1914–2014: Die XIX. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin setzt Zeichen
Rüdiger Göbel
Warteschlangen vor der Urania unweit des KaDeWe, an der Fassade ein überdimensionales Plakat mit zerschlagenem Mordgerät – die »Manifestation gegen imperialistische Kriege« ist am 11. Januar weithin sichtbar im Herzen Westberlins. Bei keiner anderen Rosa-Luxemburg-Konferenz ist der Andrang schon zum Auftakt so groß gewesen wie 2014, da sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal jährt – und Deutschland, das wird beim Erinnern in den Bürgerfeuilletons dieser Tage gerne vergessen, in mehr als einem Dutzend Ländern Soldaten im »Auslandseinsatz« hat. In der Urania sind die Reihen des großen Humboldt-Saales durchgehend dicht besetzt, vom ersten Vortrag um elf am Morgen bis zum Schlußpodium nach sieben am Abend und dem gemeinsamen, vielsprachigen Singen der Internationale.
Weit mehr als 2000 Besucherinnen und Besucher hören die Kriegs- und Widerstandsanalysen von Jörg Kronauer (BRD) und Maria do Socorro Gomes Coelho (Brasilien), von Zivadin Jovanovic (Jugoslawien) und Michel Chossudovsky (Kanada). Standing ovations schließlich für die bewegenden Auftritte des dänischen Whistleblowers Anders Kaergaard und des südafrikanischen Kommunisten Denis Goldberg, Weggefährte Nelson Mandelas. Dazu Podiumsgespräche (siehe jW vom 13. und 15. Januar) und Grußbotschaften etwa von den »Cuban 5« und Arnaldo Otegi aus dem Baskenland, wo an diesem 11. Januar mehr als 130000 Menschen trotz Verbot auf die Straßen gehen …
Eine einmalige Begegnung für Linke verschiedenster Couleur ist diese Zusammenkunft. Da treffen sich Ossietzky-Herausgeber Eckart Spoo und Hintergrund-Mann Ronald Thoden; Laura von Wimmersperg von der Berliner Friedenskoordination und die Linke-Abgeordnete Heike Hänsel. Freidenker, Vertreter von Mumia-Solidaritätsgruppen, Kuba-Brigadisten stehen mit ihren Büchertischen dicht an dicht. Die Flüchtlingsgruppe vom Oranienplatz meldet sich zu Wort – »wir sind die Opfer der imperialistischen Kriege«. In einem Extraraum tagen DKP und SDAJ, und oben im Loft präsentieren die Künstler der neu gegründeten »Gruppe Tendenzen« Skulpturen und Bilder gegen den Krieg.
Und zum Ende ein neuer Höhepunkt. Erich Schmeckenbecher, Gründer von »Zupfgeigenhansel«, Grup Yorum aus der Türkei, die Portugiesen Luis Galríto und António Hilário sowie »Strom & Wasser« sorgen mit ihren »Liedern gegen den Krieg« für einen mitreißenden Abschluß der schließlich erst kurz vor Mitternacht endenden Großveranstaltung.
Unserem Freund, Kollegen und Genossen Werner Pirker, der aus Wien zu diesem Neujahrsauftakt der Linken angereist war, widmen wir dieses Nein zum Krieg. Am Mittwoch haben wir, mitten in der Konferenznachbesprechung, von seinem Tod erfahren müssen
21.09.2021 13:08 Uhr
»Sprachrohr der Zeit«
Gespräch. Mit Muharrem Cengiz. Über die Repression in der Türkei, die Rolle von Musik im revolutionären Kampf und die verschiedenen Einflüsse auf die populäre Band »Grup Yorum«
Miray Erbey
Grup Yorum ist die populärste linke Musikgruppe der Türkei, zu ihren Konzerten kommen mehrere hunderttausend Menschen. Am vergangenen Samstag spielte die Band auf dem Konzert »Lieder gegen den Krieg« im Rahmen der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferzenz in der Berliner Urania (Foto).
Seit Jahrzehnten ist Grup Yorum ein wichtiger Teil der sozialistischen revolutionären Bewegung in der Türkei. Können Sie uns ein wenig über die Ursprünge, die Gründung und die Geschichte der Gruppe erzählen?
Grup Yorum wurde 1984 von politisch aktiven Universitätsstudenten gegründet, die an politischer Musik interessiert waren. Die Gründung kann nicht unabhängig von den zeitgeschichtlichen Umständen damals gesehen werden, die vor allem durch den Militärputsch geprägt waren, der 1980 stattgefunden hatte. Die politische Atmosphäre dieser Zeit mit all der Repression, den Folterungen und Grausamkeiten hatten einen großen Einfluß auf die Gruppe.
Damals war auch die Zeit jenes revolutionären Kampfes, der von der Studentengeneration der 1968er eingeleitet worden war, von Mahir Cayan, Ibrahim Kaypakkaya, Deniz Gezmis und vielen anderen revolutionären Anführern. Dieser Kampf war einer gegen die Ungerechtigkeit und den Imperialismus, die Jugend kämpfte für die Unabhängigkeit ihres Landes. Es war eine Zeit großer Proteste, und die Bewegung hatte einen sehr hohen Organisierungsgrad. Das störte die USA, und es kam zum Militärcoup von 1980.
Der hatte eine Reihe von Konsequenzen: Millionen Menschen wurden verhaftet, viele von ihnen wurden gefoltert und in Gefängnisse gesperrt oder getötet. Grup Yorum begann zunächst mit dem Anspruch, das Schweigen über all das zu beenden, als eine alternative Stimme, die von alledem berichten sollte. Die Gruppe sollte ein Sprachrohr ihrer Zeit werden. Anfangs gab es vier Mitglieder, später dann sind wir gewachsen, heute sind wir 13.
Wenn man die Texte von Grup Yorum hört, ist klar, welche politische Strömung die Band beeinflußt hat. Wie aber steht es mit der Musik? Sie machen ja eindeutig türkische Volksmusik, aber ein paar Klänge sind dann doch anders. Welche musikalischen Vorbilder gibt es, welche anderen Gruppen haben Sie und Ihre Kollegen beeinflußt?
Mehrheitlich waren es lateinamerikanische Künstler, Inti-Illimani und Victor Jara, Dichter wie Pablo Neruda und andere revolutionäre Liedermacher und Poeten. Wir verdanken ihnen sehr viel. Aber natürlich liegen unsere Wurzeln in unserem eigenen Land, Anatolien, da, wo wir leben. Hier ist es zum Beispiel Ruhi Su, den wir unseren »Lehrer« nennen, der westliche Instrumente mit traditioneller Volksmusik zusammengebracht hat.
Wir haben Dichter und Künstler, die gegen die Unterdrückung aufstanden und die Geschichte ihrer Zeit schrieben, wie zum Beispiel Pir Sultan Abdal, Dadaloglu, Karacaoglan und von den jüngeren Ruhi Su und Asik Mahzuni Serif.
Der größte Einfluß kommt aber von den Menschen selbst. Wir leben unter ihnen, wir teilen ihr Leid, ihre Freude, ihre Armut. Wir sind Teil des Volks. Wir erzählen, was sie nicht erzählen können, mit unserer Musik.
Und natürlich, unsere Weltanschauung ist marxistisch-leninistisch. Wenn es soviel Hunger, Armut, Unterdrückung in diesem Land gibt, muß man etwas ändern. Wir versuchen, unsere Weltanschauung und unsere Ideen mit unserer Musik zusammenzubringen. Millionen Menschen hören unsere Musik, wir wollen uns da nicht einschränken. Wir nutzen verschiedene Stile, solange wir dadurch mit revolutionären und fortschrittlichen Inhalten zu den Menschen durchdringen können.
Die AKP-Regierung geht derzeit gegen alle möglichen Teile der Zivilgesellschaft in der Türkei vor, gegen Anwälte, Aktivisten, Studenten, Professoren. Wie ist Grup Yorum von dieser Repressionswelle betroffen?
Man kann sagen, daß alle bisherigen Regierungen der Türkei seit Gründung der Gruppe repressiv gegen Grup Yorum vorgegangen sind. Unsere Mitglieder wurden verhaftet, wir wurden verurteilt, weil wir auf Kurdisch gesungen haben, unsere Alben wurden konfisziert, Musikern wurden die Finger gebrochen, Fingerabdrücke wurden von unseren Instrumenten genommen.
Die Repression war also immer da, aber heute hat sie einen Höhepunkt erreicht. In den elf Jahren, seit die AKP nun an der Regierung ist, wurden Revolutionäre im Gefängnis ermordet, andere Gefangene, die krank sind, läßt man einfach im Knast sterben. Die Folterungen von Häftlingen, wie zum Beispiel im Fall von Engin Ceber, zeigen, wie die Repression zugenommen hat. Unsere Musik muß das Ziel haben, all diese Grausamkeiten aufzudecken und öffentlich zu machen.
Im vergangenen Jahr wurde unser Kulturzentrum von der Polizei gestürmt und alles, was sich darin befand, zerstört. Die Polizei hat auch unser neues Album beschlagnahmt, der Rechtsstreit darüber dauert immer noch an. Aber wir denken nicht, daß es jemals irgendein Resultat geben wird. Daß dieses Land faschistisch regiert wird, ist uns klar. Nach dieser Razzia wurden zwei Mitarbeiter des Kulturzentrums, Gamze Keskek und Veysel Sahin, festgenommen, unser Bandmitglied Ayfer Rüzgar ist noch immer in Haft.
Heute sehen wir, daß die AKP nicht länger in der Lage ist, dieses Land zu regieren. Wir haben ja nie geglaubt, daß irgendeine dieser Regierungen die Menschen leiten kann, aber das tritt heute viel klarer hervor. Sie bestehlen die Menschen und überlassen sie der Armut. Korruption, das fehlende Recht auf Bildung, auf Mobilität, auf Leben – sie nehmen uns alles, was fürs Leben notwendig ist.
Aber sie können das nicht länger. Ihnen geht die Macht zunehmend verloren. Allerdings sagen wir auch nicht, daß die AKP gehen und einfach durch eine andere Partei ersetzt werden soll. Wir wollen den Menschen klarmachen, daß unser Kampf darauf gerichtet ist, die ganze herrschende Ordnung umzustürzen. Wir wollen eine Ordnung, in der Menschen ein gerechtes, gutes Leben führen können. Und das ist natürlich nur möglich durch die Revolution und den Sozialismus.
Grup Yorum war beim Gezi-Aufstand vom vergangenen Juni sehr präsent. Überall sind ihre Platten gelaufen, Tausende haben zu den Liedern gesungen und getanzt. Wie sehen Sie »Gezi«, welche Bedeutung hat dieser Aufstand für den revolutionären Kampf in der Türkei?
Wie ich erwähnte, haben wir in Anatolien eine revolutionäre Tradition, eine revolutionäre Vergangenheit. Es gibt ein Erbe der vorhergegangenen Kämpfe, das wir übernommen haben. Die Politik der AKP hat jetzt zu einer Vereinigung verschiedener Teile der Gesellschaft geführt, hat sie näher zusammengebracht.
Der Aufstand hat den Menschen dann eine einfache Wahrheit vor Augen geführt. Er hat gezeigt, was man erreichen kann, wenn man gemeinsam handelt. Die Leute haben begonnen, ihre eigene Kraft zu verstehen. Auf sie wurde geschossen, sie wurden gefoltert, festgenommen, einige sogar ermordet – und trotz alledem sind immer wieder Menschen auf die Straße gegangen. Sie haben klar gesagt: »Ihr könnt uns so nicht regieren.«
Wir waren bei dem Aufstand dabei, diese Zeit hatte durchaus eine Wirkung auf unsere Musik. Wir haben einen Song gemacht, »Lanet«, der davon erzählt. Mit dem Gezi-Aufstand beginnt eine neue Periode der jüngeren Geschichte der Türkei. Aber wie ich gesagt habe, die Probleme werden nicht dadurch gelöst, daß die AKP fällt. Unser Kampf hat das Ziel, daß das Volk sich auf seine eigenen Kräfte besinnt und diese zur Veränderung nutzt. Nur, wenn es gelingt, den Soziaismus zu erkämpfen, wird es ein humaneres Leben geben.
Und auch Künstler und Musiker werden nur im Sozialismus frei und für die Menschen produzieren können. Die Kunst, die heutzutage produziert wird, dient meistens nur einer Handvoll Menschen, der Bourgeoisie.
Grup Yorum hat am 11. Januar auf der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin gespielt. Warum war der Band die Teilnahme am Konzert »Lieder gegen den Krieg« wichtig?
Auch in Deutschland gibt es ernsthafte Angriffe der Herrschenden. Fundamentale Rechte werden der Bevölkerung verwehrt, die Ausbeutung hat zugenommen und ebenso die Fremdenfeindlichkeit. Die Menschen sollten gegen diese Angriffe zusammenstehen, nur mit Solidarität können sie zurückgeschlagen werden. Das Wichtigste ist, daß wir mit dem, was wir tun, den Menschen zeigen, daß Kapitalismus und Imperialismus überwunden werden können. Wir wünschen den Genossinnen und Genossen in Deutschland Erfolg bei ihren Kämpfen.
Amerika, hau ab (»Defol Amerika«)
Wir haben uns nie vor dir verbeugt, Mit Stolz und erhobenem Haupt, Stehen wir dir gegenüber, Wir sind die Kinder dieses Volkes, Dieses Land gehört uns, Fürchte dich vor uns, Amerika.
Du Gott der Grausamkeit, Du bist der Feind der Menschheit, Hau ab Amerika, hau ab, Nimm deine Hände von unserem Brot, Von unserem Stolz, von unserer Ehre, Verschwinde, Amerika.
Mit dem Feuer der Unabhängigkeit Wird unser Schrei lauter, Es ist unser Land, unseres. Eure Panzer und eure Waffen, Werden wir aus unserem Land vertreiben.
Werde groß (Büyü)
Dieses Lied ist Erdal Eren gewidmet, der 1980 im Alter von 17 Jahren gehängt worden ist. Werde groß, mein Kind, Werde groß, werde groß, Dein Vater wird dir Leid und Armut geben, Werde groß, mein Kind.
Werde groß, mein Kind, Werde groß, werde groß, Dein Vater wird dir Arbeitslosigkeit und Hunger geben, Werde groß, mein Kind.
Werde groß, mein Kind, Werde groß, werde groß, Dein Vater wird dir Unterdrückung geben und Folter und Fesseln, Und Verhaftung und Kerker.
Werde groß, mein Kind, Werde groß, werde groß. Wenn du groß bist, 17 Jahre alt, Wird dir dein Vater den Strick geben.
21.09.2021 13:07 Uhr
Wir brauchen mehr Whistleblower
Das Militär gibt den bürgerlichen Medien die Stichworte vor, Journalisten und Verlage werden gezielt beeinflußt. Auszüge aus Redebeiträgen bei einem Podiumsgespräch der XIX. Rosa-Luxemburg-Konferenz
Um den Einfluß des Militärs auf die öffentliche Meinung ging es in einem Podiumsgespräch, das am Samstag in der Berliner Urania im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Konferenz stattfand. Moderiert wurde die Veranstaltung vom stellvertretenden Chefredakteur der jW, Rüdiger Göbel. Gäste waren die jW-Korrespondentin Karin Leukefeld, der ehemalige dänische Offizier Anders Kaergaard, Freja Wedenborg, Redakteurin der dänischen Zeitung Arbejderen sowie jW-Autor Rainer Rupp, ehemals Mitarbeiter im NATO-Hauptquartier. Die Diskussion fand unter dem Titel: »Vierte Gewalt und Heimatfront: Wie Medien Kriege möglich machen« statt. Rüdiger Göbel:
Trau keinem Fernsehbild aus einem Kriegsgebiet, lautet der Ratschlag eines erfahrenen Journalisten. Eine anderer formuliert: Wichtiger als die Täuschung des Feindes ist heute die der eigenen Bevölkerung. »Die Presse ist Teil des Schlachtfelds«, hat der frühere US-General Wesley Clark einmal konstatiert. Erasmus Schöfer und Paula Elvira Keller haben dieses Zitat und zahlreiche weitere in ihren antimilitaristischen Lesekalender »Neues von der Heimatfront. Krieg beginnt hier – Widerstand auch« aufgenommen. Darunter auch das von Bundespräsident Joachim Gauck: »Daß es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.«
Die Berichterstattung über den Krieg in und gegen Syrien verändert sich moderat. Hintergrund dürfte die bevorstehende Friedenskonferenz in Genf sein. Mit einem Mal hört man von islamistischen Terrorgruppen, die in Syrien Angst und Schrecken verbreiten. Auch im Irak treten sie zunehmend dominanter auf, zeitweise sollen sie die Städte Ramadi und Falludscha besetzt gehalten haben. Iraks Regierungschef Nuri Al-Maliki hat die »Vernichtung« dieser Kräfte angekündigt, setzt Artillerie ein und erhält Unterstützung aus den USA und von den meisten Medien, die das gleiche Vorgehen von Syriens Präsident Baschar Al-Assad als einen »Krieg gegen die Zivilbevölkerung« bezeichnen. Zwei Fragen dazu an Karin Leukefeld, die für junge Welt immer wieder aus Syrien berichtet und die in den vergangenen zwei Wochen im Irak war: Sind die Journalistenkollegen vor Ort blind, dumm oder einfach nur folgsam?
Karin Leukefeld:
Bei den Medien gibt es eine Zweiklassenhierarchie. Auf einer Pressekonferenz der Vereinten Nationen habe ich das einmal besonders drastisch erlebt: Zuerst wurden die Kolleginnen und Kollegen des Fernsehens unterrichtet, anschließend diejenigen, die für Rundfunk und Printmedien berichten.
Das Fernsehen hat aber bekanntlicherweise sehr wenig Platz für Berichte, in einer oder anderthalb Minuten läßt sich nicht viel unterbringen, es ist klar, daß dabei so manches unter den Tisch fällt. Hinzu kommt, daß diese Kolleginnen und Kollegen die Länder, über die sie berichten sollen, kaum kennen – manchmal fliegen sie nur für zwei, drei Tage ein. Sie kennen die tatsächliche Lage also kaum und sind auf Leute angewiesen, die ihnen zuarbeiten. Das ist oft mit einer gewissen Arroganz verbunden – sie kommen mit vorgefaßten Meinungen und hören ungern auf diejenigen, die an Ort und Stelle leben.
Natürlich gibt es auch Selbstzensur – die Redaktionen machen Vorgaben, wie berichtet werden soll. Neuerdings gibt es eine neue Masche: Die Reporter werden gebeten, den Konflikt »einzuordnen«, das heißt, sie sollen keinen Bericht abliefern, sondern ihre Meinung. Die Redaktionen wiederum sind von der Politik abhängig, ich habe das in der Berichterstattung über Syrien deutlich miterlebt.
Hinzu kommt, daß diese Korrespondenten häufig mit Vorurteilen ins Land kommen und daß unter ihnen auch Konkurrenz herrscht. Entscheidend für die Art der Berichterstattung ist auch der öffentliche Druck, der durch politische Stellungnahmen aufgebaut wird. Verfälschend wirkt ebenso, daß als Quellen häufig die jeweiligen Kriegsparteien selbst genommen werden – Gegenrecherche findet dann nicht mehr statt.
Im Falle Syrien läuft das so: Da heißt es in der Redaktion zunächst, wir können nicht nur das bringen, was die Regierung in Damaskus sagt. Dann wird aber fast ausschließlich nur über das berichtet, was die sogenannte Opposition Syriens herausgibt. Die ist ja auch in Deutschland aktiv und läßt ihre Leute mit der Forderung im TV auftreten: Wir brauchen Waffen, damit wir den Diktator stürzen können. Die Meinungsbildung wird auch stark von Nichtregierungsorganisationen oder der sogenannten Zivilgesellschaft beeinflußt, die immer wieder auf dieselben Quellen zurückgreifen und dadurch letztlich das Nachrichtenbild bestimmen.
Daß die bürgerlichen Medien so agieren, ist natürlich nicht neu, wir haben es auch im Jugoslawienkrieg erlebt. In ihrer Berichterstattung über Konfliktherde betätigen sich diese Medien als Brandstifter; sie arbeiten mit daran, daß die Bevölkerung in Deutschland oder auch ganz Europa über die tatsächlichen Hintergründe nicht sehr viel erfährt. Sie sind mitverantwortlich für Haß und Gewalt. (…)
Was wir im Irak und anderswo erleben, ist das Ergebnis einer Entwicklung, die sicherlich nicht erst vor drei Jahren mit dem sogenannten arabischen Frühling begonnen hat – ich meine die geostrategischen Interessen der USA und ihrer Verbündeten. Mit der Zerstörung des Iraks und Afghanistans hat die politische, regionale, konfessionelle und ethnische Zersplitterung einer von Toleranz geprägten Region begonnen, in der die verschiedenen Bevölkerungsgruppen friedlich miteinander gelebt und großartige kulturelle Zeugnisse hinterlassen haben. Heute werden in dieser Region die verschiedenen konfessionellen Gruppen des Islam gegeneinander in Stellung gebracht, um sich wegen politischer oder wirtschaftlicher Gründe gegenseitig zu töten.
Wem nützt es? Der betroffenen Bevölkerung auf gar keinen Fall, sie verliert alles und versucht zu fliehen. Es nützt Rüstungsunternehmen, Waffen- und Menschenhändlern, auch denen, die aus der Hilfe ein Geschäft machen. Der schwedische Möbelkonzern IKEA z. B. hat im Auftrag des UN-Flüchtlingsrats Selbstbauhütten entwickelt, die die bisherigen Flüchtlingszelte ersetzen sollen.
Rüdiger Göbel:
In seinem Vortrag hier auf der Konferenz hat der dänische Whistleblower und Geheimdienstaussteiger Anders Kaergaard deutlich gemacht, wie er vom erklärten Befürworter der Irak-Invasion zu deren Gegner und schließlich zum Kronzeugen gegen die Beteiligung Dänemarks an der Besatzung wurde. Als Nachrichtenoffzier warst du zuständig für psychologische Kriegsführung und Desinformation. Wie wichtig ist die bei heutigen Kriegen?
Anders Kaergaard:
Der Krieg in Afghanistan wurde geplant und durchgeführt von recht brillanten Menschen, die einen Marketinghintergrund haben. Fast alles, was wir in Verbindung mit diesem Krieg wahrnehmen, ist sorgfältig überlegt: Der Name des Konflikts, der Begriff »Krieg gegen den Terror« – es ist wohl der erste Krieg in der Geschichte, der schon einen Namen hatte, bevor er angefangen hatte. Und diesen Namen haben die Medien willfährig übernommen – ohne jede kritische Nachfrage. Warum?
Der Begriff »Terror« hat in der gesamten westlichen Welt dieselbe Bedeutung, er wurde mit Sorgfalt ausgewählt – wer würde schließlich nicht gegen den Terrror kämpfen wollen? An diesem Beispiel sieht man, wie man durch geschickte Begriffswahl eventuelle Kritik an einem kompletten Krieg von vornherein begrenzen kann.
Der Vorwand für diesen Krieg waren bekanntlich die Attentate vom 11. September 2001 in New York. Die USA sind sehr effektiv bei der Manipulation der öffentlichen Meinung vorgegangen. Der damalige US-Präsident George Bush brachte es auf ganz einfache Formeln wie: »Entweder sind sie für uns oder gegen uns«. Das sind dann oft kurze Sätze, holzschnittartig und hollywoodgerecht, was kein Zufall ist. Im Pentagon arbeiten Leute, die zuvor in Hollywood Drehbücher verfaßt haben. Im dänischen Verteidigungsministerium ist das übrigens ebenso.
Psychologische Kriegsführung hatte früher das Ziel, Propaganda auf dem Schlachtfeld zu verbreiten. Das ist heute anders – es geht darum, den Krieg als gerecht darzustellen und sich die Unterstützung der Bevölkerung in den Heimatländern zu sichern. Einer der wichtigsten Gegner der US-Kriege in den 80er und 90er Jahren war damals die Bundesrepublik Deutschland. Kritik aus dieser Richtung wurde dadurch abgewürgt, daß die USA darauf verweisen konnten, daß die Attentäter vom 11. September offenbar aus Hamburg kamen: Wie kann sich Deutschland gegen einen Krieg aussprechen, der seinen Ursprung genau in diesem Lande hat? Das ist das, was wir psychologische Kriegsführung nennen.
Dänemark hat keinen Krieg mehr gewonnen, seitdem es im Mittelalter Teile von Großbritannien besetzt hatte. Wir haben sowohl den Krieg von 1848 als auch spätere Kriege verloren, die USA haben uns schließlich 1945 gerettet. Während des Kalten Krieges betrieb Dänemark eine sorgfältig abgestimmte Außenpolitik, die sich zwischen Ost und West bewegte. Dänemark legte z. B. Wert auf die Zusammenarbeit mit der DDR. Aber im Verlaufe des »Krieges gegen den Terror« orientierte sich der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen einseitig an den USA – wahrscheinlich auch deswegen, weil er sich davon versprach, NATO-Generalsekretär zu werden.
Ich war damals bei den dänischen Streitkräften, wir wurden in einem neuen Bereich eingesetzt. Als ich meine Arbeit begann, war die eben beschriebene psychologische Kriegsführung für uns noch etwas Neues. Es ging um zwei Komplexe: Wie können wir die zivile Bevölkerung und den Feind durch psychologische Kriegsführung beeinflussen? Und wie können wir die Medien auf Linie bringen? Letzeres war zunächst untergeordnet, wurde aber später zur Hauptaufgabe. Wir haben jeden Tag daran gearbeitet, diesen Zielen näher zu kommen. (…)
Dänemark hat viele Kriege verloren. Eine große Siegesparade ist auch bei den Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan nicht angebracht, wir mußten also etwas anderes machen, um die Armee in der Öffentlichkeit positiv darzustellen: Jedes Team, das aus dem Irak zurückkehrte, bekam also seine kleine Parade, alle sechs Monate, jeweils in einer anderen Stadt. Diese Aufzüge werden von der Polizei begleitet und vom Staatsschutz, sie werden immer wichtiger für das Militär. Die Öffentlichkeit wird auch dadurch beeinflußt, daß aus den USA die Sitte übernommen wurde, durch das Tragen gelber Schleifen seine Unterstützung für die Truppe zu signalisieren. In Dänemark werden diese gelben Schleifen mit Magneten an PKWs befestigt, man weist sich damit als Unterstützer der Armee aus. Wer diese gelbe Schleife nicht hat, wird schon fast als Verräter angesehen.
Und genau darum geht es, für jeden sichtbar: für oder gegen, schwarz oder weiß, Freund oder Feind.
Rüdiger Göbel:
Freja Wedenborg arbeitet bei der dänischen linken Tageszeitung Arbejderen. Ausgerechnet diese kleine Zeitung hat die Geschichte von Anders Kaergaard publik gemacht. Eigentlich ist das eine Enthüllungsgeschichte, um die sich alle Medien reißen müßten – warum ist sie bei euch gelandet?
Freja Wedenborg:
Das habe ich mich auch schon einige Male gefragt. In den 80er Jahren war die Friedensbewegung sehr stark, in Bonn demonstrierte eine Million Menschen, es gab eine kritische Opposition, die sich auch in den Medien niederschlug. Heute hingegen ist die Friedensbewegung enorm geschrumpft, was auch Auswirkungen auf die Berichterstattung hat – sie ist reaktionärer geworden, wichtige Fragen werden gar nicht erst gestellt.
Heute wird darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen wir in Ländern wie Mali, Syrien oder im Irak militärisch präsent sein sollten – niemand sagt aber, daß es zu Krieg und Ausbeutung Alternativen gibt. Die Frage stellt sich also: Was sollen wir unter diesen Bedingungen machen, um die antiimperialistische Bewegung zu stärken? Wir müssen als progressive Medien neue Wege suchen, um das Bewußtsein der Menschen zu schärfen. Wir müssen den antiimperialistischen Journalismus nach vorne bringen.
Hin und wieder geschehen allerdings unerwartete Dinge. Zum Beispiel hatten wir im April vergangenen Jahres eine Redaktionskonferenz, bei der sich plötzlich Anders Kaergaard meldete und uns einige als »geheim« gestempelte Berichte und Videomaterial aus seinem Arbeitsbereich übergab. So etwas hatten wir an einem ganz normalen Donnerstagmorgen wirklich nicht erwartet. Natürlich waren wir erst einmal mißtrauisch und haben eine Menge Fragen gestellt.
Arbejderen ist die einzige linke Tageszeitung Dänemarks, sehr klein dazu. Wieso, fragten wir uns, sollte Anders mit seiner Enthüllungsstory ausgerechnet zu uns kommen? Ich konnte mir das nur so erklären, daß er Vertrauen zu uns hatte, daß wir die gesamte Geschichte bringen und uns nicht auf sensationelle Aspekte stürzen würden, die letztlich die Auflage steigern. Seine Dokumente bezogen sich auf »Green Desert«, die größte Operation unter dänischer Führung im Irak-Krieg. Anders zeigte uns, daß dänische Soldaten zugeschaut hatten, als irakische Soldaten Zivilisten aus den Häusern zerrten und zusammenschlugen. Er zeigte uns auch Beweise, daß der dänische Befehlshaber von vornherein wußte, daß die Operation letztlich gegen Zivilisten gerichtet war. (…)
Warum ist das so interessant? Wir sehen hier genau, wie die Armee funktioniert und wie sie versucht, die Öffentlichkeit irrezuführen. Wir sehen, daß der Krieg für die Presse, für die Öffentlichkeit nicht mehr als eine große Lüge ist.
Wir haben von Anders, der ja als Offizier für psychologische Kriegsführung gearbeitet hat, viel gelernt. Unter anderem über die Strategie, wie man einen Krieg der Öffentlichkeit als Erfolg verkauft. Wir haben von ihm auch erfahren, wie eng die meisten Reporter mit dem Militär verbunden sind, wenn sie über den Krieg schreiben – Stichwort »eingebetteter Journalismus«.
Jetzt zu der Frage, welche Reaktionen es auf den Abdruck von Anders Geschichte in Arbejderen gab. Es zeigte sich, daß mächtige Kräfte gegen uns standen. Wir hatten uns wegen einer Stellungnahme auch an das Verteidigungsministerium gewandt – erst kurz vor dem Abdruck natürlich, um der Armee nicht allzuviel Zeit zu lassen, die kritische Story zu unterbinden. Sobald die Leute dort wußten, was bei uns auf dem Tisch lag, wurde das Telefon aufgelegt, sie waren nicht mehr zu erreichen. Vorsichtshalber hatten wir unseren Bericht an einem sicheren Ort noch zusätzlich gespeichert.
Die Armee gab dann eine Pressemitteilung heraus mit der Behauptung, wir hätten für unseren Bericht gar keine Beweise. Diese Lüge wurde von zahlreichen Medien einfach übernommen. Wir stellten also sämtlich Dokumente ins Internet, so daß sich jedermann von ihrer Echtheit überzeugen kann. Alle dänischen Medien haben schließlich dieses Thema aufgegriffen, selbst im Parlament wurde eine Reihe Fragen gestellt. (…)
Wir sind aber weit von einem Happy-End entfernt. Weder die verantwortlichen Generäle noch die Minister wurden angeklagt, keiner der betroffenen Iraker kann vor einem internationalen Gerichtshof Klage einreichen. Bestraft wurde nur Anders – zunächst wurde ihm ein halbes Jahr Gefängnis angedroht, dann mußte er eine hohe Geldstrafe zahlen. Eines ist auf jeden Fall klar: Wir brauchen mehr Whistleblower, Leute wie Anders.
Dieses Beispiel zeigt, daß auch eine kleine Zeitung die Macht herausfordern kann. Besonders dann, wenn man in der glücklichen Lage ist, Unterstützung aus dem Inneren des Systems zu bekommen.
Rüdiger Göbel:
Die Bundeswehr ist mit viel größeren Kontingenten als Dänemark in Auslandseinsätzen – 16 sind es momentan. Seitdem sich die Bundesregierung aus SPD und Grünen 2001 solidarisch an die Seite der USA gestellt hat, sind Zehntausende Soldaten im Kampf gewesen, unter deutscher Verantwortung wurden Verbrechen begangen. Ich würde mich freuen, wenn sich endlich auch mal ein Whistleblower aus der Bundeswehr an die Medien wendet – erste Adresse wäre natürlich junge Welt und nicht Bild oder Spiegel.
Keiner hier im Raum kennt die NATO so gut wie Rainer Rupp, er hat viele Jahre dort gearbeitet und weiß, wie diese Kriegsmaschine arbeitet. Glauben die NATO-Offiziere eigentlich an ihre eigene Propaganda? Wie funktioniert es, daß die Mainstreammedien die oft ja einfache Feindbildpflege fleißig mitmachen?
Rainer Rupp:
Die NATO-Mitarbeiter glauben in der Tat selbst, was sie erzählen. Das hängt auch mit ihrer Herkunft zusammen – 99,9 Prozent von ihnen wurden nämlich von ihren nationalen Ministerien dorthin delegiert, sie müssen sich also schon viele Jahre im militärischen Bereich bewährt haben. Wer einen solchen Werdegang hat, der glaubt auch daran, daß die NATO die größte Friedensorganisation der Weltgeschichte ist. Sie führt zwar überall Krieg – aber das sind ja Kriege für den Frieden. Und wer das tut, kann nur ein Guter sein. Früher ging es gegen die Kommunisten, heute gegen die Terroristen.
Es sind aber nicht nur die USA, die viel Geld für die psychologische Kriegsführung ausgeben, alle anderen Ländern haben ebenfalls Spezialabteilungen dafür. Man trifft sich dort zum Brainstorming und entwickelt tolle Ideen, mit denen die Mitbürger dann gefüttert werden. Das alles ist nichts Neues, das wird schon seit vielen Jahrzehnten so gemacht. (…)
Früher hatte ich mich regelmäßig über den Spiegel informiert, als ich aber in meinem zweiten Jahr bei der NATO war, habe ich mir das Magazin nicht mehr gekauft. Ganz einfach deshalb, weil ich merkte, daß praktisch alle Kernpunkte, die wir den Medien mit unseren Presseerklärungen und Hintergrundgesprächen vermittelt hatten, kritiklos wiedergegeben wurden. Das allerdings wurde dann als Resultat eigener Recherche gefeiert.
Wie funktioniert es, daß die NATO eine so gehorsame Presse hat? Gerade in Deutschland kann das Bürgertum auf über 100 Jahre Antikommunismus zurückblicken, eine kritische Meinung kann sich in einem solchen Umfeld schwer durchsetzen. Es ist also relativ leicht, die deutschen Medien auf Linie zu bringen. In regelmäßigen Abständen werden z. B. ausgesuchte Korrespondenten sogenannter Qualitätsmedien zu Informationsreisen eingeladen: Abenteuer und Luxustour zugleich. Ich erinnere mich an einen Fall, daß die Korrespondenten von Neapel aus per Hubschrauber auf einen US-Flugzeugträger gebracht wurden: Tolle Bewirtung, persönliches Gespräch mit dem Kapitän, Rückflug zum Hauptquartier. Von dort weiter zur NATO-School, dann nach Mons zum SACEUR, dem Oberbefehlshaber des Bündnisses in Europa. Das ist natürlich immer ein US-amerikanischer General. Der Korrespondent spricht also mit bedeutenden Leuten und kommt sich selbst ungeheuer wichtig dabei vor.
Oder man wird eingeladen zu einem Manöver in Nordnorwegen, fliegt im Hubschrauber über die Baumwipfel und wird dann im Feldhauptquartier abgesetzt. Selbstverständlich verbunden mit einem guten Essen. Man schläft nicht im Zelt wie die Soldaten, sondern wird im Luxushotel untergebracht. Ganz toll also. Man braucht sich auch keine große Mühe machen, wenn die Berichte stromlinienförmig sind, wird man im nächsten Jahr wieder zu einer interessanten Abenteuerreise eingeladen. Es ist aber auch ganz einfach, beim nächsten Mal nicht dabeizusein: Man braucht nur anzufangen, kritisch zu schreiben.
Zusammenstellung und Bearbeitung der Redebeiträge: Peter Wolter
21.09.2021 13:05 Uhr
Whistleblower gesucht
Geschichte schreiben, wie es nicht im Drehbuch der Herrschenden steht: Menschen, die sich dieses Recht nehmen, waren zur XIX. Rosa-Luxemburg-Konferenz gekommen
Claudia Wangerin
Von allen Referenten der Rosa-Luxemburg-Konferenz bekam Anders Kaergaard am Samstag den längsten Applaus. Weniger als eineinhalb Jahre zuvor hatte der frühere Hauptmann des dänischen Militärnachrichtendienstes mit seinem alten Leben gebrochen und Menschenrechtsverletzungen während einer Operation im Irak öffentlich gemacht und war dafür sechs Monate inhaftiert worden (siehe jW vom 7. Januar 2014). Große Teile seiner soldatisch geprägten Verwandtschaft hätten sich wegen der Enthüllung im Herbst 2012 von ihm abgewendet, sagte der Whistleblower am Samstag im Berliner Urania-Haus. Er habe zwar einen hohen persönlichen Preis für sein Handeln bezahlt. Aber: »Gewonnen habe ich dafür Selbstachtung und ein neues Verständnis von Wahrheit.«Außerdem, sagte Kaergaard, »habe ich dadurch eine viel bessere Familie gewonnen: Euch.« Insgesamt nahmen mehr als 2000 Menschen an der XIX. Rosa-Luxemburg-Konferenz teil, die von junge Welt organisiert und von zahlreichen Gruppen unterstützt wurde.
Vor der Militäroperation im November 2004 bei Basra hatte Kaergaard mit Nachdruck gewarnt: Höchstwahrscheinlich werde sie sich gegen Zivilisten richten – unglaubwürdig sei die Quelle für die Information, in den Zielobjekten hielten sich Anführer von Al-Qaida auf. Die Warnung wurde ignoriert; dänische und britische Soldaten umzingelten die Häuser, irakische Besatzungshelfer verschleppten die Bewohner in ein Foltergefängnis, wo sie bis zu 70 Tage festgehalten wurden. Ein Video von der Operation, das Anders Kaergaard publik machte, zeigt, wie dänische Soldaten tatenlos zusehen, wie irakische Kollaborateure die vor ihnen knienden und gefesselten Zivilisten schlagen und treten. Parallel dazu druckte die dänische Tageszeitung Arbejderen seinen Geheimdienstbericht über die Operation.
»Wir haben uns selbst gefragt, warum er gerade zu uns kam«, sagte die Nachrichtenchefin von Arbejderen, Freja Wedenborg, am Samstag bei der Podiumsdiskussion »Vierte Macht und Heimatfront: Wie Medien Kriege möglich machen«. Die Frage, warum eine solche Enthüllungsgeschichte bei einer kleinen, linken Redaktion gelandet sei, hatte der stellvertretende jW-Chefredakteur Rüdiger Göbel aufgeworfen. Sie denke, sagte Wedenborg, »Kaergaard kam zu uns, weil er spürte, daß wir die ganze Geschichte erzählen würden«. Göbel äußerte anschließend die Hoffnung, daß sich demnächst auch Whistleblower aus der Bundeswehr an die Medien wenden würden. Die junge Welt sei dafür die richtige Adresse – Bild oder Spiegel würden dagegen auf der ersten Seite die Kriegspropaganda fortsetzen. jW-Autor Rainer Rupp, der während des kalten Krieges als DDR-Aufklärer im Brüsseler NATO-Hauptquartier tätig war und nach seiner Enttarnung sieben Jahre ins Gefängnis mußte, bestätigte dies: Vor seiner Zeit bei der NATO habe er sich den Spiegel gekauft. Als Insider habe er jedoch schnell gemerkt, daß das Magazin alle von der NATO verbreiteten Informationen kritiklos übernommen und als eigene Recherchen ausgegeben habe.
Karin Leukefeld, die für jW aus dem Irak und Syrien berichtet, kritisierte die Arroganz von Berichterstattern, die nur für zwei oder drei Tage in ein Land kämen und dennoch glaubten, es zu kennen.
Begonnen hatte die Konferenz im Jahr 100 nach Beginn des ersten Weltkriegs mit einem Rückblick: Im Kern habe die deutsche Reichsregierung bereits 1914 eine Strategie verfolgt, die wie eine Vorahnung auf die Europäische Union wirke, sagte der Soziologe und Journalist Jörg Kronauer. Zum Beleg zitierte er aus den Kriegszieldenkschriften des damaligen deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, dem ein mitteleuropäischer Wirtschaftsverbund bei äußerlicher Gleichberechtigung, tatsächlich aber unter deutscher Führung vorschwebte. Keine Friedenspolitik, sondern eher eine altbekannte Rivalität sah Kronauer darin, daß die Bundesregierung NATO-Kriegseinsätze in afrikanischen Ländern ablehnt, für die sich Frankreich besonders engagiert.
Auf den neokolonialen Charakter dieser Ordnungskriege ging anschließend der südafrikanische Kommunist und Weggefährte Nelson Mandelas, Denis Goldberg, ein. Gegen die »Teile und herrsche«-Politik auf dem afrikanischen Kontinent sprach sich auch Napuli Langa aus, die mit zwei weiteren Vertretern des Flüchtlingsprotestcamps vom Berliner Oranienplatz auf der Bühne begrüßt wurde: »Ich bin aus dem Sudan – ich möchte nicht Nord- oder Südsudan sagen, ich bin Sudanesin.« In Deutschland kämpft die junge Frau als Betroffene um Perspektiven für Asylsuchende, die durch die Sondergesetze wie Residenzpflicht und Arbeitsverbot ausgegrenzt werden.
Ihr persönlicher Werdegang könnte nicht unterschiedlicher sein, doch eine große Gemeinsamkeit verbindet Menschen wie Anders Kaergaard und Napuli Langa: Sie nehmen sich das Recht, Geschichte zu schreiben, wie es nicht im Drehbuch der Herrschenden steht.
Weitere Berichte von der Konferenz im Online-Spezial unter www.jungewelt.de/rlk. Am 29. Januar erscheint eine Beilage mit den Referaten und im März eine Gesamtdokumentation als Broschüre.
21.09.2021 13:04 Uhr
Ins freie Leben
Novalis, Turbogesang und Saaltanz gegen den Krieg: Das war das Konzert der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Christof Meueler
Daß die Welt auf dem Kopf steht, wie Novalis sagte, ist ein Grundgefühl der Linken. Das meint keinen Yogakopfstand, sondern Wahn, Gewalt und Verblendung. Die »Lieder gegen den Krieg«, das Abendkonzert der Rosa-Luxemburg-Konferenz am Samstag in der Berliner Urania, begann Erich Schmeckenbecher mit einer Notiz aus dem Alltagshorror. Er verlas eine Zeitungsnotiz, nach der ein Heilbad in Bad Klosterlausnitz, das liegt zwischen Jena und Gera, pünktlich zum Jahrestag der Reichspogromnacht der Nazis, zur »langen romantischen Kristall Nacht« einlud, mit Kerzen und »heißen Aufgüssen«. Das mußte Schmeckenbecher nicht kommentieren und spielte einfach eins der jiddischen Lieder, für die sein altes Duo Zupfgeigenhansel Ende der 70er Jahre in allen Feuilletons gefeiert worden war.
Zupfgeigenhansel sangen damals vor einem noch sehr zahlreichen Folk- und Alternativpublikum ausgegrabene deutsche Volkslieder. Das hatte auch etwas Entrücktes, als spielten sie da in ihrem ganz eigenen Kostümfilm. Dagegen wirkt der heute 60jährige Schmeckenbecher sehr charmant diesseitig, einem nonchalanten und nonkonformistischen Bob-Dylantum verpflichtet. Einer, der keinen Mist macht, einfach, weil er darauf keine Lust hat. Und auch nicht auf diese komischen Mundharmonikakränze, die sich Singer/Songwriter gemeinhin zur Gitarre um den Hals schnallen. Schmeckenbecher hat sich statt dessen eine Apparatur ausgedacht, in der die Mundharmonika direkt neben das Mikrofon gehängt wird. Manchmal singt er auch durch die Mundharmonika, was dann fast wie Daft Punk klingt, nach einem unerwarteten Vocoder-Sound. Einmal trat Schmeckenbecher neben das Mikofon und sang weiter, damit das Publikum ganz still werden mußte, um ihn noch zu hören.
Auch das anchließende Duo Luis Galrito und António Hilário aus Portugal veränderte die konventionelle Form ihrer Lieder, in erster Linie Coverversionen des berühmten Zeca Afonso, in dem sie im Wortsinn mit ihren Stimmen spielten. Sie ließen sie gurren, raspeln, schnalzen und keuchen, was zu Gitarre und kleiner Trommel schöne rhythmische Effekte erzeugte. Die beiden Basis-Militanten, ein Gewerkschafter und ein Musiklehrer, waren bei ihrem ersten Auftritt außerhalb von Portugal am eindrucksvollsten, wenn sie sich in ihren rhythmischen Liedern verloren (wie das auch Tänzer tun) – auch wenn sie alles unter Kontrolle hatten. Damit das Publikum mitmachte (»Na-na-na-na«), reichte ein Kopfnicken von Galrito, dem Musiklehrer. Merke: »Wir sind alle gleich«, wie die Dolmetscherin die Aussage eines Liedes der beiden zusammenfaßte.
Die beste Geschichte zum antimilitaristischen Thema des Abends erzählte Heinz Ratz, der singende Bassist der Folkrockband Strom & Wasser. Sie handelte davon, wie er von seinem konservativen Vater zum 13. Geburtstag einen Modellbausatz des Nazischlachtschiffes »Bismarck« geschenkt bekam und er daran scheiterte, es zusammenzubauen – der Plastik-Klebe-Klumpen, den er anschließend seinem Vater zeigte, machte diesen schaudern. Interessant auch die Anekdote, wie Ratz bei einer Hotline der Bundeswehr anrief, um sich zu erkundigen, ob sie denn so matschig wäre wie ihre geistesabwesenden Soldaten, die ihm zum Wochenende immer in den Zügen begegneten? »Lieber Herr Ratz«, wurde ihm beschieden, »machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles noch wie früher.« Hallo Weltkrieg, danke schön. Zum Glück schießt der »Panzerfahrer Jupiter« im gleichnamigen Lied von Strom & Wasser auf sich selbst. Die Musik dazu wirkt wie die von einem zur vierköpfigen Band gewordenen Fußgängerzonen-Alleinunterhalter. Einer von denen, die die Trommel auf dem Rücken, die Gitarre am Bauch und die Mundharmonika und Pfeife in der von Schmeckenbercher verachteten Weise um den Hals geschnallt haben. Damit das nicht zu bumsfallera-originalistisch wirkt, schaltet Ratz zwischendurch den Turbo-Gesangs-Gang ein, was an Raggamuffin erinnert.
Für eine wesentlich strengere Form der Ausgelassenheit standen Grup Yorum als letzter Act des Abends. Uniformartig gewandet, alle trugen khakifarbene Westen zu dunklen Hemden und Jeans, so ähnlich wie in den achtziger Jahren die Industrialbands, kamen sie klatschend auf die Bühne und nahmen wie in einer Rockoper Position ein. Vorne Sängerin zwischen zwei Sängern, hinten der Schlagzeuger und an den Seiten Bassist und Saz-Spieler. Erst gab es vokalistische Dramatik mit hammerharten Texten, die in deutscher Übersetzung an die Wand projiziert wurden: »Werde groß mein Kind / dein Vater wird dir Leid und Armut kaufen / Arbeitslosigkeit und Hunger kaufen / Unterdrückung und Folter kaufen«, heißt es beispielsweise im Lied für Erdal Eren, der als 17jähriger nach dem Militärputsch 1980 hingerichtet wurde. Grup Yorum sind die bekannteste linke Band der Türkei und deshalb in Berlin unvollständig: Fünf Mitglieder haben Ausreiseverbot, ein Mitglied ist im Knast, eins hat Hausarrest. »Der Sozialismus führt über eine unabhängige Türkei« sagte einer der Sänger. »Wenn sich die Straßen füllen / komm aus der Stadt / komm aus dem Land / Komm aus dem Gefängnis / löse dich von den Fesseln und komm«, sangen Grup Yorum in ihrem ersten Lied. Und zum Schluß bildete der Saal einen großen Kreis und tanzte von außen um die Stuhlreihen.
Am Anfang des Abends hatte Erich Schmeckenbecher gegen die auf dem Kopf stehende Welt das Gedicht »Zahlen und Figuren« von Novalis gesungen: »Wenn die, so singen oder küssen, / mehr als die Tiefgelehrten wissen, / wenn sich die Welt ins freie Leben / und in die Welt wird zurückbegeben, (…) dann fliegt vor einem geheimen Wort / das ganze verkehrte Wesen fort.«
21.09.2021 13:06 Uhr
Manifestation gegen imperialistische Kriege
Mit roten Nelken und kämpferischer Demonstration: In Berlin gedenken Zehntausende Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts. Linke-Vorsitzender Riexinger bekräftigt Antikriegskurs
Rüdiger Göbel
Im August jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. Zwei Monate nach dessen Ende im November 1918 waren in Berlin die Führer der kommunistischen Bewegung Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Freikorpsoffizieren ermordet worden, unter Billigung der SPD-Führung. Am Sonntag zogen Zehntausende zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedsrichsfelde und gedachten der am 15. Januar 1919 erschossenen Kriegsgegner. Junge wie Alte, Sozialisten und Kommunisten aus der ganzen BRD und anderen europäischen Ländern kamen mit roten Nelken. Die Linke-Vorsitzenden, Katja Kipping und Bernd Riexinger, sowie Fraktionschef Gregor Gysi legten Kränze nieder. Auch die Linke-Vizevorsitzende Sahra Wagenknecht und der frühere Parteichef Oskar Lafontaine sowie viele weitere Spitzenpolitiker, darunter Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, nahmen an der Ehrung teil.
Parallel startete um 10 Uhr eine Gedenkdemonstration kommunistischer und antimilitaristischer Gruppen am U-Bahnhof Frankfurter Tor zum Zentralfriedhof. In dem von Linken verschiedenster politischer Strömungen unterzeichneten Aufruf hieß es: »Wir brauchen keine Militärinterventionen. Nicht in Syrien, nicht in Mali, nicht im Iran. Nirgendwo. Wir brauchen keine Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, in der Türkei oder andernorts. Wir brauchen keine Drohnenmorde und keine Rüstungsexporte.« Die Teilnehmer demonstrierten »für Menschlichkeit und Internationalismus, eine solidarische, friedliche und sozial gerechte Welt«.
Die Veranstalter äußerten sich zufrieden über die Resonanz und sprachen von 15000 Teilnehmer, die Polizei will 3000 Demonstranten gezählt haben. Die Antifaschistische Linke Berlin wertete den gemeinsamen Zug zur Gedenkstätte der Sozialisten als »vollen Erfolg«. Die ALB hatte in diesem Jahr mit dem thematischen Schwerpunkt Antimilitarismus zur Teilnahme aufgerufen. Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP, erklärte am Rande des Marsches gegenüber junge Welt: »Wir gedenken Karls und Rosas, nicht indem wir nach hinten schauen, sondern nach vorn angesichts der Perversion der kapitalistischen Gesellschaft, wo die Zahl der Armen explodiert und Aktienkurse steigen.« Deshalb sei es notwendig, kommunistische Akzente zu setzen. Die Demonstration wie auch die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz am Samstag seien »ein großer Erfolg« und eine »Manifestation gegen imperialistische Kriege«.
Zu der von junge Welt organisierten Zusammenkunft in der Berliner Urania waren mehr als 2000 Besucher gekommen. Linke-Chef Riexinger bekräftigte auf der abschießenden Podiumsdiskussion den Antikriegskurs seiner Partei. »Die Linke ist die einzige Friedenspartei im Parlament und die einzige, die im Bundestag gegen Kriege votiert.« Die Linke werde in dieser Frage ihre Positionen nicht ändern. In Zeiten, da die Bundeswehr wie die US-Armee Kriege mit Hilfe von Kampfdrohnen führen möchte oder deutsche Rüstungskonzerne massiv Waffen in Krisengebiete exportieren, sei es wichtig, eine starke antimilitaristische Position im Parlament zu haben. Riexinger versicherte den Teilnehmern der Rosa-Luxemburg-Konferenz, man werde »das Geschäft mit dem Tod« nicht akzeptieren. Weitere Teilnehmer der Diskussionsrunde waren die Präsidentin des Weltfriedensrates, Maria do Socorro Gomes Coelho, der Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), Ulrich Schneider, und der politische Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinte Kriegsdienstgegner, Monty Schädel.
21.09.2021 13:06 Uhr
Mehr miteinander machen!
Podiumsdiskussion bei der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am Samstag in Berlin: »Wie kann der Widerstand gegen Faschismus, gegen Krieg und gegen Sozialkahlschlag zusammengeführt werden?«
Das Thema »Krieg und Frieden« stand am Samstagnachmittag im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion auf der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Teilnehmer waren der Vorsitzende der Partei Die Linke, Bernd Riexinger, Ulrich Schneider, Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), Maria do Socorro Gomes Coelho, Präsidentin des Weltfriedensrates sowie Monty Schädel, politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen. Titel der von jW-Chefredakteur Arnold Schölzel moderierten Veranstaltung war »Wie kann der Widerstand gegen Faschismus, gegen Krieg und gegen Sozialkahlschlag zusammengeführt werden?«
Arnold Schölzel:
Im November vergangenen Jahres fand ein internationales Friedensseminar des Weltfriedensrates in Guantánamo auf Kuba statt. Thema war die Beseitigung aller Militärstützpunkte in der Welt. In der Abschlußerklärung verurteilten die 150 Teilnehmer die Einmischungspolitik der USA und der NATO. Sie stütze sich auf das globale Netzwerk dieser Militärstützpunkte, Michel Chossudovsky hat gerade über Global Warfare gesprochen, sowie die dort installierten Anlagen zur Überwachung und zur Kriegführung im Cyberspace. Welche Bedeutung hat aus der Sicht des Weltfriedensrates die Forderung nach Schließung aller Militärstützpunkte? Das ist, glaube ich, ein Thema, das hierzulande viel zu wenig thematisiert wird.
Maria do Socorro Gomes Coelho:
Wenn wir den Imperialismus anschauen, so hat er einige Dominierungsinstrumente zur Verfügung. Da gibt es z.B. diese schmutzige Diplomatie der USA, die diplomatische Erpressung, Wirtschaftskriege, die Kontrolle ganzer Regionen. Man will die Rohstoffe kontrollieren, man möchte Übereinkommen erzielen, die eine Erweiterung des Kapitals und seiner Hegemonie garantieren. Und wenn das nicht funktioniert, dann geht man in den Krieg. Die NATO ist eine Kriegsmaschinerie mit Tausenden Stützpunkten.
Warum gibt es diese Militärbasen? Im Amazonasgebiet z.B. gibt es vor allem an der Grenze zu Kolumbien viele von ihnen, weitere werden eingerichtet. Da geht es letztlich um Wirtschaftsfragen – um Trinkwasser, Rohstoffe, strategisch wichtige Mineralien, Erdöl.
Wenn der Imperialismus in der Krise ist, reagiert er wie eine verletzte Bestie, er wird gefährlicher. Darum müssen wir all das anprangern, wir müssen gegen die Militarisierung kämpfen und uns dafür einsetzen, daß Stützpunkte geschlossen werden.
Seit dem 11. September 2001 hat die US-Politik den unendlichen Krieg erklärt. In der Außenpolitik ersetzt sie immer mehr den Dialog durch die Kraft der Waffen. Es wurden in ihrer Geschichte schon viele Kriegsverbrechen begangen und Menschenrechte verletzt. Wegen der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki ist niemand bestraft worden. In Vietnam wurden zwei Drittel der Wälder zerstört. Oder nehmen wir das, was in Jugoslawien geschehen ist.
Arnold Schölzel:
Bernd Riexinger – die neue Regierung hat im Koalitionsvertrag einige Punkte gesetzt, die bei der Frage »Kampf gegen den Krieg« aufmerksam werden lassen. Der Begriff »Kultur der Zurückhaltung«, der im alten Koalitionsvertrag mit der FDP noch enthalten war, wird in diesem Koalitionsvertrag nicht einmal mehr genannt. Vom Abzug von Atomwaffen, der im alten Koalitionsvertrag drin war, ist auch keine Rede mehr. Dafür zum Beispiel von der Anschaffung von Kampfdrohnen und der Unterstützung des US-Raketenschilds in Europa.
Das muß nach meiner Meinung eine klare Antwort der Linken hervorrufen, eine Bekräftigung der Antikriegsposition. Statt dessen beschäftigen sich die Medien und wohl auch die Partei mit Kontroversen um einzelne Formulierungen. Da haben wir die Geschichte mit dem Europawahlprogramm, der Charakterisierung der EU als militaristisch. Stefan Liebich spricht in bezug auf die Beurteilung des Koalitionsvertrags sogar von ernsten Differenzen und hat eine abweichende Meinung zu der, die wohl in der Fraktion formuliert wurdet. Ist da nicht ein klares Wort nötig, das in die Friedensbewegung ausstrahlen könnte?
Bernd Riexinger:
Man kommt am leichtesten in die Medien, wenn man eine abweichende Meinung formuliert. Wenn das notwendig sein sollte, möchte ich das gerne tun: Die Linke hat überhaupt keinen Grund, in irgendeiner Form ihre friedenspolitischen Positionen aufzuweichen, sie wird es nicht tun. Und ich möchte gerne darauf hinweisen, daß wir im Deutschen Bundestag die einzige Friedenspartei sind.
Naja, die Zwischenrufe: Noch! Vielleicht sollte man eher den Schwerpunkt darauf legen, die Linke in dieser Haltung zu bestärken. Auch die Bundestagsfraktion steht zum friedenspolitischen Kurs der Partei. Sie hat gegen alle, und ich betone noch einmal – alle! Auslandseinsätze der Bundeswehr gestimmt. Und sie lehnt grundsätzlich Auslandseinsätze und Kampfeinsätze der Bundeswehr ab, und zwar vor der Wahl wie nach der Wahl.
Es sprechen alle Tatsachen dafür, daß Die Linke in ihrem friedenspolitischen Kurs recht behalten hat. Schauen wir uns die Ergebnisse in Afghanistan an. Schauen wir uns die in Libyen an oder die im Irak – wo gesagt wurde, dort sei jetzt der Frieden wiederhergestellt. Wir erleben dort Verwüstungen sozialer und militärischer Art wie noch nie zuvor. All diese Kriegseinsätze, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, zeigen, Krieg ist keine geeignete Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – und Kriege müssen wir grundsätzlich ablehnen.
Die Linke hat aber in ihrem Wahlprogramm nicht nur gesagt: Wir lehnen Kriege ab. Genauso wichtig ist es, daß sie auch Waffenexporte ablehnt. Es ist nun mal eine Tatsache, daß jede Waffe ihren Krieg findet und dann tötet – mit dem Tod macht man aber keine Geschäfte. Diese Position ist mir um so wichtiger, weil Deutschland inzwischen drittgrößter Waffenexporteur ist. Und weil wir nicht nur die halbe Welt, sondern auch Krisengebiete mit Waffen ausstatten, ist es sehr wichtig, daß wir gegen diese Exporte zu Felde ziehen. Wir sind der Meinung, daß Drohnen generell geächtet werden müssen und daß wir eine klare Kampagne gegen sie führen müssen. Sie erleichtern definitiv die Kriegführung.
Also, ich mache mir da, ehrlich gesagt, keine Sorgen um die Positionierung der Linken. Sowohl in der Parteibasis als auch in der Parteiführung gibt es einen ganz klaren antimilitaristischen Kurs. Und dieser Kurs wird beibehalten.
Arnold Schölzel:
Der Neofaschismus, jeder erlebt es, ist in der Weltwirtschaftskrise wieder hochgekommen – es soll in Europa mehr als 100 Organisationen geben. Ulrich Schneider, welche Bedeutung hat für Sie diese Auseinandersetzung mit Neofaschismus und Rechtspopulismus mit Blick auf die Frage: Kampf gegen den Krieg?
Ulrich Schneider:
Ich halte die Zahl für etwas untertrieben, wir haben 47 europäische Länder, statistisch gesehen gäbe es in jedem Land nur zwei solcher Organisationen. Man muß die unterschiedlichen Facetten dieser faschistischen, rechtspopulistischen und gewaltbereiten Szene sehen.
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, deren Bundessprecher ich bin, hat immer aus der Erfahrung der Zeit vor 1945 beide Ziele gemeinsam gedacht: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. Wir haben auch immer deutlich gemacht, daß der Faschismus die ideologische Vorbereitung des Krieges ist. Und damit sind wir mitten im heutigen Thema.
Es gibt viele neofaschistische und rechtspopulistische Gruppen, die in hierarchischen Systemen denken und sich auch so organisieren, Fremde werden da nur als Feindbilder wahrgenommen, seien es die Sinti und Roma, die Ost- und Südeuropäer oder Muslime generell. In Bulgarien werden Türken diskriminiert, in Griechenland propagiert die faschistische Partei »Goldene Morgenröte«: Jeder, der kein Grieche sei, gehöre nicht dazu.
Hier werden Feindbilder gewalttätig in die Gesellschaft eingebracht. Deren Strukturierung führt dazu, daß Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzungen nicht nur akzeptabel, sondern Realität wird. Ich will jetzt nicht einmal die vielen Menschen ansprechen, die in Europa – nicht nur in Deutschland – von Tätern aus dem rassistischen oder neofaschistischen Spektrum ermordet wurden. Gewalt wird üblich, mit ausgrenzenden Thesen werden Einstellungen propagiert, auf die Kriegspolitiker aufbauen können.
Zur ideologischen Kriegsvorbereitung gehört ein zweites Element: die Traditionsentwicklung. Sie hängt ebenfalls mit extrem rechten und rechtspopulistischen Gruppierungen zusammen. Wir sagen: »Nie wieder Faschismus!« – müssen aber leider wahrnehmen, daß es rechtsextreme Organisation, gibt, die von ihrer Regierung unterstützt werden. In Ungarn z.B. betreiben die Parteien Jobbik und Fidesz die Rehabilitierung des faschistischen Horthy-Regimes.
Noch Schlimmeres erleben wir in den baltischen Staaten, in denen SS-Verbrecher rehabilitiert werden. Erst am Freitag konnten wir in den Medien lesen, daß ein verstorbener SS-Mann in Estland als »Freiheitskämpfer« ein Ehrengrab bekommt, durchaus unterstützt von der Regierung. Und der 16. März in Lettland, der Nationalfeiertag, ist in den vergangenen Jahren immer wieder Kulisse für die Traditionspflege der SS-Verbrecher gewesen. Das wird auch von Ministern der jeweiligen Regierung unterstützt. Eine solche Traditionspflege erzeugt Offenheit für den Krieg und für die faschistische Vergangenheit.
Ein letztes Beispiel, die Ukraine. Jeder hat noch die Bilder im Kopf, wie diese Freiheitskämpfer auf dem zentralen Platz von Kiew stehen, mitten unter ihnen unser Boxweltmeister. Sie meinten, sie kämpften für die Demokratie – was man aber nicht sah, waren die Hauptakteure der gewalttätigen Auseinandersetzungen, Mitglieder der Partei Swoboda. Übersetzt heißt das sinnigerweise: Freiheit. Diese Leute wollen die Bandera-Faschisten rehabilitieren, sie versuchen, sie zum Vorbild für ihren »Freiheitskampf« zu machen. Ich glaube, man erkennt an diesen Beispielen, wie eng der Kampf gegen Neofaschismus und Rechtspopulismus mit der Frage Krieg oder Frieden zu tun hat.
In Ungarn können wir eine solche Arbeitsteilung auch feststellen. Die Regierungspartei Fidesz hat im Parlament eine Zweidrittelmehrheit, braucht also keinen Kooperationspartner. Sie nutzt die offen faschistische Jobbik aber immer wieder als Stichwortgeberin, um bestimmte Themen offener ansprechen zu können. Da werden großungarische Attitüden gepflegt, verbunden mit der Forderung, den Trianon-Vertrag von 1920 aufzuheben, bei dem Ungarn deutlich an Territorium verloren hatte.
Das aber würde heißen, daß das heutige Ungarn Gebietsansprüche gegen Rumänien, die Slowakei, Serbien, Bulgarien – eigentlich gegen alle Nachbarn erhebt. Beide Parteien vertreten offen diese Position. Sie behaupten, wer sich als Ungar fühle und in einem anderen Land lebt, dürfe auch ungarischer Staatsbürger sein. Das ist die zweite, die moderate Variante.
Und ein letztes, was irretierend ist, daß wir gleichzeitig erleben, daß Neonazis öffentlich erklären, daß sie eigentlich gegen Kriegseinsätze sind, wobei sie – und das haben wir ja bei den deutschen Nazis auch erlebt – nur deswegen dagegen sind, weil es keine deutschen Kriegseinsätze sind, sondern weil sie unter fremdem Diktat durchgeführt werden.
Arnold Schölzel
Woran liegt es, daß Karl Liebknechts Satz: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« so wenig Resonanz findet? Was kann man gegen diese Passivität machen?
Monty Schädel:
Zunächst meine ich, daß es falsch ist, der Friedens- und Antikriegsbewegung Passivität vorzuwerfen. Alleine der Umstand, daß so viele Leute bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz sind, beweist, daß sich auch in der Bundesrepublik Deutschland ganz viele gegen den Krieg und für den Frieden engagieren. Ein Teil von ihnen ist mitunter schon seit Jahrzehnten aktiv, ein anderer ist neu hinzugestoßen. Die Friedensbewegung bearbeitet die üblichen, traditionellen Themen: Waffenhandel, Atomwaffen, neuerdings die Drohnen. Es gibt die Zivilklauselbewegung, die Auseinandersetzung mit der Bundewehrwerbung an Schulen, es gibt die aktuellen Kriege. Ganz viele Aktive gehen auf die Straße und sagen: »Das wollen wir nicht!«.
Zugegeben, bezogen auf die Größe der deutschen Bevölkerung, sind es relativ wenige. Umfragen haben allerdings ergeben, daß 50, 60 und gar 70 Prozent schon immer gegen den Afghanistan-Krieg waren. Diese Leute haben wir nie auf die Straße bekommen – bei unseren Demonstrationen waren mal 2000, mal 5000 Teilnehmer. Einmal, es war in Berlin und Stuttgart, kamen wir sogar an die 20000 heran.
Das ist kein Beleg für Passivität. Es gibt einfach zu viele Themen, die wir zu bearbeiten haben, und zu geringe persönliche, politische und auch finanzielle Ressourcen. Relativ wenige arbeiten sich an den Themen ab, sie haben soviel zu tun, daß sie an das Ende ihrer Kräfte kommen. Und es gibt aus meiner Sicht zu viele Gravitationszentren in der Antikriegs- und Friedensbewegung, die ihr jeweiliges Thema als das Allerwichtigste ansehen. Die Verbindung ist nicht einfach herzustellen, die Kampagne gegen den Waffenhandel arbeitet eigenständig, die gegen die Einführung von Drohnen auch. Wir müssen miteinander ins Gespräch kommen, wir müssen mehr miteinander machen.
Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht eine Attraktivitätsoffensive für die Bundeswehr vor. Auch wenn Bernd Riexinger gesagt hat, daß Die Linke weiterhin friedenspolitisch aktiv bleibt, betrübt es mich doch, wenn die Linksfraktion in Mecklenburg-Vorpommern zu ihrem Neujahrsempfang erstmals die Bundeswehr mit einlädt. Und das im Dezember 2013, wenige Tage, nachdem die große Koalition ihre Attraktivitätsoffensive verkündet hat! Und es betrübt mich auch, daß diese Fraktion, deren friedenspolitischer Sprecher ich von 1998 bis 2002 war, es nicht einmal für nötig hält, statt dessen Aktive aus der Friedesbewegung einzuladen.
Nach meinen Informationen wurde in der Fraktion darüber so abgestimmt: Elf für die Einladung der Bundeswehr, eine Abgeordnete war dagegen. Begründung für das positive Votum war: Wir reden doch sowieso immer wieder mit der Bundeswehr über Abrüstung und Konversionsprobleme, warum sollten wir sie nicht zum Neujahrsempfang einladen?
Ich will nicht unterstellen, daß die ganze Linke es so macht, aber es gab gerade in den vergangenen Tagen verschiedene Äußerungen, die für mich ein verschobenes Bild erzeugen. Ich will dafür streiten, daß die Partei in der Antikriegs- und Friedensbewegung eine Position hat, weiterhin dort aktiv ist und uns dabei auch unterstützt. Aber sie muß halt auch in ihren eigenen Reihen bitte mal schauen, welche Diskussionen und Entscheidungen es dort gibt.
Kurz noch zum Hauptfeind: Hier in der Bundesrepublik wird der Krieg vorbereitet – ob es Waffenhandel ist, ob es Drohnen oder Militäreinsätze sind.
Bernd Riexinger
Es ist nichts Neues, daß es in der Linkspartei Leute gibt, die eine andere Position zur Friedenspolitik haben. Das darf man und muß man auch von außen oder aus der Friedensbewegung heraus kritisieren, dagegen habe ich überhaupt nichts. Die Partei als Ganzes aber, ihr Grundsatzprogramm, ihr Agieren an der Basis wie in der Führung läßt keinen Zweifel an ihrer friedenspolitischen Haltung.
Das, was in Mecklenburg-Vorpommern vorgefallen ist, wurde nicht an uns herangetragen. Wenn ich dort im Osten zu Parteiversammlungen fahre und mal vergesse, auf die Kriegspolitik oder Friedenspolitik hinzuweisen, sagen mir die Genossen aber: »Bernd, du hast ein ganz wichtiges Thema vergessen, nämlich, daß Die Linke ganz klar Friedenspartei ist.« Wenn wir das nicht mehr wären, wären wir überflüssig im Parteienspektrum. Wir sollten nicht vergessen, daß mit uns erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Partei im Bundestag ist, die eine klare Antikriegspolitik betreibt. Hoffentlich bleibt das so.
Wegen dieser deutlichen Haltung wird die Partei zur Zeit heftig von den bürgerlichen Kräften kritisiert. Und sie wird auch dazu gedrängt, immer wieder aufweichende Stellungnahmen abzugeben.
Es ist aber doch Die Linke, die ohne Wenn und Aber bei den Aktivitäten der Friedensbewegung mitmacht! Wo ich auch hinkommen, die Kreisverbände und die Parteimitglieder sind bei den Friedenskundgebungen dabei. Und wir sollten uns in der Tat Gedanken darüber machen, wie wir diese Aktivitäten verbreitern.
Zum einen sollten wir Aufrüstung und Kriegsfragen mit deren sozialen Ursachen verbinden. Eine ungerechte Wirtschaftsordnung, die die Welt immer mehr in Arm und Reich teilt und dafür militärische Mittel einsetzt, muß zum Thema der Friedenspolitik gemacht werden. Zum anderen sollten wir die Meinungsumfragen nicht unterschätzen, auch wenn wirkliche Mobilisierung etwas anderes ist. Das geht uns bei anderem Themen auch so, etwa beim Mindestlohn. Aber ist es nicht eine geschichtliche Errungenschaft, daß eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, gegen Kriegseinsätze ist? Und ein großer Teil der Jugend gegen Waffenexporte? Wir müssen deutlich machen, daß es nichts mit Friedenspolitik zu tun hat, wenn Deutschland Waffen in die halbe Welt exportiert.
Monty Schädel:
Mich muß man nicht davon überzeugen, daß Die Linke überall mit dabei ist. Ich will nur noch darauf hinweisen, daß am 11. Februar auf dem Platz der Republik vor dem Bundestag eine Aktion von »Terres des Hommes« gegen den Einsatz von Kindersoldaten stattfindet. Und der 26. Februar ist der bundesweite Aktionstag gegen Rüstungsexporte.
Noch kurz zu den Umfragen: Natürlich macht es sich gut, wenn wir darauf verweisen können, daß 70 Prozent gegen den Krieg sind. Es sind aber nur wenige, die wirklich etwas tun – wir haben kein Überzeugungs-, sondern ein Mobilisierungsproblem. Friedensthemen wirken sich auch kaum auf die Wahlen aus, Die Linke hätte sonst deutlich mehr Stimmen bekommen, sie wäre nicht die stärkste Oppositions-, sondern die stärkste Regierungspartei.
Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (aus dem Publikum):
Wir dürfen uns die historische Leistung der Friedensbewegung nicht wegreden lassen – sie besteht darin, daß wir 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges eine Gesellschaft haben, die nicht mehr in militaristischen Kategorien denkt, eine Gesellschaft, die vom Militär und von Rüstungen nicht mehr viel hält. Das ist unser Verdienst, und darauf müssen wir aufbauen. Das kann aber auch wieder verloren gehen, deswegen brauchen wir die Friedensbewegung.
Mein zweiter Punkt: Es ist nicht so, daß sich die Friedensbewegung verzetteln würde oder zu viele Projekte hätte. Wenn es große Dinge gibt, wo wir zusammen sein müssen, dann kommen wir zusammen. Vor fast elf Jahren war eine dreiviertel Million Menschen hier in Berlin und hat gegen den drohenden Irak-Krieg demonstriert. Das hat die Friedensbewegung geschafft! Die Mobilisierungsschwäche liegt meines Erachtens daran, daß die Menschen hierzulande von den heutigen Kriegen nicht direkt betroffen sind.
Ein dritter Punkt: Eine Hauptaufgabe der Friedensbewegung war und ist die Aufklärung darüber, was läuft. Deswegen brauchen wir auch solche Konferenzen, deswegen brauchen wir linke Zeitungen, die unsere Positionen auch weitergeben. Deswegen müssen wir Druck ausüben auf die herrschenden Medien, damit sie uns etwas besser wahrnehmen. Es ist ja so: Wenn wir weniger als hunderttausend Leute auf die Straße bringen, nimmt uns die Presse nicht wahr.
Und weil der Beginn des Ersten Weltkrieges jetzt 100 Jahre zurückliegt, haben wir in diesem Jahr die Chance, deutlich zu machen, daß solche Kriege mit unvorstellbaren Verbrechen verbunden sind. Wir sollten ein wenig an unserer Erinnerungskultur arbeiten: In deutschen Dörfern gibt es Hunderte von Kriegerdenkmälern.Warum gehen wir nicht daran, in diesem Jahr durch deren Schleifen am Lack des deutschen Soldaten- und Heldentums zu kratzen?
Zusammenstellung und Bearbeitung des gesprochenen Textes: Peter Wolter
21.09.2021 13:02 Uhr
Mit Easyjet zu Rosa
Nach dem »Häuserkampf« zum Jahresauftakt auf der roten Insel Giudecca vor Venedig kommt der Italiener Piero Fortunato an diesem Wochenende nach Berlin
Guido Schirmeyer und Delfina Marcello
Auf der Insel La Giudecca, ein Steinwurf südlich vor Venedig, pfeift ein scharfer Wind. Das zwei Kilometer kleine Eiland ist ein härteres Pflaster als der geleckte, touristenverseuchte Markusplatz mit der Gucci-Fraktion. Dort ballt noch so manch ein Compagno die Faust zum Kampf, und zum »Buon Anno 2014« flattern Neujahrsgrüße vom Commandante persönlich in die Briefkästen der Insulaner: »Hasta la victoria siempre!«
Piero Fortunato, ein alter Kämpfer, verteilt eigenhändig seine Wurfsendungen. Von Haus zu Haus klingelt er an den Wohnungstüre und ruft seine Botschaften durch die Gegensprechanlagen: »Verfassungswidrig ist, was bei uns abläuft! Ein Verrat unserer Verfassung, die dem Geist der Partisanen entstammt« – Fortunatos Häuserkampf zum Jahresauftakt auf der roten Insel, der Isola rossa mit gut 6000 Bewohnern, hauptsächlich Arbeiter, Gondolieri, Taxifahrer.
Der 68jährige ist eine rote Socke alter Schule – Vollblutkommunist von Haus aus. Er war in den 1970er Jahren Personenschützer von Enrico Berlinguer, dem Generalsekretär der Partito Comunista Italiano, war im bewaffneten Kampf, als er unter anderem die Kurden unterstützte, und er bewahrt bis heute seine Waffe. »Mein Großvater Guglielm Fortunato war der erste Sekretär der kommunistischen Partei in Mailand. Mein Vater war Partisan und während des Krieges als Arbeiter im Artilleriedepot in Venedig stationiert. Mit der Hilfe eines österreichischen Wehrmachtssoldaten bekamen die Partisanen Gewehre. Ich trat mit 18 der Partei bei. 1973 wurde ich compagno benemerito – ausgesucht für gute Leistung. Ich sollte die Partei vor Extremisten der Rechten schützen. So beschützte ich Berlinguer, Natta, Nilde Iotti und Paietta vor Attentaten und betrieb zur selben Zeit eine Pizzeria.«
Seit Wochen leuchten Piero Fortunatos Augen, wenn er von seiner bevorstehenden Reise nach Berlin redet. Am Freitag endlich ist er mit ein paar Genossen aufgebrochen, per Easyjet zur Rosa-Luxemburg-Konferenz. In der Urania will er ein Bad in der Menge nehmen, Compagnos wiedertreffen, sich mit Genossen austauschen, fern sein vom katholischen Inselkoller, keine Kirchenglocken hören, keine Cattocomunisti (Katholenkommunisten) sehen, Berliner Luft schnuppern und Rosa Luxemburg ehren.
Dabei herrscht auch auf Piero Fortunatos Insel ein rauher Ton, rauher jedenfalls als unter den venezianischen Pastorentöchtern, den Klosterschülern, den Kunst-Biennale-Flaneuren und Adligen in Venedigs marmornen Palazzi. Denn trotz der drei Nobelherbergen und der paar Fremdkörper aus dem Jet-Set, die sich auf der pittoresken Insel eingekauft haben, ist die Giudecca noch immer linkes Hauptquartier, mit Piero Fortunato als einem ihrer Anführer.
Insel der Verbannten, Garteninsel der Aristokraten, Insel der Fischer, Arbeiter und Bauern, Industrieinsel – all das war die Giudecca. Arbeitersiedlungen dominieren heute noch, es sind die Suburbs von Venedig. Venezianer der anderen Stadtteile besuchen so gut wie nie die »Insel der Diebe«. Das Arbeitermilieu und die Mietshäuser auf der am östlichen Ende künstlich aufgeschütteten Laguneninsel Sacca Fisola erinnern an Bilder aus dem La-Strada-Film.
Mitunter stinkt der Rauch der Verbrennungsanlage für den städtischen Müll zum Himmel. Der Blick geht aufs qualmende Marghera, der Industrie auf dem Festland, die noch auf Hochtouren läuft, während in Giudeccas alte Industrieanlagen zunehmend Künstler und Architekten einziehen.
Aus der Industriebrache der einstigen Dependance der deutschen Junghans-Uhrenwerke haben Stararchitekten vor zehn Jahren eine moderne Wohnsiedlung gemacht. Das Dachgeschoß des ehemaligen Bunkers der Uhrenfabrik am Junghans-Platz – in der keine Uhren, sondern 60 Jahre lang Zeitzünder für Granaten produziert wurden – wohnt Venedigs Hafenpräsident Paolo Costa, mitverantwortlich für die berüchtigten Kreuzfahrtschiffe, die den Giudecca-Kanal passieren
Gramsci in XXL
Piero Fortunato betreibt am Campo Junghans in einem der alten Junghans-Häuser die Mensa »Food & Art« für die Studenten aus aller Welt, die in der benachbarten »Ex-Junghans-Residenza« untergebracht sind. Er ist ein aristokratischer Prolet, ein Macho mit großem Stolz – und großem Herz. Mittags sitzt er an der Kasse seines Kantinenbetriebs und winkt so manchen Genossen gratis durch. Freitags, wenn es Fisch gibt, kommen stets ein paar alte Compagnos wie der 93jährige Giuseppe, der 1943 auf dem Junghans-Gelände die Maschinengewehrsalve eines deutschen Soldaten überlebt hat und später 30 Jahre lang der Präsident der venezianischen Gondolieri wurde. Oder Sergio, der 40 Jahre Schufterei in Junghans’ Militärproduktion auf dem Buckel hat und der als wandelnde Parfümwolke den Kantinenduft von gegrillten Sardinen überdeckt.
Am Eingang von Piero Fortunatos Mensa hängt Antonio Gramsci im XXL-Format. Die Kommunisten haben zwischen Gemüse-, Fisch- und Lottoladen an Giudeccas Kaimauer ihr Quartier, dort sitzen die alten Roten hinter vergilbten Schaufenstergardinen beim Kartenspiel, rauchen, trinken Spritz, und zeigen draußen Flagge. Und wenn die Mönche des nahen Redentore-Klosters in ihren braunen Kutten mit Kapuzen und in Jesuslatschen auf dem Weg zur Vaporetto-Station vorbei laufen – dann denkt man an Don-Camillo-und-Peppone-Szenen …
Am Tag der Liberazione, dem Gedenktag der Befreiung Italiens von den Faschisten, dem 25. April, und auch am 1. Mai kann man die Kinder auf dem Schulhof am Campo Junghans »Bella Ciao« im Chor singen hören, über Megaphon schmettert der Lehrer den Text vor. Piero Fortunato hißt an solchen Tagen seine gesammelten DKP-Flaggen, und seine Gastro-Mannschaft trägt rote Halstücher zu Comandante-T-Shirts. Noch immer ist Ché Guevara in aller Munde, und die moldawische Kollegin des kolumbianischen Mensamitarbeiters Cesar summt am Kochtopf in der Großküche leise »Bella Ciao Ciao Ciao«. Gegenüber der Giudecca wohnt der Chilene Gaston Salvatore, Bonvivant der venezianischen Intelligenzia, einst Weggefährte Rudi Dutschkes, und beklagt die Stadtpolitik, derweil die amerikanische Starautorin Donna Leon sich im kommunistischen Ruderclub der Giudecca durch die Lagune kämpft – kurz: eine Stimmung wie in einem alten italienischen Film.
Als Piero Fortunato aus seinem Leben erzählt, schießen ihm die Tränen in die Augen, und befeuert von ein wenig Partisanenromantik und einem guten Schuß Pinot Grigio weint er hemmungslos. Vor allem aus Trauer über den gescheiterten politischen Kampf, über die Situation auf verlorenem Posten. Piero Fortunato hat viel durchgemacht, die Berlusconi-Zeit, ein Krebsleiden, das Alter nagt, Verbitterung prägt seinen Gesichtsausdruck. Doch bei Berlin und Rosa Luxemburg blitzt der alte Kampfgeist wieder auf: »Reich mir die Flosse, Genosse!«
Besuch im Terzo Mondo
Ein Bruder im Geiste dürfte für den Venezianer Berlins »Lindenstraßen«-Wirt Kostas Papanastasiou sein, der in seinem »Terzo Mondo« am Savignyplatz 2012 mit einem »Rachelina & die Maccheronies«-Konzert den Tag der »Liberazione« feierte. Papanastasiou selbst hat gerade in Neapel im neuen Film des Regisseurs Mario Martone mitgespielt. Nach der Rosa-Luxemburg-Konferenz will der Venezianer den griechischen Genossen auf mindestens einen Ouzo in dessen Taverna besuchen.
Zu Giudeccas berühmten Bewohnern – seit Casanova sich dort umtrieb – gehört der kommunistische Komponist Neuer Musik Luigi Nono, einst Freund Heiner Müllers. Giorgio Napolitano höchstselbst weihte 2007 als Staatspräsident Italiens das Luigi-Nono-Archiv ein. Und der »Circolo Arci Luigi Nono« ist ein Kulturverein der Partito Democratico mit Büro an der Fondamenta, der Hauptstraße. Direkt neben Giudeccas Luxushotel Cipriani, in dem während der Filmfestspiele auf dem Lido Stars wie Clooney wohnen, befindet sich die Villa Hériot mit der »Associazione culturale resistenze«, ein Archiv über die Frauen des Widerstands in der Region Veneto.
Auf Giudecca darf Piero Fortunato auch Ulrich Tukur zu seinen Gästen zählen. Der Hamburger Schauspieler pflegt seinen Husky auf den Campo Junghans Gassi zu führen. Und selbst ein internationaler Promi besitzt auf der Proletarierinsel nah am »Garten Eden« des verstorbenen Künstlers Friedensreich Hundertwasser ein Haus: Merkel-Unterstützer Sir Elton John läßt sich jedoch nur selten blicken.
21.09.2021 12:57 Uhr
Wo ist Rosa?
Countdown zur Rosa-Luxemburg-Konferenz (12 und Ende)
Dr. Seltsam
Bei den Sozis ist Rosa Luxemburg nie Thema, bei den Kommunisten auch nicht immer – bei der jungen Welt aber seit 1996, als sie die erste Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin organisierte. Und bei Dr. Seltsam, der in Berlin Touren zu ihren Wirkungsorten macht (Anmeldung: 01577/3862029). (jW) Vor dem Mord rief Hauptmann Waldemar Pabst den SPD-»Bluthund« Gustav Noske an. »Tatort«-Regisseur und Geschichtsforscher Klaus Gietinger hat das Telefonat rekonstruiert. »Ich habe Luxemburg und Liebknecht. Geben Sie entsprechende Erschießungsbefehle?« Noske: »Das ist nicht meine Sache! Dann würde die Partei zerbrechen (...). Rufen Sie doch Lüttwitz an, er soll den Befehl geben.« Pabst: »Einen solchen Befehl kriege ich von dem doch nie!« Noske: »Dann müssen Sie selber wissen, was zu tun ist.« Gietinger wurde für diese Rekonstruktion gerügt von »Heinrich August Winkler, einem Schlachtroß rechter SPD-Geschichtsschreibung«.
Rosa und Karl übernachteten am 14. Januar 1919 bei der Familie Marcussohn – er war USPD-Mitglied, sie Rosas Freundin – in der Mannheimer Straße 43. Das Haus in einem ruhigen Teil von Wilmersdorf hat heute die Nummer 27. Davor ist ein Gedenkstein in den Gehsteig eingelassen; untrügliches Zeichen dafür, daß der Hausbesitzer ihn nicht am Gebäude haben will. »Die Mannheimer Straße findet ihre konsequente historische Verlängerung in den Lagerstraßen von Dachau und Buchenwald«, schrieb Günter Kunert.
In dieser Straße also, die auf den Fehrbelliner Platz mit seinen Büroblocks im Nazistil für 15000 Beamte führt, besorgten »Sozialdemokratischer Helferdienst« und Bürgerwehr am 15. Januar die Festnahme. Gietinger: »Ein jeder der an der Aktion Beteiligten erhielt durch den Vorsitzenden des Wilmersdorfer Bürgerrats Fabian für den Fang die damals enorme Summe von 1700 Mark.«
Rosa, Karl und Wilhelm Pieck wurden im Hotel Eden bei Hauptmann Pabst abgeliefert, der in Absprache mit Noske den Mord befahl. Pieck konnte sich rausreden und später fliehen. Liebknecht wurde erschossen um 23.45 Uhr bei der Rettungsstelle am Zoo (neben dem heutigen Elefantentor) abgeliefert. Rosa wurde vom Jäger Otto Wilhelm Runge mit dem Gewehrkolben bewußtlos geschlagen, vom Leutnant Hermann Souchon erschossen und in den Landwehrkanal geworfen.
Heute gibt es im Tiergarten ein Doppeldenkmal, das 1987 in Lauchhammer/DDR gegossen wurde. Es kennzeichnet mit den bronzenen Namenszügen von Rosa und Karl die Mordstätten am Kanal und am Neuen See. An der offiziellen Grabstelle der beiden in Friedrichsfelde wurde Mies van der Rohes sechs Meter hohe Granitwand 1935 von den Nazis zerstört. Weder SED noch SPD ließen sie wieder aufbauen. Mittlerweile gibt es hier einen Gedenkstein, der an die Opfer Stalins erinnern soll, was völlig unpassend ist, weil hier nur Opfer der SPD und der Nazis liegen.
Rosas Leichnam wurde am 31. Mai 1919 an einer Schleuse im Tiergarten gefunden. Heute brummt hier die Gaststätte Schleusenkrug. Es gibt kein Denkmal, obwohl die DDR eins hätte errichten können. Mit den Wasserwegen waren die Schleusen bis 1990 unter DDR-Verwaltung. »So verlief an dieser Stelle die Grenze quasi horizontal. Im Untergeschoß sorgten die Genossen für reibungslosen Schiffsverkehr, darüber genossen die Westberliner Sonne, Bier und deftige Küche.« (Speisekarte Schleusenkrug)
21.09.2021 12:33 Uhr
EU-Visionen aus der Wilhelmstraße
Zwei Mitglieder der Band Grup Yorum leiteten im Foyer und auf der Bühne die XIX. Internationale Rosa-Luxemburg Konferenz ein, die heute pünktlich um 11 Uhr in der Berliner Urania begann. Als erster Referent sprach vor dem bereits gut gefüllten Großen Saal der Soziologe und Journalist Jörg Kronauer.
Der Redner schlug einen Bogen von der deutschen Vorkriegspolitik vor dem ersten Weltkrieg zur ökonomischen Vorherrschaft Deutschlands im heutigen Europa. Im Kern habe die deutsche Reichsregierung in ihren Strategien bereits 1914 etwas verfolgt, das wie eine Vorahnung auf die Europäische Union wirke, so Kronauer. Er rief in diesem Zusammenhang die Kriegszieldenkschriften des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg in Erinnerung. Diesem schwebte ein mitteleuropäischer Wirtschaftsverbund bei äußerlicher Gleichberechtigung, tatsächlich aber unter deutscher Führung, vor.
Mit Blick auf die aktuellen Spardiktate für südeuropäische Länder habe sich so etwas de facto mittlerweile verwirklicht. Mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen, wie auch an der gewachsenen Zahl der Selbstmorde verzweifelter Menschen in diesen Staaten ablesbar. Gleichzeitig machte Kronauer auf Interessengegensätze zwischen den europäischen Mächten aufmerksam. So habe es nichts mit auf Frieden gerichteter Politik zu tun, wenn die Bundesregierung etwa NATO-Kriegseinsätze in afrikanischen Ländern ablehne, für die sich Frankreich besonders engagiere. Kronauer sieht darin eher altbekannte Rivalitäten, zumal Deutschland ja sehr wohl an anderen Kriegseinsätzen beteiligt sei.
Mit großem Applaus belohnte das Publikum den Beitrag von Anders Kaergaard, der bewegend über seinen »Pfad zur Wahrheit« berichtete. Als das Land 2004 in den von den USA geführten Krieg gegen Irak eintrat, gehörte Kaergaard als Hauptmann dem Militärischen Nachrichtendienst der Königlich Dänischen Armee an. Mit seinen Enthüllungen über Menschenrechtsverletzungen bei einer Militäroperation im Irak löste er in seiner Heimat einen Skandal aus. Er werde niemals mehr Befehle entgegennehmen, nur noch seinem eigenen Gewissen folgen, betonte Kaergard. Er habe einen hohen persönlichen Preis für sein Handeln zahlen müssen, doch eine neue Familie gefunden: »Euch alle«.
21.09.2021 12:34 Uhr
Grußbotschaft von Arnaldo Otegi
Grußwort von Arnaldo Otegi, Generalsekretär der linken baskischen Partei Sortu, an die XIX. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin
Liebe Compañeras und Compañeros,
Aus irgend einem Grunde hat es das Schicksal so gewollt, dass ich immer wenn ich zu Eurer Konferenz etwas beitragen wollte, durch bestimmte Sachzwänge der spanischen Monarchie daran gehindert wurde.
Vor einigen Jahren war es ein Sondergericht, die Audiencia Nacional (Erbin des TOP aus der Francodiktatur) die mir die Reise zu Euch verbot, heute kann ich aus dem einfachen Grunde nicht, weil ich inzwischen seit 4 Jahren für den schweren Tatbestand, eine politische Lösung im Konflikt der Basken mit dem spanischen Staat vertreten zu haben, im Gefängnis sitze.
Auf dieser intellektuell als auch physisch „begeisternden" Reise begleiten mich einige junge baskische Revolutionäre wie Sonja, Miren und Arkaitz, aber auch alte Hasen des gewerkschaftlichen Kampfes der Klassengewerkschaft wie Rafa Diez. Alle sitzen ihre Strafen in irgendwelchen Knästen des spanischen Königreiches ab. Soviel zu uns, erwähnen möchte ich eher die tatsächlichen Protagonisten der Gesellschaftlichen Veränderung, die Menschen die sie vorantreiben müssen. Liebe Genossinnen und Genossen, wir erleben heute und jetzt eine authentische Krise der Zivilisation, sowohl ökonomisch, ökologisch, energetisch und politisch.
Wir erleben ein Szenario der wachsenden Unsicherheit, wachsender Armut und Migration. Parteien die alte Geister wie die des Autoritarismus und Rassismus beschwören sitzen schon wieder in einigen westlichen Parlamenten. Mit absoluter Dringlichkeit müssen wir uns die Frage, was tun? immer wieder neu stellen, wollen wir denn die richtigen Antworten finden. Wir müssen überprüfen wie wir und unsere Organisationen aufgestellt sind, vor allem diejenigen die sich als Avantgarde verstehen. Auch heute so sage ich aus meiner bescheidenen Betrachtung der Dinge, liegt die Aufgabe der Avantgarde darin, den Ereignissen zuvorzukommen, die für jede Situation richtigen Fragen zu formulieren und die richtigen Antworten in jeder historischen Situation zu finden. Die Fragen müssen aber in die Gesellschaft getragen werden um sie mit ihr gemeinsam zu beantworten damit sich aus den Männern und Frauen die sich aktiv daran beteiligen eine neue schlagkräftige Linke formiert, die in der Lage ist diese Gesellschaft umzugestalten. Es geht um eine neue Kultur der politischen Aktivität der Menschen.
Meines Erachtens dürfen dabei einige wichtige Dinge nicht vergessen werden. Die parlamentarische Arbeit so notwendig sie auch ist, darf nicht als die einzige Form des Eingreifens der Menschen in politische Prozesse gesehen werden, sie ist völlig unzureichend um tatsächliche demokratische Verhältnisse auf hohem Niveau zu erreichen.
Es muss uns klar sein, dass die Mitarbeit in Institutionen (bei der die Linke auch mit dem Anspruch der Hegemonie heran gehen sollte) des Komplementärs einer Massenbewegung auf der Straße bedarf. Dieses sollte um ein demokratisches antioligarchisches Programm herum organisiert sein und somit den Charakter einer direkten Volkskontrolle annehmen. Als letzte Überlegung zum Kampf der Völker um das Recht sich selbst zu bestimmen, sollten wir den alten Gedanken des Internationalismus wieder stärker in den Vordergrund stellen. Wir müssen die Internationale der Arbeiter und der Völker wieder rekonstruieren. Denn müssen wieder von einem Projekt träumen und die Köpfe und Herzen der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Männer und Frauen, Intellektueller und Aller die in Freiheit und Gleichheit leben wollen mit neuer Hoffnung füllen können. Wir müssen als Sozialisten leben, denken und handeln!
Ich grüße die 19. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin und alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer und wünsche Euch viel Erfolg!
Aus dem Gefängnis von Logroño, 8.1.2014
Arnaldo Otegi
21.09.2021 12:34 Uhr
Solidarisch sein, Fluchtgründe bekämpfen!
Moderatorin Esther Zimmering begrüßte auf der Bühne die Berliner Grünenpolitikerin Canan Bayram, die das Protestcamp der Flüchtlinge auf dem Berliner Oranienplatz und vergleichbare Aktionen von Asylsuchenden bundesweit unterstützt. Durch die deutsche Asylpolitik werde die Traumatisierung der Betroffenen fortgesetzt, sagt Bayram.
Dann holte Bayram drei Vertreter der Flüchtlingsgruppe vom Oranienplatz zu sich aufs Podium – Menschen, denen die Kraft geblieben ist, sich gegen die Zustände in den Lagern, die Residenzpflicht, das Arbeitsverbot und andere Sondergesetze aufzulehnen.
Hakim, ein türkischer Linker, will nicht nur über die Behandlung der Flüchtlinge in Deutschland sprechen, sondern auch über die Fluchtgründe: „Weltweite Kriege und das kapitalistische System." Napuli Langa lehnt die Spaltung ihres Landes konsequent ab: „Ich bin aus dem Sudan – ich möchte nicht Nord- oder Südsudan sagen, ich bin Sudanesin", sagt die Aktivistin aus dem Flüchtlingscamp. Die Spaltung sei nur im Sinne des Kolonialismus.
Canan Bayram wirbt dafür, daß die Flüchtlinge endlich ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Gerade angesichts der Traumatisierungen, unter denen viele von ihnen leiden. Doch der politische Wille der CDU fehle dazu ebenso wie der politische Mut der SPD, so Bayram. Die Linke-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke rief dazu auf, die Flüchtlinge weiter zu unterstützen, Solidarität in jederlei Rücksicht zu zeigen.
Dem Zeltlager von Flüchtlingen am Oranienplatz im Ortsteil Kreuzberg und einer besetzt gehaltenen Schule droht der Berliner Senat, allen voran CDU-Innensenator Henkel, mit Räumung. Ein Zelt der Flüchtlinge mit Fotos, die über ihren Kampf berichten, steht heute auch im Innenhof der Urania. Besucherinnen und Besucher der Rosa-Luxemburg-Konferenz können sich dort informieren und ins Gespräch kommen. Auch eine Theaterperformance der Refugees vom Oranienplatz vor der Urania stand heute noch auf dem Programm.
21.09.2021 12:35 Uhr
Mandelas Vermächtnis präsent
Ein Kampfgefährte Nelson Mandelas am Rednerpult der Rosa-Luxemburg-Konferenz: Denis Goldberg erinnerte an das Credo Mandelas, dass Südafrika allen gehören solle, die dort leben. In seinem Vortrag schlug Goldberg einen Bogen von der »Berliner Konferenz«, auf der 1884/85 Afrika unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt wurde, über die Revolution in Kuba 1959, die auch für den Kampf im südlichen Afrika von großer Bedeutung war, bis hin zu blutigen Arbeitskämpfen von Bergarbeitern in seinem Land heute. Denis Goldberg wurde1933 als Sohn litauischer Juden in Kapstadt geboren. 1961 schloß er sich dem bewaffneten Arm des ANC im Kampf gegen die Apartheid an und wurde gemeinsam mit Nelson Mandela zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach seiner Freilassung 1985 vertrat er den ANC in London und vor der UNO.
21.09.2021 12:35 Uhr
Perspektivwechsel: Ein Blick von der Bühne
André Scheer
Es gibt unangenehmere Aufgaben, die von den vielen Helferinnen und Helfern der Rosa-Luxemburg-Konferenz erledigt werden müssen, als wie ich heute vormittag zwei Stunden lang auf der Bühne zu sitzen. Doch es ist zugleich mehr, als nur die Referenten anzusagen, auch wenn dies bei Sprechern wie Denis Goldberg, Anders Kaergaard oder Jörg Kronauer natürlich eine besondere Ehre ist.
Es ist auch der undankbare Job, einem Redner mit einem spannenden Beitrag einen Zettel hinschieben zu müssen, er möchte zum Ende kommen. Oder interessierten Besuchern nicht mehr das Wort für eine Nachfrage erteilen zu können – denn jeder einzelne unserer Referenten könnte mit seinem jeweiligen Thema einen kompletten Abend bestreiten.
Es ist die Vielfalt sowohl der Redner als auch der Gäste und der Helfer, die das Besondere der Rosa-Luxemburg-Konferenz ausmacht. Und zugleich ist es die Gemeinsamkeit einer Analyse, die Kriege nicht für Naturkatastrophen hält, sondern fragt, in wessen Interesse sie geführt werden. Es ist kein Zufall, daß das Wort Imperialismus sowohl in der Tageszeitung junge Welt als auch während dieser Konferenz öfter fällt, als es in den Mainstream-Medien der Fall wäre.
Schon jetzt ist absehbar: Diese könnte die größte der bislang 19. Rosa-Luxemburg-Konferenzen werden. Schon am Morgen ist der Saal voll, an den Eingängen stauen sich die Menschen. Wir müssen einen zusätzlichen Saal öffnen, in den alle Beiträge in Ton und Bild direkt übertragen werden – und auch dieser ist in kürzester Zeit voll. Und es wird den Reden konzentriert gelauscht, donnernder Applaus und erregte Zwischenrufe sind der Beleg dafür. Und zugleich machen die Teilnehmer dem Moderatorenteam auf der Bühne die Arbeit einfach – absichtliche Störungen sind zum Glück Fehlanzeige.
Und wie es Denis Goldberg, der Veteran aus dem Freiheitskampf Südafrikas, zu Beginn seines Beitrags sagte: »Liebe Genossen und liebe Freunde, die ich hoffentlich auch bald Genossen nennen kann...« – Dieser Wunsch dürfte bei so manchem in Erfüllung gehen.
21.09.2021 12:35 Uhr
Zu früh gefreut?
Mit großem Applaus haben die Teilnehmer der Rosa-Luxemburg-Konferenz begrüßt, daß Die Partei Die Linke im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages von der Abgeordneten Sevim Dagdelen als Obfrau vertreten wird. Zumindest, wenn es nach den zuständigen Fachpolitikern der Fraktion geht.
Der Abgeordnete Stefan Liebich, der Mitglied der Atlantikbrücke ist und Die Linke für Auslandseinsätze der Bundeswehr öffnen möchte, hat bei einer Abstimmung der Fachpolitiker im Bereich Internationales in der Fraktion nur eine Stimme Unterstützung bekommen, Dagdelen elf. Mit der Niederlage gibt sich der Sprecher der parteirechten Strömung »Forum Demokratischer Sozialismus« nicht zufrieden. Er will sich in der Gesamtfraktion erneut zur Wahl stellen. Unklar ist, ob die Fraktion in der politischen wichtigen Causa ihren Fachpolitikern folgt.
21.09.2021 12:36 Uhr
Talkin' Bout a Revolution
Den besten Revolutionsliedern will Melodie&Rhythmus ein Denkmal setzen: Über die Top Ten der wichtigsten Songs zum Klassenkampf und zu internationalen Befreiungsbewegungen können die Teilnehmer der Rosa Luxemburg Konferenz direkt abstimmen. Die Redaktion hat 50 Lieder vorausgewählt: Ein wilder Mix von Musikstilen - von Bob Dylan bis Rage Against the Machine. Am junge Welt-Stand gibt es die Stimmzettel inklusive Vorschlagsliste, die Wahlurne steht daneben. Alternativ können die Stimmzettel auch bis zum 18. März per Post an die Redaktion von Melodie&Rhythmus (Torstr. 6, 10119 Berlin) geschickt werden. Zur Auswahl stehen 50 ältere und neuere Lieder, die meisten davon gut bekannt. Daraus sollen zehn Songs ausgewählt werden.
Nicht auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz? Auch im Internet kann abgestimmt werden. Hier gibt es auch kurze Hörbeispiele von jedem der zur Auswahl stehenden Songs.
Unter allen Teilnehmer werden 100 Exemplare der druckfrischen »Class War«-Ausgabe der Melodie&Rhythmus verlost. Darüber hinaus gibt es zehn Jahresabonnements, dreimal Bernd Köhlers » Keine Wahl - ein Lieder- und Geschichtenbuch und eine CD« und fünfmal das Tribut-Doppelalbum » Franz Josef Degenhardt – Freunde feiern sein Werk« zu gewinnen!
21.09.2021 12:36 Uhr
Wir drucken, wie sie lügen
Erstes Podiumgespräch auf der Hauptbühne: junge Welt-Autorin Karin Leukefeld, Redakteurin Freja Wedenborg von der dänischen Tageszeitung Arbejderen, der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Anders Kaergaard, ebenfalls aus Dänemark, sowie Rainer Rupp, der einst als Kundschafter für die DDR im NATO-Hauptquartier arbeitete, diskutieren über die »Vierte Gewalt« und ihren Umgang mit Kriegen.
Medien machen Kriege erst möglich, ob »internationaler Terrorismus« oder »Schurkenstaat«, ob »Kreuzzug« oder »nationale Sicherheit« - es regiert die Fälschung. Und die ist nicht immer offensichtlich. Der heutige Berichterstatter der Mainstream-Medien ist in die Kampfhandlungen »eingebettet«. Bilder und Texte werden zensiert, vom Militär wie auch vielen Medienhäusern. Lange bevor der Reporter seine Arbeit beginnt, wird die Bevölkerung auf den Krieg eingestimmt.
Was können Medien erreichen? »Wir gehen nicht nur von Skandal zu Skandal, sondern publizieren die ganze Geschichte«, sagte Freja Wedenborg über die Veröffentlichung des Schicksals von Anders Keargaard in der dänischen Zeitung Arbejderen.
Die Berichterstattung über den Einsatz im Irak unter dänischer Beteiligung offenbarte so die gesamte Lüge des Krieges. Die Geschichte wurde schließlich in allen Medien Dänemarks übernommen, die dänische Armee reagierte mit Leugnung des Vorgangs.
Daß es endlich einmal einen Whistleblower in der Bundeswehr gibt, darauf hofft Rüdiger Göbel, Mitglied der jW-Chefredaktion. Er solle sich allerdings nicht an Bild oder Spiegel wenden, wo die Kriegspropaganda weitergeführt würde, sondern an jW.
21.09.2021 12:36 Uhr
Von Krieg zu Krieg
Auf dem Podium: Der Jurist Zivadin Jovanovic, von 1998 bis 2000 jugoslawischer Außenminister. Heute ist er Präsident des »Belgrad Forums für eine Welt der Gleichen«.
Drei Kriege wurden im 20. Jahrhundert gegen Serbien geführt: Der Erste und Zweite Weltkrieg und die NATO-Aggression. »Alle waren sie imperialistische Kriege, die unter verlogenen Vorwänden gestartet wurden. Sie bewirkten enorme menschliche, wirtschaftliche und politische Konsequenzen, die auch im 21. Jahrhundert noch nicht bewältigt sind«, so Jovanovic.
Die NATO-Aggression gegen Jugoslawien war der »Türöffner-Krieg« für die nächsten Kriege – gegen Afghanistan, den Irak, Libyen und Syrien. Doch die einstige Einheit der führenden NATO-Staaten ist längst Makulatur geworden. Jovanovic: »Wenn die Aggression 1999 der Wendepunkt Richtung Globalisierung des NATO-Interventionismus war, dann markieren die Ereignisse im Iran, in Syrien und der Ukraine 2013 den Wendepunkt vom Monopol zur Multipolarität.«
Das »Belgrad Forum«, dem Jovanovic heute vorsteht, spielt als unabhängige Organisation von Intellektuellen eine wichtige Rolle, das öffentliche Bewußtsein für die Aggressionskriege gegen Serbien im 20. Jahrhundert wachzuhalten. Rund 75 Prozent der Bevölkerung Serbiens seien heute entschieden gegen eine NATO-Mitgliedschaft, nur 13 Prozent befürworteten sie, sagte Jovanovic: »Als Relikt des Kalten Krieges gehört die NATO aufgelöst.«