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Unter Menschen sein

Revolutionäre Volksmusik: Grup Yorum ist ein politisches Projekt, mehr noch als eine Band. Sie spielen im Januar auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin
Von Sukriye Akar und Thomas Eipeldauer
Zu den Liedern von Grup Yorum kann man Halay tanzen, Tee trinken oder die AK-47 durchladen – hier im Juni vor dem Oberlandesgericht München, wo der NSU-Prozeß läuft (und Grup Yorum nicht in den Saal durften)
Anfang Juni war Feierstimmung am Taksim-Platz. Die Cops waren vertrieben, und der zentrale Istanbuler Platz immer noch in der Hand der Kommune. Beim Denkmal der Republik, auf dem die Fahnen Dutzender linker Organisationen wehten, machten ein paar Genossen die improvisierte Anlage an, es lief »Uzatin ellerinizi (»Streck deine Arme aus«), später dann »Gündogdu marsi«. Die Lieder von Grup Yorum sind aus der türkischen Linken nicht wegzudenken. Über die Partei- und Programmgrenzen der ansonsten heillos zerstrittenen Bewegung hinweg sind sie gemeinsames Kulturgut der Sozialisten des Landes. Grup Yorum füllt Stadien, eine halbe Million Menschen kamen zum bislang größten Konzert im April in Istanbul.

Insofern kann man das, was Grup Yorum produziert, Volksmusik nennen. Man darf es aber nicht mit dem Blut-und-Boden-Schmalz karnevalesk gekleideter Hillbillies verwechseln, das hierzulande unter dieses Genre fällt. Wenn die Gruppe von Bergen singt, sind es die der Guerilleros, nicht die der Almhüttengaudi. »Wenn dir ein Übel geschieht, mein Herz / in die Berge, komm in die Berge / sie verstecken dich und verraten dich nicht, mein Herz« (»Daglara del daglara«, »In die Berge, komm in die Berge«).

Und wenn die Gruppe von Liebe singt, dann nicht von der peinlichen apolitischen Romanze zwischen Skilehrer und Dorfschönheit, sondern vom Vorgriff auf ein besseres, gelingendes Leben, ganz wie bei Pablo Neruda. »Du bist ein Feuer unter den Sternen/Ich berühre dich/Ich bin unter den Menschen, ich liebe sie/Ich liebe die Bewegung/Ich liebe die Idee/Ich liebe den Kampf/Du bist einer der Menschen in meinem Kampf, Liebling/Ich liebe dich«, heißt es in »Insanlarin ­Içindeyim« (»Ich bin unter Menschen«).

Die traditionellen Instrumente der anatolischen Volksmusik – Saz, die alevitische Baglama, Flöte und Zurna – kombiniert die Band mit Schlagzeug, Gitarre, manchmal Klavier. Gesungen wird nicht nur auf Türkisch, sondern in Arabisch, Kurdisch und anderen Sprachen der Region. Manchmal sind es Geschichten aus dem Arbeitsalltag, manchmal poetische Allegorien, manchmal die Biographien der bekannten und unbekannten Revolutionäre der Türkei, die den Inhalt der Balladen und Märsche abgeben. Zu den Liedern von Grup Yorum kann man Halay tanzen, Tee trinken oder die AK-47 durchladen, je nach Lust und Laune.

Schon die Gründung von Grup Yorum war ein Akt des Widerstands. Nach dem Militärcoup vom 12. September 1980 war die türkische Linke in einer Art Schockstarre. Hunderttausende wurden festgenommen, Hunderte hingerichtet oder zu Tode gefoltert. 1984 entschlossen sich linke Studenten, das von der Repression erzwungene Schweigen zu brechen. 1985 erschien das erste Album – und so entstand die Band, die seit drei Jahrzehnten den Soundtrack der radikalen Linken in der Türkei spielt.

Im vergangenen Monat erschien ihr 22. Album, es trägt den Titel »Halkin elleri« (»Die Hände des Volkes«). Auch dieses Mal ist jeder Song Ergebnis eines kollektiven Arbeitsprozesses. Die Texte werden gemeinsam geschrieben, die Musik zusammen komponiert. Das Ergebnis wird den Hörern vorgelegt, die Anmerkungen machen, Lieder verändern und kritisieren können. Man will keinen Starkult, deshalb treten die Bandmitglieder nicht herausgehoben als einzelne auf, sondern immer als Ganzes. Grup Yorum ist ein politisches Projekt, mehr noch als eine Band. Die Mitglieder verstehen sich als Aktivisten, die Musik als Teil ihres Kampfes.

Daß der türkische Staat sie auch heute noch für gefährlich hält, dokumentiert die permanente Repression gegen die – je nachdem wie viele gerade einsitzen – etwa zehn Mitglieder der Band. Auf über 400 Anklagen kann Grup Yorum zurückschauen. Zuletzt stürmten im Januar Sondereinsatzeinheiten der türkischen Polizei das Idil Kulturzentrum im Istanbuler Stadtteil Okmeydani. Alle Bandmitglieder wurden verhaftet, gegen zwei Musiker, die nicht im Land waren, ergingen Haftbefehle. Der Vorwurf lautete Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, der militanten Revolutionären Volksbefreiungsfront (DHKP-C).

Kurz zuvor, im Herbst 2012, waren zwei Musikerinnen, die Solistin Selma Altn und die Violinistin Ezgi Dilan Balc, während einer Protestkundgebung vor dem gerichtsmedizinischen Institut verhaftet worden. Anwalt Taylan Tanay beschreibt, was dann passierte: »Man zwang sie auf dem Boden zu liegen, während sie festgehalten und von mehreren Polizisten getreten wurden. Die Folter ging im Polizeitransporter weiter. Da die Polizisten wußten, daß Altin die Leadsängerin der Band ist, schädigten sie absichtlich ihr Trommelfell, indem sie sie mehrfach gegen die Ohren schlugen«. Altin war sehr lange Zeit taub auf dem rechten Ohr und hörte auf dem linken nur eingeschränkt. Ihr Gehör erholt sich allmählich wieder. Der Violinistin Ezgi Dilan Balci wurden die Finger gequetscht.

Es wird die Gruppe aber nicht davon abhalten, weiter Politik und Musik zu machen. Das nächste Mal hierzulande im Januar in Berlin, bei Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt.

11.1., 20 Uhr, Berlin, Konzert der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der Urania

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