»Kunst halte ich für ein Grundnahrungsmittel«
Interview: Erik ZielkeSie sind Regisseur des von Ihnen gegründeten Simon-Dach-Projekttheaters in Berlin, mit dem Sie seit fast 20 Jahren kontinuierlich politische Theaterarbeiten herausbringen. In diesem Herbst wollten Sie Bertolt Brechts »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe«, eine parabelhafte Auseinandersetzung mit der Spaltung der Gesellschaft, auf die Bühne bringen. Warum gerade dieses Stück?
Die Idee ist schon älter. Sie kam mir bei den Wahldurchmärschen der AfD. In dem Stück geht es darum, wie ein politischer Abenteurer die Gesellschaft teilt in Akzeptierte und Ausgegrenzte. Das gehört heutzutage auf die Bühne.
Die Umstände haben Ihnen nun allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Wir wollten im Juni mit den Proben anfangen und im Herbst Premiere haben. Das konnten wir nicht angesichts von Corona. Aus diesem Grund ist das Projekt verschoben auf den kommenden Herbst.
An der Aktualität wird sich ja nichts ändern …
Die gesellschaftlichen Probleme werden uns leider erhalten bleiben. Wir im Osten leben seit 30 Jahren wieder im Kapitalismus, den Brecht bekämpfte und den er in seinen Stücken analysierte. Brecht ist aktuell wie nie.
Sie kommen in Ihrer Arbeit auch immer wieder auf Brecht zurück.
Ja, auch als Schauspieldozent an der Akademie Reduta. Ich halte ihn einfach für sehr wichtig. Unsere Theatergruppe hat aber auch andere Dramatiker gespielt – Hacks, Arbusow, Lorca, Volker Braun. Oder Karel Capek in Zusammenarbeit mit tschechischen Künstlern.
Und dennoch scheint es auch bei den anderen großen Namen und der Auswahl der konkreten Stücke einen Widerspruch zu Trends und zum Zeitgeist zu geben.
Nur aus Jux und Tollerei Theater zu machen – dafür ist mir die Zeit zu schade. Mehr als ein Stück pro Jahr schaffen wir als freie Gruppe nicht. Und dann soll dieses Stück eines von künstlerischem und gesellschaftlichem Gewicht sein.
Auch mit »Die Tage der Commune«, einem weiteren Brecht-Stück, haben Sie zu einem selten gespielten Stoff gegriffen.
Diese Inszenierung hatte Premiere anlässlich des hundertsten Jubiläums des Roten Oktobers. Es war die Berliner Erstaufführung der Originalfassung. Eine legendäre Aufführungsserie des Stücks gab es zwar 1962–71 am Berliner Ensemble, aber das war eine Bearbeitung des Regisseurs Manfred Wekwerth. Zu meiner Entscheidung für das Original gehörte auch, die Schauspielmusik von Hanns Eisler in vollem Umfang zu verwenden, nicht nur einige Lieder wie damals am BE. Es gibt dazu von mir einen Arbeitsbericht, nachzulesen auf unserer Homepage sidat-pro.de.
Szenen Ihrer Inszenierung sollten bei der XXVI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz im kommenden Januar gezeigt werden, die unter anderem im Zeichen der Pariser Kommune und ihres 150. Jahrestages steht. Nun muss dafür ein digitales Format gefunden werden. Was bedeutet das für Sie?
Zunächst einmal bedeutet das sehr viel Arbeit. Es ist eine ungeheuer kniffelige Geschichte. Ursprünglich wollten wir mit zwei Szenen live auftreten. Jetzt erstelle ich einen Videostream, eine Zwanzigminutenfassung der zweieinhalbstündigen Inszenierung. Wir fühlen uns sehr geehrt, dass wir anlässlich des Commune-Jubiläums unsere Arbeit den internationalen Teilnehmern der Konferenz präsentieren dürfen.
Ist eine solche digitale Transformation nur Behelfslösung, oder bietet sie auch einen ästhetischen Reiz?
Natürlich soll sie das bieten. Es ist eine große Herausforderung. Das Endergebnis soll einerseits Vergnügen bereiten beim Angucken, andererseits die wesentlichen Akzente des Stücks bedienen und ein aussagekräftiger Beitrag zum Jubiläum sein.
Sind solche digitalen Formen denn auch eine dauerhafte Lösung für Sie?
Wenn Corona uns die Wiederaufnahme von »Tage der Commune« vereitelt – zwischen März und Mai 2021 im Theater unterm Dach in Berlin –, muss man über solche Lösungen nachdenken. Ich halte sie aber für Notlösungen. Theater ist lebendige Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum.
Wie erleben Sie als Künstler, aber auch als Zuschauer, die momentane Situation der geschlossenen Theater?
Es ist grauenvoll. Es war durchaus vernünftig, dass Anfang des Jahres erst einmal alle Theater zugemacht wurden, als man nicht wusste, was passiert. Fakt ist aber, dass Konzerthäuser und Theater über den Sommer hervorragende Hygienekonzepte entwickelt haben: Die Begegnung der Zuschauer vor und nach den Vorstellungen ist abgeschafft, es gibt keine Gastronomie, die Säle werden nicht voll besetzt, auch auf der Bühne gelten die Abstandsregeln. Es ist kein einziger Infektionsfall aus einem Theater oder Konzerthaus bekanntgeworden. Angesichts dieser Tatsache finde ich es indiskutabel, auch im zweiten Lockdown diese Häuser wie die Spaßbäder zu behandeln. Kunst halte ich für ein Grundnahrungsmittel. Das darf man den Leuten nicht unbefristet entziehen.
Peter Wittig ist Regisseur seiner freien Theatergruppe – des Simon-Dach-Theaterprojekts (Sidat!) – sowie Schauspieldozent in Berlin
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