionen und ihr Personal haben sich verselbständigt und führen ein Eigenleben. »Das Volk« hat alle vier Jahre das Recht, zwischen verschiedenen Fraktionen dieses Personals zu wählen und zu entscheiden, wer in der nächsten Legislaturperiode als »geschäftsführender Ausschuss« (Marx) der herrschenden Klasse fungiert. Merkwürdigerweise hat der Kapitalismus die Einführung der Massendemokratie überlebt. Das lässt sich nur durch den Umstand erklären, dass die Massen bei ihrer Wahlentscheidung gegen ihre eigentlichen, wohlverstandenen Interessen agieren und die Spielregeln bürgerlicher Politik akzeptieren.
Aber gegenwärtig erschreckt »das Volk« die etablierten Politiker, die in seinem Namen agieren. Es betritt unangemeldet und ohne Einladung die politische Bühne und klagt jene durch die komplexen repräsentativen Mechanismen moderner Massendemokratien verlorengegangene Souveränität ein. Der Begriff »Populismus« ist inzwischen zu einem Kampfbegriff geworden, der all diese Einmischungsversuche des »Volkes« als illegitim und irrational verteufelt und in den Bereich des Anrüchigen verweist. Dieses Verdikt trifft Linke wie Rechte gleichermaßen. Die Bezeichnung der Anhänger der Populisten als »Pöbel« und »Mob« zeugt davon, dass bei den Herrschenden die alte Verachtung für die sogenannten Unterschichten immer noch virulent ist.
Linker Populismus?
Der unmittelbare Ausdruck der Ansichten und Wünsche der »kleinen Leute« ist nicht per se progressiv und eine Kraft gesellschaftlichen Wandels; er kann auch das Gegenteil darstellen. Die Linke kann sich nur solange auf »das Volk« berufen und »Alle Macht dem Volke!« fordern, wie dieses das allgemeine Interesse und die Vernunft repräsentiert.
Das hiermit gemeinte »Volk« besteht nicht aus denjenigen, die heute die bürgerliche Demokratie stützen: die Wähler und Steuerzahler, die große Zahl der braven Staatswichtel. Das Volk, das die Macht hätte, sich zu befreien, wäre nicht mehr dasselbe wie das, das heute den Status quo reproduziert – selbst wenn es aus denselben Individuen bestünde. So richtig es ist, dass das Volk sich selbst aus seiner Knechtschaft befreien muss, so richtig ist es auch, dass es sich zuerst von dem befreien muss, was von der Gesellschaft, in der es zu leben gezwungen ist, aus ihm gemacht wurde.
In seiner gegenwärtigen Verfassung ist »das Volk« eher der Bezugspunkt der Rechten, die die umlaufenden Vorurteile, Ressentiments und Meinungen aufgreifen und so, wie sie sie vorfinden, für ihre Zwecke in Dienst nehmen können. So ist es Donald Trump gelungen, das »große Unbehagen« der kleinen Leute und ihre Wut auf das Establishment für sich und die Republikaner zu mobilisieren. Sein Triumph lehrt uns: Man sollte die Angst, enteignet und herumgestoßen zu werden, nicht ignorieren.
Linke haben es mit Versuchen, diese Energien zu nutzen, natürlich schwerer. Wirkliche Aufklärung ist im Vergleich zu der rechten Indienstnahme von Ressentiments und Wut mühsam und schmerzhaft. Sie muss den steinigen Acker der Vorurteile bestellen, den herumliegenden Rohstoff an alltäglichen Ängsten komplizierten Bearbeitungsprozessen unterziehen. Sie muss lange Wege und Umwege gehen, um von der Erscheinungswirklichkeit zum Wesen der Dinge vorzudringen. Aber wir müssen es bei Strafe unseres Untergangs versuchen und dürfen den verstreuten Rohstoff nicht den Rechten überlassen. Leo Löwenthal und Norbert Guterman haben in ihrer Studie über »Falsche Propheten« schon Ende der 1940er Jahre dazu geschrieben: »Man kann diese Gefühle nicht einfach als zufällig oder den Menschen eingeredet abtun; sie gehören zum Grundbestand der modernen Gesellschaft. Misstrauen, Abhängigkeit, Sich-ausgeschlossen-Fühlen, Angst und Desillusionierung fließen in eins zusammen und ergeben einen grundlegenden Zustand im heutigen Dasein: das große Unbehagen.«
Ich will im folgenden versuchen, gegenwärtige Formen des »großen Unbehagens« zu umreißen.
Einbruch der Zukunft
In seinem Erzählband »Raumpatrouille« von 2016 schildert Matthias Brandt eine Reise mit seiner Mutter in einen kleinen Ort in Norwegen, in dem sich das Ferienhaus der Familie Brandt befand. »Nach dem Ausladen des Gepäcks öffnete sie alle Fenster und Türen und ließ die kühle Mailuft durchs Haus wehen. Sie schaltete das alte Radio an, Musik tönte über das Grundstück bis in den dahinter gelegenen Wald. Schön war es in dieser Welt, die sich nicht gleich veränderte, wenn man ihr mal kurz den Rücken zudrehte.«
Brandt beschreibt hier eine Erfahrung, die viele Menschen machen, seit der gesellschaftliche Wandel sich drastisch beschleunigt hat: Kehrt man irgend etwas den Rücken zu, ist es beim Wiederumdrehen entweder verschwunden oder bis zur Unkenntlichkeit verändert. Man kommt nach Jahren in seinen Heimatort und findet kaum etwas wieder. Nichts ist mehr an seinem angestammten Platz. War hier nicht die Schule, die man besucht, dort das Kino, in dem man seine ersten Filme gesehen hat? Wo ist der Sportplatz geblieben, auf dem man das Glück des Fußballspielens und die Wonnen der Gemeinschaft entdeckte? War hier nicht mal die Post und dort drüben der Schuster? Wo sind die alten Ulmen geblieben und die Bänke im Schatten?
Ganze Landschaftsbilder verändern sich, Wälder werden gerodet, Bach- und Flussläufe verlegt, Autobahntrassen zerteilen den Raum. Demnächst sollen im Nahverkehr die Papierfahrkarten abgeschafft und durch E-Tickets ersetzt werden. Die Kassiererinnen in den Supermärkten werden nach und nach verschwinden und durch Scanner ersetzt, die jeder Kunde selbst in die Hand nehmen soll. Irgendwann wird man das Bargeld ganz aus dem Verkehr ziehen. Die Digitalisierung fegt über das Land wie ein Sturm. Die eingespielte Ordnung der Dinge wird erschüttert und durcheinandergewirbelt.
Routinen sind ja dazu da, Menschen von den Strapazen ständiger Entscheidungsfindung zu entlasten. Aber es geht heute im Zeitalter der »Projekte« nicht mehr darum, Leute zur Erfüllung bestimmter Routinen zu dressieren und zur Betriebstreue anzuhalten, sondern umgekehrt, sie von der Fixierung auf bestimmte Berufsbilder wegzubringen. Es soll gar nicht mehr dazu kommen, dass sich Routinen und Bindungen ausbilden. Die Subjekte müssen sich darauf einstellen, nicht mit Kontinuitäten, sondern mit Diskontinuitäten zu leben. Sie werden darauf verpflichtet, sich für Einflüsse und Veränderungen offen zu halten und die Fähigkeit zu entwickeln, sich psychisch permanent »umzumontieren« und neu zusammenzusetzen.
Flexibilität und Mobilität sind die Kardinaltugenden einer Gesellschaft, deren einzige Konstanz der ständige und immer schnellere Wandel ist. Wohlgemerkt: Nicht die Flüchtlinge sind die Ursache dieser Verunsicherung, wie rechte Populisten glauben machen wollen, sondern der Kapitalismus selbst ist es, der nicht existieren kann, ohne bei seiner Jagd nach neuen Verwertungsmöglichkeiten ständig alles umzuwälzen und von Innovation zu Innovation zu hetzen.
Der Einbruch der Zukunft in die Gegenwart eröffnet den Menschen nicht nur Chancen, sondern verunsichert sie auch. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung hat Christa Wolf postuliert, wir müssten lernen, »Freude aus Verunsicherung (zu) ziehen«, und diesen Imperativ sogleich mit der skeptischen Frage verbunden: »Wer hat uns das je beigebracht?« Je traditioneller ein Mensch geprägt ist, je mehr man ihn in einen Charakterpanzer gezwängt hat, desto schwerer wird er sich damit tun, angesichts von Unbekanntem Freude zu empfinden. Vielen Menschen geht es wie Meister Anton, der am Ende von Friedrich Hebbels Theaterstück »Maria Magdalena« sinnend stehenbleibt und ausruft: »Ich verstehe die Welt nicht mehr!«
Der gerade verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat in seinem letzten Buch »Die Angst vor den anderen – ein Essay über Migration und Panikmache« zwei verschiedene Reaktionen auf das massenhafte Auftauchen von Fremden unterschieden. In den gentrifizierten Rucola- und Smoothie-Bezirken der Großstädte treffe man auf »Mixophilie«, das heißt eine Vorliebe für vielfältige, heterogene Umgebungen, gepaart mit der Lust auf neue Erfahrungen und Abenteuer; bei den Verlierern der Globalisierung eher auf »Mixophobie«, das heißt die Angst vor der Vermischung und dem Einbruch des Unvertrauten ins Reich des Gewohnten. Didier Eribon hat dieses Phänomen in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« auf den Punkt gebracht. »Man merkt schon, wo du wohnst. In deinen Vierteln gibt’s so was nicht«, antwortet die Mutter des linken und »mixophilen« Soziologen auf dessen Frage, warum sie den Front National wähle.
In Oskar Negts gerade erschienener Autobiographie »Überlebensglück« spielen die Überlegungen des in den USA geborenen und später nach Israel emigrierten Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eine wichtige Rolle. Dieser hat in seinem Buch »Salutogenese« Faktoren benannt, die für die Aufrechterhaltung der menschlichen Gesundheit von Bedeutung sind. Es geht vor allem um das Gefühl der Kohärenz, das er als zentrale Voraussetzung von Gesundheit bezeichnet und das auf guten Beziehungserfahrungen basiert. Negt fasst Antonovsky wie folgt zusammen: »Zur Kohärenz gehören drei Aspekte: die Fähigkeit, die Situation, in der man sich befindet, und die Zusammenhänge zu verstehen – also das Gefühl der Verstehbarkeit; weiterhin die Überzeugung, dass man das eigene Leben gestalten kann – das Gefühl der Handhabbarkeit sowie schließlich der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat – das Gefühl der Sinnhaftigkeit.« Ein intaktes Gefühl von Kohärenz hält die Angst im Zaum, die die Grundlage der meisten psychischen Erkrankungen ist.
Wenn wir uns vor Augen halten, wie es gegenwärtig für viele Menschen um die Verstehbarkeit ihrer Lage, um die Möglichkeit, ihr Leben aktiv zu gestalten und als mit Sinn erfüllt zu erleben, bestellt ist, wird klar, dass sie unter inkohärenten, Angst auslösenden und krankmachenden Bedingungen zu leben gezwungen sind. Statt Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit erfahren sie Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Ohnmacht und ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Sie erleben sich als Anhängsel intransparenter finanzieller Abstraktionen und anonymer Superstrukturen und spüren, dass es auf sie und ihre Motive überhaupt nicht ankommt.
Auf ihrem Gipfelpunkt scheint sich die Konzentration der ökonomischen Macht in Anonymität zu verwandeln. Die Menschen wissen nicht mehr, wen sie für ihr Unglück verantwortlich machen und gegen wen sie ihre berechtigte Wut richten sollen. In ihrem Roman »Reisende auf einem Bein« lässt Herta Müller ihre Protagonistin, die ebenso wie die Autorin aus Rumänien in die Bundesrepublik emigriert war, sagen: »In dem anderen Land habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehen. Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.«
Auf der Basis dieser verbreiteten Erfahrung wächst die Anziehungskraft populistischer Vereinfachungen und Verschwörungstheorien. »Die Bösen sind wir los, das Böse ist geblieben«, hat der Sozialpsychologe Peter Brückner geschrieben. Verschwörungstheorien bieten den Vorteil, dass »das Böse« pseudologisch aus seiner Anonymität herausgeholt wird und man am Ende den oder die Bösen präsentiert bekommt.
Wo Veränderungen und Wandlungen epochalen Ausmaßes geschehen, wie in den letzten Jahrzehnten im Kontext der auf die Mikroelektronik gestützten dritten industriellen Revolution, entsteht eine Diskrepanz zwischen dem gewaltigen Überhang an veränderten Verhältnissen und der Innenausstattung und Lernfähigkeit der Menschen. Das subjektive Verarbeitungsvermögen vieler hinkt den objektiven Umbrüchen hinterher. Die Art und Weise, wie sie gelernt haben, ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen zu organisieren, taugt nicht länger zur Erfassung vieler neuartiger Phänomene.
Die Menschen fallen aus ihrer gewohnten Ordnung und machen massenhaft eine Erfahrung, die der Schriftsteller Alexander Kluge als »Sinnentzug« beschrieben hat. Darunter versteht er »eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können«. Die Synchronisation von Identitäts- und Realitätsstruktur, die sich während ruhigerer Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung herstellt und den Individuen das Gefühl der Kohärenz ermöglicht, geht verloren. Bisher gut angepasste Menschen haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie fühlen sich aus ihrer Ordnung der Dinge katapultiert, desorientiert, entwirklicht und werden von der Angst heimgesucht, eines nicht mehr fernen Tages vollends aus der Welt zu fallen. Nach der im Namen des Neoliberalismus betriebenen Schleifung des Sozialstaats stellt sich für viele die Frage: Welche Netze sind imstande, diesen Sturz aufzufangen? Wenn die Unübersichtlichkeit eskaliert und die symbolische Ordnung der Welt durch ein Übermaß fremder, unverständlicher Bedeutungen zu erodieren droht, beginnen die Menschen von der Gartenlaube zu träumen. Wie im Nähkästchen der Großmutter liegt dort alles an Ort und Stelle. Im Dämmerlicht des Kerzenscheins wird aus der bürgerliche Kälte die heimelige Wärme der »Volksgemeinschaft«.
In vielen Strömungen und Bewegungen der Gegenwart artikulieren sich Bedürfnisse nach Nichtveränderung: Es soll endlich mal alles so bleiben, wie es ist. Solche regressiven Sehnsüchte werden traditionell von der politischen Rechten aufgegriffen und mit rückwärtsgewandten Konzepten beantwortet. Es sind faschistische Rattenfänger, die den herumliegenden Angstrohstoff aufsammeln und für ihre Ziele missbrauchen. Aber sind diese Sehnsüchte schon per se rechts konnotiert? Sind nicht auch andere, linke Formen des Umgangs mit diesen Leidenserfahrungen möglich und denkbar?
Kältestrom« und »Wärmestrom«
Der Philosoph Ernst Bloch hat in seinem Buch »Erbschaft dieser Zeit« der Weimarer Linken, vor allem den Kommunisten, den Vorwurf einer »Unterernährung an sozialistischer Phantasie« gemacht. Die Linke habe allzu vieles dem Feind überlassen, dem der Missbrauch dieser Themen leichtgemacht wurde, »weil die echten Revolutionäre hier nicht Wache gestanden haben«. Die linke Propaganda sei vielfach kalt, schulmeisterlich und ökonomistisch gewesen. Während die Rechten in Bildern und Metaphern schwelgten, die der Phantasie der Menschen Nahrung boten, langweilten die Linken mit dem sturen Ableiern von Parolen: »Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen. Die Kommunisten strapazieren oft gleichfalls Schlagworte, aber viele, aus denen der Alkohol längst heraus ist und nur Schema drinnen. Oder sie bringen ihre richtigen Zahlen, Prüfungen, Buchungen denen, die den ganzen Tag über mit nichts als Zahlen, Buchungen, Büro und Trockenarbeit verödet werden, also der gesamten ›Wirtschaft‹ subjektiv überdrüssig sind.«
Die auf die Entlarvung ökonomischer Widersprüche fixierte Linke geriet in den Bann des »Kältestroms«, der von der kapitalistischen Ökonomie ausgeht, und vernachlässigte den »Wärmestrom«, der das ist, was die Phantasie anregt, die Menschen berührt und antreibt. Die Vorstellungen von der Revolution waren blutleer und abstrakt; manchmal schien es, als wollte man sie nur vollziehen, um den historischen Materialismus durchzusetzen, wie Brecht einmal bissig bemerkte. Der Triumph des Faschismus resultierte in Blochs Wahrnehmung auch aus der Unfähigkeit der sozialistischen und kommunistischen Linken, die unglücklichen, hungrigen – sinnhungrigen! –, ohne Ziel umherirrenden Menschen satt zu machen: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, besonders wenn er keines hat.«
Lebte Ernst Bloch noch, würde er der heutigen Linken empfehlen, sich um emanzipatorische Aneignungsformen aktueller Leidenserfahrungen zu bemühen und den Begriff »Heimat« der nostalgischen Rechten abspenstig zu machen, die ihn betrügerisch ausschlachtet. Das Leiden der Menschen unter dem ruinösen Prinzip des technischen Fortschritts ist massenhaft vorhanden, aber es ist in den psychischen Untergrund gedrängt, wo es sich in ein chiffriertes, körpersprachliches Ausdrucksgeschehen verwandelt, mit dessen Bearbeitung rechte und esoterische Scharlatane befasst sind. Die gegenwärtigen Ausdrucksweisen des »großen Unbehagens« aufzunehmen und ihre gesellschaftliche Verursachung kenntlich zu machen, wäre Aufgabe der heutigen Linken.
Linker Fortschrittsglaube
Warum tut sich die Linke mit der Aneignung der angedeuteten Leidenserfahrungen so schwer? Weil sie kein Sensorium für die Leiden der Menschen unter dem besitzt, was man euphemistisch »Fortschritt« nennt und was doch in Wahrheit nichts anderes ist als der fortdauernde Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung. Der real gewordene Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts und der Kapitalismus wachsen auf demselben Grund. Sie basieren auf dem gleichen Typus instrumenteller Rationalität und weisen das gleiche Raubbauverhältnis zur inneren und äußeren Natur auf. Die Natur ist ihnen Konterpart und bloßes Material.
Eine der Urszenen der linken Fortschrittsgläubigkeit ist uns durch Wilhelm Liebknecht überliefert. Auf dem Sommerfest des Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins begegnet er 1850 der Familie Marx. Über sein Gespräch mit Marx berichtet er: »Bald waren wir auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, und Marx spottete der siegreichen Reaktion in Europa, welche sich einbildete, die Revolution erstickt zu haben und die nicht ahne, dass die Naturwissenschaft eine neue Revolution vorbereite. Der König Dampf, der im vorigen Jahrhundert die Welt umgewälzt, habe ausregiert, an seine Stelle werde ein noch ungleich größerer Revolutionär treten: der elektrische Funke. Und nun erzählte mir Marx, ganz Feuer und Flamme, dass seit einigen Tagen in Regent’s Street das Modell einer elektrischen Maschine ausgestellt sei, die einen Eisenbahntrain ziehe. ›Jetzt ist das Problem gelöst – die Folgen sind unabsehbar. Der ökonomischen Revolution muss mit Notwendigkeit die politische folgen, denn sie ist nur deren Ausdruck.‹ In der Art, wie Marx diesen Fortschritt der Wissenschaft und der Mechanik besprach, trat seine Weltanschauung und namentlich das, was man später als die materialistische Geschichtsauffassung bezeichnet hat, so klar zutage, dass gewisse Zweifel, die ich bisher noch gehegt hatte, wegschmolzen wie Schnee in der Frühlingssonne.«
In dieser simplifizierten und kruden Form ist der historische Materialismus während der Zweiten Internationale unters Volk und in die Arbeiterbewegung gekommen. Die Geschichte und der technische Fortschritt werden uns wie auf einer Rolltreppe nach oben in eine lichte Zukunft tragen. Der Sozialismus schrumpfte darauf zusammen, die Produktivkräfte von ihren bürgerlichen Fesseln zu befreien und der ökonomischen Vernunft vollends zum Durchbruch zu verhelfen. Aber am Ende blieb von Lenins Formel, Kommunismus sei »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«, nur die Elektrifizierung.
Wenn wir uns in den Stand setzen wollen, das Leiden der Menschen am kapitalistischen Fortschritt aufzugreifen und dies nicht den Rechten zu überlassen, müssen wir die Bindung des Sozialismus an das Leistungsprinzip und seine Werte kritisch hinterfragen und den Fetischismus der Produktion und der Technik überwinden. Das niedergedrückte und an der Entfaltung gehinderte Leben bildet Schattenräume, in denen Träume, Wünsche und Sehnsüchte entstehen, die die Linke nicht einfach als irrational abtun und ignorieren darf. Es sind Wünsche nach Glück, Solidarität, Würde, menschlichen Zeitmaßen und Stille; Träume von Heimat, aufgehobener Entfremdung und einem Leben ohne stupide Plackerei und versklavenden Konsum.
Aktivisten gegen G-20-Gipfel 2017 in Hamburg werten Veranstaltungsort mitten in der Stadt als Provokation. Gespräch mit Martin Dolzer
Kristian Stemmler
Für den 8. Juli 2017 ist eine Großdemo gegen den G-20-Gipfel in Hamburg angemeldet. Worum geht es dem Bündnis?
Die G20 sind ein durch nichts demokratisch legitimierter Zusammenschluss von Regierenden, die sich anmaßen, Entscheidungen von weltpolitischem Ausmaß zu treffen. Diese Regierungen sind hauptverantwortlich für die Destabilisierung der Welt durch Krieg, asymetrische Handelsbeziehungen, Rüstungsproduktion und zunehmende soziale Ungleichheit. Bei den G-20-Treffen verhalten sie sich als »Weltregierung« und versuchen, Kompetenzen zu erschleichen, die – wenn überhaupt – den Vereinten Nationen zustehen würden.
Und effektiv sind diese Gipfel wohl auch eher nicht.
Ja. G-20-Gipfel werden immer kostspieliger, produzieren vor allem Publicity für die austragenden Regierungen sowie eine Menge wertloser Absprachen. Dagegen hat sich ein breites Bündnis formiert, das auch einen Gegengipfel durchführen wird, auf dem thematisiert wird, wie sich die Mehrheitsbevölkerung, eine friedliche und sozial gleiche Welt vorstellt. Ich bin mir sicher, dass eine Mehrheit der Hamburger, ähnlich wie gegen Olympia, auch gegen eine Austragung des G-20-Treffens ist.
Hamburgs Justizbehörde schafft im Knast in Billwerder Kapazitäten für Festnahmen beim Gipfel, baut außerdem auf der Elbinsel Hahnöfersand dafür einen früheren Frauenknast um. Was läuft da?
Diese Pläne sind zynisch. Der Senat steckt Geld in den Bau einer Kurzzeit-U-Haftanstalt, während Resozialisierung und Betreuungsintensität im benachbarten Jugendvollzug in Hahnöfersand heruntergefahren werden. Die Haftbedingungen werden zunehmend unerträglich. Justizbeamte klagen über Überlastung. Gebäude rotten vor sich hin. Das ist verfehlte Justizpolitik mit dem Fokus auf Repression. Eine kritische Auseinandersetzung mit den G20 soll so delegitimiert und kriminalisiert werden. Es ist zu befürchten, dass wie bei den Protesten gegen Castortransporte und die G8 in Heiligendamm rechts- und verfassungswidrig gegen berechtigten Protest vorgegangen werden soll.
Die Welt munkelte im August von zum Gipfel anreisenden »militanten Linksextremisten aus Italien, Griechenland und Frankreich«, die »als deutlich gewaltbereiter als ihre deutschen Genossen« gelten. Wie militant können die Proteste werden?
Durch eine Fixierung auf Militanz und Gewalt wird von der berechtigten Kritik an den G20 abgelenkt. Die Gipfel wurden lange Zeit bewusst nicht in Metropolen ausgetragen, um Eskalationen zu vermeiden. Seit einiger Zeit werden sie jedoch in Städten wie Toronto im Jahr 2010 durchgeführt. Der Etat für die Sicherheitsmaßnahmen dort betrug eine Milliarde Dollar. 20.000 Polizisten sperrten die Innenstadt komplett ab. Das war eine neue Stufe der Militarisierung.
Droht das auch in Hamburg?
Ein ähnliches Szenario wird mit der Absperrung ganzer Stadtteile und der Erprobung von »Aufstandsbekämpfung« mit unverhältnismäßigen Mitteln für Hamburg angedacht. Den Gipfel am Rande des Schanzenviertels, einem Hamburger Szenestadtteil, durchzuführen, ist eine absurde und auf Eskalation angelegte Machtdemonstration, die militante Proteste geradezu provoziert.
Erfahrungen wie bei den Protesten gegen die EZB-Zentrale in Frankfurt am Main zeigen, dass Ausschreitungen vom Mainstream zur Propaganda gegen links und für einen Law-and-Order-Diskurs genutzt werden. Wie entgeht man dieser Falle?
In Frankfurt wurde der Linken-Politiker Ulrich Wilken, Anmelder der Demonstration, diffamiert, weil er sich nicht ausreichend von Gewalt distanziert hätte. Ich finde wichtig, den Gesamtzusammenhang zu sehen. Es ist verständlich, dass besonders junge Menschen ohnmächtig oder auch wütend werden, wenn sie alltäglich mit Perspektivlosigkeit, Krieg, Angriffen auf ihre oder anderer Menschenwürde, der Zerstörung von solidarischen und kulturellen Räumen und der Arroganz der Herrschenden konfrontiert sind. Diese strukturelle Gewalt wird am stärksten von der Troika, der Bundesregierung oder auch den G20 repräsentiert, durch martialische Polizeiaufgebote und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit die Ohnmacht verstärkt. Deshalb ist es wichtig, auf einem Gegengipfel Positionen zu diskutieren und Kritik auch auf der Straße zum Ausdruck zu bringen.
Anlässlich des G-20-Gipfels, der im kommenden Jahr in Hamburg stattfinden soll, mobilisiert ein breites Bündnis unter dem Motto »G20 – not welcome« zu einer internationalen Großdemonstration am 8. Juli 2017 in der Hansestadt. In einer am Donnerstag verbreiteten Pressemitteilung der Aufrufer heißt es dazu:
(…) Die Demonstration wird aus mehreren Protestzügen bestehen und einen großen Teil der Hamburger Innenstadt in Anspruch nehmen. (…) Erwartet werden mehrere zehntausend Menschen aus ganz Europa. »Beim G-20-Gipfel in Hamburg treffen sich einige der übelsten Vertreterinnen und Vertreter der heutigen Weltpolitik, um die weitere Gestaltung des globalen Kapitalismus miteinander auszuhandeln. Wer sich solche Gäste einlädt, lädt sich auch den internationalen Protest ein«, sagte Werner Rätz, einer der Sprecher des Demobündnisses und bei ATTAC aktiv, am Donnerstag in Hamburg.
Bündnissprecherin Emily Laquer, aktiv bei der Interventionistischen Linken und selbst US-Amerikanerin, ergänzte: »Es sind die Eliten des globalen Kapitalismus, die eine Welt der Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit geschaffen haben, und immer wieder demagogische Monster wie Donald Trump hervorbringen. Gegen die radikale Rechte und gegen das Neoliberale, gegen Trump und Merkel, setzen wir eine dritte Kraft der Solidarität. Zu Zehntausenden werden wir im Juli in Hamburg die Straßen um das Gipfelspektakel erobern.«
Yavuz Fersoglu, ebenfalls Sprecher des Demobündnisses und aktiv beim Demokratischen Gesellschaftszentrum der Kurdinnen und Kurden in Deutschland (Navdem), sagte: »Die Kurdinnen und Kurden erfahren unmittelbar, was die Teile-und-Herrsche-Politik der G-20-Staaten an Elend, Flucht und Krieg mit sich bringt. (…)«
Und Bündnissprecher Sedat Kaya, aktiv bei der Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF), sagte: »Beim G-20-Gipfel in Hamburg wird von einer kleinen Gruppe von Menschen unter Ausschluss der öffentlichen Meinung nur über eines verhandelt: die weitere Aufteilung und Ausbeutung der Welt unter den großen Mächten der Welt. Die Bundesregierung will in den weltweiten Verteilungskämpfen ihre Rolle als Weltmacht festigen und weiter ausbauen. Zeugnis dieser Politik sind die zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr und deren Ausweitung im Nahen Osten und an der Grenze zu Russland. Die Bundesregierung will Absatz- und Investitionsmärkte, geostrategische Positionen und Ressourcen für deutsche Banken und Konzerne sichern und weitere erkämpfen. Dabei scheut sie auch nicht davor zurück, in dem faschistoiden Erdogan-Regime einen engen Verbündeten zu sehen. (…) Mit unserem Protest setzen wir ein Zeichen gegen die Aufrüstung und Militarisierung in Deutschland sowie die Kriege weltweit.«
Das Demobündnis gegen das G- 20-Treffen in Hamburg hat seine Beratungen Ende Oktober aufgenommen. In ihm arbeiten zahlreiche Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen zusammen. Darunter sind ATTAC Deutschland, das Demokratische Gesellschaftszentrum der Kurdinnen und Kurden in Deutschland (Navdem), die DGB-Jugend Hamburg, Erlassjahr.de, die Föderation der Demokratischen Arbeitervereine (DIDF), das Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung Hamburg, Gegenstrom Hamburg, die Interventionistische Linke, die Naturfreundejugend Hamburg, die Partei Die Linke, der Rote Aufbau Hamburg sowie Aktive aus dem Hamburger Flüchtlingsrat, aus Recht-auf-Stadt-Zusammenhängen und anderen Hamburger Gruppen. (…)
Hamburg: Nach Brandstiftung an Autos eines Polizisten machen Politiker Stimmung gegen Linke
Kristian Stemmler
Knapp zehn Monate vor dem G-20-Gipfel in Hamburg spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen Teilen der linken Szene der Stadt und der Polizei offenbar zu. In der Nacht zum Freitag wurden zwei Autos eines ranghohen Polizisten, ein Nissan-Geländewagen und ein VW Polo, auf dessen Privatgrundstück im Vorort Lemsahl-Mellingstedt in Brand gesetzt. Die Polizei geht nach Medienberichten von einer politisch motivierten Tat aus, auf dem Internetportal linksunten.indymedia.org wurde wenige Stunden nach der Tat ein anonymes Bekennerschreiben veröffentlicht.
Offensichtlich ist der Polizeiführer gezielt ausgewählt worden. Es handelt sich um Polizeidirektor Enno Treumann, der als Chef der Region Mitte I vier Kommissariate der Innenstadt und die im April aufgestellte »Taskforce Drogen« leitet, die auf St. Pauli, im Schanzenviertel und in St. Georg schwarze Kleindealer jagt. Kritiker dieses Vorgehens werfen der Taskforce »Racial Profiling« vor, also die Kontrolle und Verfolgung von Personen nach Hautfarbe. Treumann trägt auch die Verantwortung für die Razzia im Wohnprojekt »Plan B« an der Hafenstraße am 18. Juli, die von vielen als Abstrafung für die Solidarität des Projektes mit von der Polizei verfolgten Personen gesehen wird (jW berichtete).
Beim bevorstehenden G-20-Gipfel in Hamburg am 7. und 8. Juli 2017 soll Treumann wichtige »operative« Aufgaben übernehmen. Das Treffen der Regierungschefs der 20 mächtigsten Industrie- und Schwellenländer soll von mindestens 9.000 Polizisten geschützt werden, darunter SEK-Einheiten und die GSG9 des Bundes. Seit Wochen bereitet sich die Polizei ebenso wie die linken G-20-Gegner auf den Gipfel vor, dessen Haupttagungsort ausgerechnet die Messehallen sind – in Nachbarschaft zum Schanzenviertel, traditionelles Zentrum der Szene.
»Die Häuser und Autos der Polizeiführer sind für uns legitime Ziele«, heißt es im authentisch wirkenden Bekennerschreiben auf indymedia, das sich auf den G-20-Gipfel bezieht. Wörtlich heißt es: »Wir unterstützen den Vorschlag der Militanten, die vor einigen Wochen die Reederei Cosco angegriffen haben, die Herrschaftsstrukturen vor dem G-20-Gipfel anzugreifen und in Hamburg und anderswo Tschüs zu sagen zu allem, was uns auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft im Wege steht.«
Als Begründung für die Tat werden weiter Treumanns Rolle als Leiter der »Taskforce« und die Razzia im »Plan B« genannt. »Die Autos der Familie Treumann wurden durch Feuer vernichtet und die Nachtruhe des Menschenjägers gestört«, so der Text. Treumanns Sondereinheit betreibe eine »Hetzjagd«: »Für People-of-Color wurden die Einsatzgebiete der Taskforce zeitweilig zu No-go-Areas.« Senat und Polizei demonstrierten Stärke im »Krieg gegen die Drogen«. Dass dabei jemand tot auf der Strecke bleiben könne, wie der 21 Jahre alte Jaja Diabi aus Guinea-Bissau, der im Februar wegen Besitzes einer kleinen Menge Marihuana festgenommen wurde und in U-Haft starb, »juckt die Staatsmacht nicht«.
Vertreter von Polizei, der Polizeigewerkschaften und der CDU nutzten die Brandstiftung, um gegen die linke Szene zu hetzen. Mit dem »Angriff auf die Privatsphäre eines Beamten der Polizeiführung« sei eine Grenze überschritten worden, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer gegenüber dem Hamburger Abendblatt. Die Täter hätten »Leib und Leben nicht nur des Polizeibeamten in Gefahr gebracht, sondern auch das seiner ganzen Familie«. Eine kühne Behauptung angesichts der Tatsache, dass lediglich jeweils der Motorraum der Fahrzeuge und ein Teil des Carports in Flammen standen, der Brand schnell gelöscht wurde.
Der Landesvorsitzende der rechtslastigen Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Joachim Lenders, der für die CDU in der Bürgerschaft sitzt, forderte gegenüber Bild Hamburg: »Die Justiz muss die Kriminellen zur Strecke bringen.« Sein Fraktionskollege Dennis Gladiator erklärte die Brandstiftung im Abendblatt gar zum »Angriff auf unseren Staat und damit auf uns alle«. Mit Blick auf den G- 20-Gipfel und das Treffen der OSZE im Dezember in Hamburg müsse der Senat dringend die »linksextreme Gewalt« bekämpfen.
Darüber, dass der Freihandel ohne Krieg nicht zu haben ist
Norman Paech
Beim folgenden Beitrag handelt es sich um das leicht gekürzte Manuskript eines Vortrags, den Norman Paech am 1. September bei ver.di in Hamburg gehalten hat. (jW)
Wer am Antikriegstag zu einem Vortrag über den Freihandel einlädt, könnte in Verdacht geraten, den freien Handel als den Schlüssel zum Frieden, als die Hauptwaffe gegen den Krieg ins Feld führen zu wollen. Und in der Tat, der freie Handel ist nicht nur seit Adam Smith (1723–1790) die Leitidee der kapitalistischen Weltwirtschaft, sondern der Fixstern unseres vielbeschworenen Wertekanons geworden. Er stützt sich auf eine Botschaft, deren Überzeugungskraft bis heute nicht verblasst ist, obwohl ihr ideologischer Charakter seit langem erkannt ist: Er sei das beste Instrument zur Förderung der Ökonomie und des Wohlstandes der am internationalen Handel beteiligten Staaten, und zwar auch der schwachen. Das ist grundfalsch, denn der Freihandel fördert vor allem die starken Ökonomien. Staaten halten immer dann das Banner des Freihandels hoch, wenn ihre Produktion einen Stand erreicht hat, der die internationale Konkurrenz nicht mehr zu scheuen braucht.
Zugunsten des Stärkeren
Erlaubt mir einige historische Anmerkungen. England z. B. hat erst, nachdem die Überlegenheit seiner Industrie feststand, versucht, die Lehre des Freihandels in den internationalen Beziehungen durchzusetzen. Erst 1860 fielen die Zölle für den letzten Rohstoff, für Seide. Von Ulysses S. Grant, US-Präsident von 1869 bis 1877, ist die Feststellung überliefert: »Für Jahrhunderte hat England auf Protektion gebaut, hat sie bis ins Extrem getrieben und befriedigende Ergebnisse damit erzielt. Es gibt keinen Zweifel, dass diesem System seine gegenwärtige Stärke zu danken ist. Nach zwei Jahrhunderten hat es England für günstig befunden, den Freihandel einzuführen, weil es meint, dass die Protektion nicht länger etwas zu bieten hat. Also gut, meine Herren, die Kenntnis meines Landes führt mich zu der Auffassung, dass Amerika innerhalb zweier Jahrhunderte, wenn es soviel wie möglich aus der Protektion herausgeholt hat, auch den Freihandel einführen wird.« So lange sollte es für die USA dann doch nicht dauern.
Das Prinzip des Freihandels hat ebenso wie das der internationalen Arbeitsteilung – basierend auf der berühmten Theorie David Ricardos (1772–1823) von den komparativen (Kosten-)Vorteilen¹ – vor allem den stärkeren Ökonomien gedient. Bereits das erste Beispiel, welches von den englischen Ökonomen als Beweis ihrer Theorie herangezogen wurde – die Handelsverträge zwischen England und Portugal im 17. Jahrhundert –, war bei genauerer Analyse zu kritisieren. Diese Art der Arbeitsteilung war für beide Partner eben nicht gleichermaßen vorteilhaft. Der Ökonom Sandro Sideri kommt zu dem Ergebnis, dass in Wirklichkeit dieser Typ des Austausches die Unterwerfung der portugiesischen unter die englische Ökonomie bewirkt habe: »Die anglo-portugiesischen Handelsverträge von 1642, 1654, 1661 und schließlich 1703 (Methuenvertrag, benannt nach dem englischen Diplomaten John Methuen) etablierten und kodifizierten eine internationale Arbeitsteilung zwischen den beiden Ländern, die dem Gesetz vom komparativen Vorteil, das später von Ricardo aufgestellt wurde, weitgehend entsprach. Die negativen Auswirkungen dieser Art internationaler Arbeitsteilung auf Portugals Wirtschaft widerlegten jedoch Smiths Einschätzung, dass der Methuenvertrag ›offensichtlich vorteilhaft für Portugal‹ war, und dementierten Ricardos These, dass Außenhandel, der auf dem Gesetz vom komparativen Vorteil beruhe, für alle Handelspartner positiv sei (…) Eine solch ungünstige Wirkung auf die portugiesische Wirtschaft war hauptsächlich das Ergebnis des ›Typus‹ internationaler Arbeitsteilung (›verarbeitete‹ gegen Primärgüter bzw. ›unverarbeitete‹ Güter gegen Fertigwaren), der Portugal, das am Ende des 17. Jahrhunderts Wein und Kleider herstellte, aufgezwungen wurde, weil das Land politisch und militärisch schwach war und zudem noch kolonialistische Ambitionen hatte. Das anglo-portugiesische Verhältnis, das sich aus dieser wirtschaftlichen Sachlage ergab, war eine Abhängigkeit Portugals von England«² Die Effekte, die dem Freihandel und der internationalen Arbeitsteilung von Smith und Ricardo bis zu den Neoklassikern unterstellt werden, lassen sich vornehmlich für Nationalökonomien vergleichbarer Stärke und Produktivität erzielen, wo die Beherrschungsmöglichkeiten auf ein Minimum reduziert sind.
Ökonomisches Niederringen
In den Industriestaaten ließen die großen Kriege dem Freihandel so gut wie keinen Raum mehr. Dem Völkerbund war es mit seiner ersten Wirtschaftskonferenz 1927 »Zur Bekämpfung des übersteigerten wirtschaftlichen Nationalismus« kaum gelungen, die Liberalisierung gegen den Kriegsprotektionismus bei den Staaten durchzusetzen, die ihre kriegsgeschwächten Volkswirtschaften wieder aufbauen wollten. Schon 1929 sorgte die beginnende Weltwirtschaftskrise für die erneute Konjunktur des Protektionismus, der sich bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges weiter verschärfte.
Allerdings wurde noch während des Krieges insbesondere in den USA der Ruf nach dem Freihandel wieder laut. Die Atlantik-Charta, von den Staaten der Antihitlerkoalition im Jahre 1941 unterzeichnet, formulierte dabei auch für die schwachen Staaten durchaus verheißungsvoll als Grundsatz »allen Staaten, ob klein oder groß, ob Sieger oder Besiegte, unter gleichen Bedingungen den Zutritt zum Handel und zu den Rohstoffen der Welt zu gewähren, die für ihren wirtschaftlichen Wohlstand erforderlich sind«.
Die Verheißung verkehrte sich in dem Maße in eine Bedrohung, wie die USA die Organisation des Prinzips in ihre Hände nahmen. Sie waren als weltweit uneingeschränkt führende Wirtschaftsmacht aus dem Krieg herausgekommen. Ihre auf hohen Touren produzierende Industrie brauchte danach Absatzmärkte, die sich nicht vor ihrem Export abschirmten. Und so traten die USA auf der ersten, 1946 vom Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (Ecosoc) einberufenen Konferenz über Handel und Beschäftigung – zunächst in London und Genf, anschließend in Havanna – als die stärksten Interessenten am Freihandel und der Meistbegünstigung auf. Letztere, in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen inzwischen zum Standard gewordene Vertragsklausel, besagt etwa für die Mitglieder der 1994 gegründeten Welthandelsorganisation (WTO), dass die Vertragspartner jene Rechte, die sie dritten Staaten gewährt haben oder noch gewähren werden, auch den anderen Teilnehmerländern einräumen. Die Klausel ist ein Diskriminierungsverbot, zugleich aber auch ein juristisches Instrument, um alle bilateral ausgehandelten Vorteile automatisch zu verallgemeinern und im Effekt die Märkte derjenigen Länder zu öffnen, die sich ihr unterwerfen. Eine erste Untersuchung der »Kommission für Internationales Recht« im Jahre 1969 ergab, dass die zahlreichen Verträge mit Meistbegünstigungsklausel wie Hebel für die prosperierenden Staaten wirken, die nahen und fernen Märkte zu öffnen und zu erobern.³
Die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas forderten Übergangsfristen und Sonderregelungen zum Schutz ihrer schwachen Volkswirtschaften, und auch die durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogenen Staaten Europas hielten Fragen des Wiederaufbaus und der Beschäftigung für dringender. Dementsprechend enthielt das Vertragswerk der UN-Konferenz, die am 24. März 1948 unterzeichnete sogenannte Havanna-Charta, Kapitel zu den Bereichen Entwicklung und Wiederaufbau, Vollbeschäftigung, Rohstoffabkommen, Missbrauch durch Kartelle wie auch Freihandel und Meistbegünstigung. Ferner sah die Charta die Gründung einer Spezialorganisation, der »International Trade Organization« (ITO) vor.
Vor der Unterzeichnung war es den USA allerdings schon gelungen, die Ergebnisse der separat geführten Zollverhandlungen mit den geplanten Freihandelsvorschriften zusammenzufassen und gleichsam als Übergangsregelung bis zum Inkrafttreten der Charta unter der Bezeichnung »General Agreement on Tariffs and Trade« (GATT) vorläufig am 1. Januar 1948 wirksam werden zu lassen. Gleichzeitig hatten die USA den Wiederaufbau Westeuropas mit der Verkündung des Marshallplans am 5. Juni 1947 in die eigenen Hände genommen, der ihnen einen aufnahmefähigen Markt garantierte. Damit war das amerikanische Interesse an den übrigen Regelungen der Havanna-Charta erschöpft. Die US-Regierung verweigerte die Ratifizierung, und mangels Bereitschaft auch anderer Staaten trat die Charta mit der Satzung der ITO niemals in Kraft. Es blieb bei dem GATT, das vier Fünftel des Welthandels mit seinen Regeln erfasst und das wirtschaftspolitische Freihandelscredo der stärksten kapitalistischen Industriestaaten widerspiegelt. Artikel 1 des Agreements sieht die Ausdehnung des internationalen Handels und die volle Ausschöpfung der weltweiten Ressourcen vor. Es stellt den Staaten dafür einen relativ flexiblen Rahmen zwischen Freihandel und Protektionismus zur Verfügung. Die meisten Entwicklungsländer konnten allerdings an diesem System nie mit Gewinn teilnehmen. Ihr Anteil am Welthandel – 1950 noch circa 31 Prozent – sank ständig (1960: 21 Prozent, 1987: 16 Prozent) und bewegte sich um die Jahrtausendwende bei etwa zehn Prozent. Demgegenüber konzentriert sich der Welthandel auf die Industriestaaten, die Mitglied in der OECD sind, sowie einige Schwellenländer, die seit den siebziger Jahren zu neuen Industriestaaten aufgestiegen sind. Die Exporte aus Afrika betragen jetzt nur noch zwei Prozent der Weltexporte und werden zur Hälfte von drei Ländern getätigt: Südafrika, Algerien und Nigeria. Der Anteil am Welthandel ist auf 3,1 Prozent gesunken.
Sicherung der Vormachtstellung
Dieses so segensreiche System für die hochentwickelten Industriestaaten soll nun weiter optimiert und weltweit – China und Russland ausgenommen – als neoliberales Ordnungsmodell durchgesetzt werden. »Neoliberal« heißt hier Marktförderung, Privatisierung, Deregulierung, Eigentumsschutz und Entdemokratisierung. Es geht bei dem Freihandelsabkommen TTIP gar nicht so sehr um Abbau von Zöllen, die zwischen den USA und der EU bei etwa fünf Prozent liegen und damit ohnehin sehr niedrig sind. Und auch das prognostizierte Wirtschaftswachstum und die angebliche Zahl neuzuschaffender Arbeitsplätze sind inzwischen auf Größen geschrumpft, die niemanden mehr begeistern können. Chlorhühnchen, Genfood und klappbare Autorückspiegel dienen eher der Ablenkung von dem zentralen Ziel dieses Abkommens: die atlantische Dominanz trotz der drohenden Machtverschiebungen in der Welt zu sichern.
Der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat es in der FAZ am 23. Februar 2015 ganz einfach so ausgedrückt: »Wir reden zuviel über Chlorhühner und zuwenig über die geopolitische Bedeutung.« Also reden wir über die geopolitischen Ziele von TTIP, mit denen eine klare Konfrontationsstrategie und eine erneute Blockbildung angezeigt ist. Das klingt in den Worten des niederländischen »Clingendael Institute« noch relativ zurückhaltend: »Der wichtigste Grund (…) TTIP anzustreben, ist geopolitischer Natur. Der Aufstieg Chinas (und anderer asiatischer Länder), kombiniert mit dem relativen Abstieg der USA und der wirtschaftlichen Malaise der Euro-Zone, sind ein Ansporn für den transatlantischen Westen, seine gemeinsame ökonomische und politische Macht zu nutzen, um neue globale Handelsregeln zu schreiben, die seine ökonomischen Prinzipien (regelbasierte Marktwirtschaft) und politischen Werte (liberale Demokratie) reflektieren. TTIP ist ein zentraler Bestandteil in dieser Strategie.«⁴
Deutlicher war da der ehemalige stellvertretende US-Finanzminister Stuart Eizenstat, der schon zwei Jahre zuvor geschrieben hatte: »Es gibt im wesentlichen zwei konkurrierende Steuerungsmodelle in der postkommunistischen Welt. Eines ist das transatlantische Modell, basierend auf freien Völkern, freien Märkten und freiem Handel; das andere sind autokratisch, staatlich kontrollierte oder dominierte Volkswirtschaften und regulierter Handel. TTIP ist eine Gelegenheit zu zeigen, dass unser Modell (…) das beste ist, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.«
In solcher Sprache hallt der Sound des Kalten Krieges wider, das Gemeinte geht aber weit darüber hinaus, wie ein Blick auf das »Trans-Pacific Partnership«-Abkommen (TPP) zeigt. TPP gilt als amerikanisch-asiatisches Gegenstück zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und ist bereits im Prozess der Ratifikation. Es dient vor allem der Sicherung der Vormachtstellung der USA im Pazifik. Sein Scheitern schmälerte den Einfluss der Vereinigten Staaten in Asien, wie der Asienexperte Robert Manning vom US-Thinktank »Atlantic Council« offen einräumt. Das hat auch US-Verteidigungsminister Ashton Carter erkannt und 2015 deutlich formuliert: Die »Verabschiedung von TPP ist genausowichtig wie einige weitere Flugzeugträger (…) Und es würde uns helfen, eine Weltordnung zu stärken, die sowohl unsere Interessen als auch unsere Wertesystem widerspiegelt.«
In dem Abkommen sind zwar Japan, Malaysia, Singapur und Vietnam vertreten, nicht aber die VR China: Das macht es zu einem Mittel des ökonomischen Krieges. TPP schüfe eine Freihandelszone, die 40 Prozent des jährlich weltweit geschöpften BIP umfasst und China außen vor lässt.
Russland wiederum ist von Anfang an von TTIP ausgeschlossen, was zur Konfrontationsstrategie von EU und NATO passt. Die Begründung fällt einem Politiker wie dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nicht schwer: »Russland hat die Regeln gebrochen. Es hat die internationale Ordnung unterminiert, die die Grundlage unseres Friedens und Wohlstand ist. (…) Um diese Ordnung zu erhalten, müssen wir weiterhin zusammenstehen. Das heißt, wir müssen unsere wirtschaftlichen Bande verstärken. Und hier ist das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen eine Schlüsselfrage.«
Er denkt dabei bestimmt nicht nur an die erweiterten Möglichkeiten und Optionen des Rüstungsmarktes. Die Tatsache, dass sich hochrangige Militärpolitiker an der Freihandelsdebatte beteiligen, dokumentiert die militärstrategische Bedeutung derartiger Abkommen. Geopolitik hatte historisch schon immer mit dem Zugriff auf fremde Ressourcen und Territorien zu tun, wenn nötig auch mit militärischen Mitteln. Repräsentaten der Wissenschaft sekundieren. Der schon zitierte Peter van Ham vom »Clingendael Institute« übertreibt in seiner Euphorie vielleicht etwas, zeigt mit seiner Hoffnung auf die Kraft von TTIP jedoch, dass Befürchtungen wegen der Kriegsdynamik dieses Freihandelsprojektes keineswegs ohne Grundlage sind: »TTIP kann die NATO erneuern«, schreibt er. »Es bedarf einer neuen Hierarchie, die deutlich macht, welche Länder wirklich wichtig sind und wirklich die Werte und Interessen des atlantischen Westens teilen. TTIP bietet der NATO eine klare Richtlinie an, um diese Entscheidung zu treffen. Bei TTIP geht es nicht nur um Freihandel, es führt Länder und Gesellschaften zusammen, die gegenseitiges Vertrauen in ihre jeweiligen Institutionen haben und die willens sind, ihren Lebensstil gegen konkurrierende Mächte zu verteidigen. Als (Hillary) Clinton sich auf eine ›Wirtschafts-NATO‹ bezog, hat sie nicht übertrieben. Ohne die wirtschaftliche Einheitlichkeit ist auch strategische Einigkeit unmöglich.«
»Vitale Sicherheitsinteressen«
Wir haben vielleicht schon vergessen, dass der Auslöser des Ukraine-Konfliktes, der in einen Krieg ausartete, die Zurückweisung eines Assoziierungsabkommens mit der EU durch den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch war. Diese Vereinbarung hatte ordnungspolitisch die gleiche Struktur und Perspektive wie das Freihandelsabkommen, sein Kern war die Freiheit des Marktes und des Handels. Es hätte die Ukraine nicht nur an die »Werte und Interessen des Westens« gebunden, sondern auch aus der Bindung an Russland gelöst und die alten wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland gekappt. Wer einmal in diesem Geflecht gefangen ist, dem wird es wie Griechenland ergehen, wenn er die Normen und Gebote des Vertrages nicht einhalten kann. Das Diktat der stärksten Staaten ist in diese Art Freiheitsverträge eingewoben. Niemandem in der EU oder NATO darf man ernsthaft abnehmen, dass die Warnungen Moskaus vor solch einem Schritt nicht gehört oder als nicht ernstgemeint eingeschätzt worden sind. Dies war ein bewusst provokatives Spiel mit dem Feuer, das den Krieg mit einkalkulieren musste. Denn schon einige Jahre zuvor hatten USA und NATO mit ihren Geldern, Geheimdiensten und Stiftungen den Sturz und die Auswechslung der Regierung mit der »orangen Revolution« vorbereitet.
Wie eng Krieg und Ökonomie miteinander verknüpft sind, machen die »Weißbücher« der Bundeswehr deutlich. Das letzte Exemplar ist gerade am 13. Juli nach zehnjähriger Pause erschienen. Bereits 1991 hatte der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Klaus Naumann, ein Papier mit dem Titel »Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr« vorgelegt. Darin hat er das deutsche »Sicherheitsinteresse« mit der »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen« umschrieben. Seitdem ist diese Definition des deutschen »Sicherheitsinteresses« Standard in allen regierungsoffiziellen Äußerungen. So wird als »vitales Sicherheitsinteresse« in Punkt 8 der »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vom November 1992 formuliert: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung«. Was gerecht ist, bestimmt die Bundesregierung.
Auch in den letzten beiden Weißbüchern »zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« der Bundesregierung von 2006 und 2016 fehlt nicht der Verweis auf die Abhängigkeit Deutschlands von internationalen Handelsrouten, Energieressourcen und Rohstoffen, ohne dass dabei die Aufgaben der Bundeswehr zur Sicherung dieser Interessen genau beschrieben werden.
Wenn also Rohstoffsicherung und die Freihaltung der Handelswege zu den Aufgaben der Bundeswehr gehören, stellt sich natürlich die Frage, was ein Freihandelsabkommen wie TTIP an dieser Konstellation ändert und womöglich verschärft? Handel für sich ist schon definitorisch nicht kriegsträchtig. Vor dem Hintergrund einer anschwellenden Debatte über gestiegene Verantwortung in der Weltordnung, dem immer stärker werdenden Ruf nach deutscher Führung und der Forderung nach einem unkomplizierteren Umgang mit Interventionen, kommt es jedoch darauf an, wie der Rahmen gestaltet wird, innerhalb dessen sich der Handel bewegen kann. Mit TTIP, TTP und dem kanadisch-europäischen Abkommen CETA wird das bereits bestehende multilaterale Handelssystem der WTO, der derzeit 162 Staaten angehören, parzelliert und in Machtblöcke aufgelöst, in denen auf jeden Fall die Dominanz der stärksten Ökonomien und ihrer transnationalen Konzerne gesichert wird. Sie zielen auf die Staaten, die bewusst von den Abkommen ausgeschlossen wurden und die sich in der Gruppe der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) zusammengeschlossen haben, um ein Gegengewicht zu bilden. In dieser Konfrontation geht es nicht mehr nur um Handel und Güteraustausch, sondern um die Ausrichtung des gesamten internationalen Systems nach den neoliberalen Vorstellungen des Westens. Die Zeiten sind jedoch vorbei, in denen ein Projekt wie das einer »Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung« – gegen den Einspruch der ehemaligen Kolonialmächte formuliert von der Gruppe der nichtpaktgebundenen Länder in der UN-Generalversammlung 1974 – in der Folgezeit mit dem GATT einfach unterlaufen werden konnte. Der Widerstand gegen den Monopolanspruch über die Weltordnung ist stärker geworden. TTIP fügt der derzeitigen politischen und militärischen Konfrontation ein weiteres destabilisierendes und gefährliches Element hinzu. Was die »Economic Partnership Agreements« (EPA) mit ihrer Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staatengruppe (ACP) nachweislich nicht erreicht haben, die tiefe Kluft zwischen den armen und den reichen Staaten zu schließen, wird mit TTIP auch nicht realisiert werden. Jüngste Studien gehen sogar davon aus, dass diese Kluft sich noch vertiefen wird. Dem Sicherheitsinteresse der Staaten wäre am meisten gedient, wenn diese Abkommen nicht in Kraft treten könnten.
Anmerkungen
1 Mit seinem berühmten »Zwei Länder (England/Portugal) – Zwei Güter (Tuch/Wein)«-Modell versuchte Ricardo in seinem 1817 erschienenen »Principles of Political Economy and Taxation« nachzuweisen, dass der freie Handel zwischen den Ländern für beide vergleichsweise vorteilhaft sei, wenn jedes sich auf den Export der Güter spezialisiere, bei denen jeweils die Produktivität am höchsten und deren Abstand gegenüber dem anderen Land am größten ist.
2 Sandro Sideri: Trade and Power, Informal Colonialism in Anglo-Portuguese Relations, Rotterdam 1970
3 Endre Ustor: Dévelopment progressiv du Droit International: un nouveau Programe de l’ONU, 1967, S. 163 ff.
4 Peter Van Ham: The Geopolitics of TTIP. In: Clingendael Policy Brief, No. 23, Oct. 2103, zit. nach Tim Schumacher: Geopolitischer Sprengstoff: Die militärisch-machtpolitischen Hintergründe des TTIP. IMI-Studie Nr. 5/2014