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468 Monate Ungerechtigkeit

Mumia Abu-Jamal sitzt seit mehr als 39 Jahren in einem US-Knast. Seine Verurteilung ist Teil einer langen Geschichte von Rassismus und Polizeigewalt
Von Linn Washington
Demonstration für die Freilassung von Mumia Abu-Jamal im Jahr 2000 in Los Angeles

Der Mord an dem Polizeibeamten Daniel Faulkner in Philadelphia ist eine Tat, über die ich berichtet und die ich untersucht und verfolgt habe, seit sie in den frühen Morgenstunden des 9. Dezember 1981 geschah. 37 Jahre nach der Erschießung Faulkners, im Dezember 2018, stieß die Staatsanwaltschaft in Philadelphia in einem vergessenen Winkel ihres Gebäudekomplexes auf sechs große Pappkisten, die äußerst erstaunliches Beweismaterial enthielten. Es hatte etwas mit dem Mann zu tun, der seinerzeit für den Mord verurteilt worden war. In mir löste die Entdeckung dieser Kisten nicht nur ein Gefühl der Bestätigung, sondern auch eine gewisse Verblüffung aus. Sie enthielten Dokumente, die die Verurteilung Mumia Abu-Jamals, eines preisgekrönten Journalisten, der wegen der Ermordung Faulkners mittlerweile fast 40 Jahre hinter Gittern verbracht hat, ernstlich in Frage stellen.

Nach dem Gesetz hätten die Ankläger den Inhalt dieser Kisten dem Anwalt Abu-Jamals vor dem Verfahren, in dem dieser 1982 zum Tode verurteilt wurde, zur Verfügung stellen müssen. Abu-Jamal verbrachte fast 30 Jahre seines Lebens in der Todeszelle, bevor sein Urteil in lebenslängliche Haft umgewandelt wurde.

Illegale Machenschaften

Angesichts der Tatsache, dass meine tiefgehende Beschäftigung mit Abu-Jamals Fall mich mit einem veritablen Sumpf illegaler Machenschaften gegen ihn seitens der Ankläger, Richter und der Polizei konfrontiert hat, lieferte das Verschwindenlassen der Kisten mit entlastendem Beweismaterial durch ehemalige Ankläger nur eine weitere Bestätigung für die Rechtsverstöße, die Abu-Jamal erdulden musste. Meine Verblüffung wurde durch den Inhalt einer der Kisten ausgelöst. Er handelte von mir. Die Dokumente in dieser Kiste zeigten, dass Behörden, die an der Niederschlagung der Berufungen Abu-Jamals beteiligt gewesen waren, 2001 eine Überprüfung meines Strafregisters vorgenommen hatten. Sie hatten also versucht, Schmutz ausfindig zu machen. Sie hofften, so meine Berichterstattung über ihr Fehlverhalten diskreditieren zu können.

Mit genau solchem Fehlverhalten setzten die Behörden die Verurteilung Abu-Jamals und die spätere Aufrechterhaltung des Urteils durch. Ich bezeichne meine Reaktion auf diese böswillige Überprüfung meines Strafregisters als »Verblüffung«, weil ein derart niederträchtiges Vorgehen angesichts der langen Liste beständigen Fehlverhaltens von seiten der Behörden, die immer nur im Sinn hatten, Abu-Jamal als Bösewicht hinzustellen, nicht wirklich überraschend war.

Eines der Dokumente in den wiederentdeckten Kartons ist der Brief eines der Hauptbelastungszeugen während Abu-Ja­mals Verfahren 1982. Dieser Brief wurde kurz nach dem Verfahren an den zuständigen Staatsanwalt geschrieben und enthielt nur eine einzige Frage: »Wo bleibt denn jetzt mein Geld?« Eine logische Frage, die sich aus diesem Nachhaken ergibt, ist natürlich: War diesem Zeugen von den Anklägern Geld dafür geboten worden, dass er gegen Abu-Jamal aussagte?

Wofür war das Geld?

Da die Staatsanwaltschaft selbst für die An- und Abreise ihrer wichtigsten Zeugen zum Gericht sorgt, ist es unwahrscheinlich, dass die Erkundigung nach »meinem Geld« nur eine Erinnerung an die Rückerstattung von Reisekosten war. Und da die Anklage ihren Hauptzeugen im Verlauf des Verfahrens auch Kost und Logis zur Verfügung stellt, ist es gleichermaßen unwahrscheinlich, dass in dem Brief von Geld für ein Mittagessen die Rede ist.

Der betreffende Zeuge, ein Taxifahrer namens Robert Chobert, fuhr sein Taxi am 9. Dezember 1981 ohne gültigen Führerschein, weil er diesen wegen Alkohols am Steuer verloren hatte. Zu der Zeit, als Chobert behauptete, er habe gesehen, wie Abu-Jamal Faulkner erschoss, war er wegen eines Brandbombenattentats auf eine Schule zu einer langjährigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Angesichts der Tatsache, dass Chobert während seiner Bewährung unerlaubt Taxi fuhr, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er sein Auto, wie er im Prozess behauptete, ausgerechnet hinter einem Polizeifahrzeug geparkt hatte, dessen Fahrer mit einer Verkehrskontrolle beschäftigt war. Chobert sagte aus, er habe gesehen, wie Faulkner erschossen wurde, während er mit seinem Taxi hinter dessen Dienstauto stand. Aber kein einziges der Tatortfotos der Polizei zeigt das Taxi hinter dem Streifenwagen.

Aus dem Fehlen des Taxis auf den Tatortfotos ergeben sich mindestens zwei Fragen. Erstens: Hat die Polizei Philadelphias Beweismaterial manipuliert, indem sie das Taxi vom Tatort entfernte, bevor sie ihre Fotos aufnahm? Oder zweitens: Hatte Chobert sein Taxi gar nicht hinter Faulkners Wagen geparkt? Das würde bedeuten, dass er im Prozess von 1982 schlicht gelogen hatte.

In einer der wiederentdeckten Kisten mit Beweismaterial befindet sich auch der Bericht eines Polizisten, in dem dieser sagt, er sei mit dem »Taxifahrer« zur Mordabteilung gefahren, wo Kriminalbeamte diesen befragt hätten. Chobert ist der einzige Taxifahrer, der im Prozess Abu-Jamals eine Rolle spielte.

Uninformierte Jury

Die Jury, die Abu-Jamal 1982 verurteilte, erfuhr nie, dass Chobert gar keine Fahrerlaubnis hatte und sich nur auf Bewährung in Freiheit befand oder dass er mit fünf bis sieben Jahren Gefängnis hätte rechnen müssen, wenn die Behörden seine Bewährung wegen gesetzwidrigen Verhaltens widerrufen hätten. Nicht ins Gefängnis zu müssen ist ein starker Anreiz zu einer Falschaussage – egal, ob man dafür Geld bekommt oder nicht.

Der Richter in Abu-Jamals Verfahren von 1982 hatte ganz spezifisch angeordnet, die Jury dürfe nichts von Choberts Vergehen und Straftaten hören. Laut Aussage einer anwesenden Zeugin (die diese rassistische, jedem fairen Verfahren widersprechende Äußerung aus nächster Nähe hörte) sagte genau dieser Richter zu Beginn des Verfahrens von 1982, er werde der Staatsanwaltschaft helfen, »den Nigger zu grillen«.

Dieses eklatante Fehlverhalten des Richters im Hinblick auf Choberts offensichtlich fragwürdige Prozessaussage und das ebenso empörende Fehlverhalten des rassistischen Richters wurden von Staats- und Bundesgerichten in den USA für zulässig befunden. Gerichtsbeschlüsse wie diese beweisen, dass die Parteilichkeit gegen Abu-Jamal sich von der Polizei bis in die höchsten Gerichtsebenen einschließlich des Obersten Gerichts Pennsylvanias – und der Vereinigten Staaten – zieht.

Es ist genau so, wie der im Februar 2000 veröffentlichte Bericht von Amnesty International zu Abu-Jamal vermerkte: »Die Gerichtsprotokolle in diesem Fall zeigen ein Muster von Ereignissen, die Abu-Jamals Recht auf einen fairen Prozess gefährdet haben – von Verstößen gegen Vorschriften bei der polizeilichen Untersuchung und der Präsentation des Falls durch die Staatsanwaltschaft (…) bis hin zum Anschein richterlicher Voreingenommenheit«.

Zu Beginn dieses Jahres hat das Oberste Gericht Pennsylvanias ein weiteres Hindernis für die jüngsten Berufungsanträge Mumias errichtet, indem es den traditionellen Feinden Abu-Jamals, der »Bruderschaft der Polizei« Philadelphias namens FOP und der wiederverheirateten Witwe des Polizeibeamten Faulkner, einen Aufschub der entsprechenden Verhandlungen gewährte. FOP und Maureen Faulkner verlangen den Rückzug der heutigen Staatsanwaltschaft Philadelphias aus dem gegenwärtigen Berufungsverfahren und führen dazu die fadenscheinige Behauptung ins Feld, die heutigen Ankläger in Philadelphia kämpften nicht entschlossen genug gegen Abu-Jamals Forderung nach Gerechtigkeit. Dabei bekämpft die heutige Staatsanwaltschaft in Philadelphia Abu-Jamals Berufung sehr wohl – es ist nur so, dass sie sich dabei nicht wie ihre Vorgänger illegaler Manöver schuldig gemacht hat, um dafür zu sorgen, dass Abu-Jamal im Gefängnis bleibt. Diese Weigerung, sich illegal zu verhalten, ist offenbar ausreichend, die Gegner Abu-Jamals auf die Palme zu bringen.

Drängen auf Hinrichtung

Dabei ist das Fehlverhalten von Mitgliedern des Obersten Gerichts Pennsylvanias bei Verhandlungen im Fall Abu-Jamal ein Schlüsselelement in dessen derzeit eingefrorenem Berufungsverfahren. So hatten während eines wichtigen Urteils 1998, um Abu-Jamals Verurteilung bestehenzulassen, fünf der sieben Richter – die diese einstimmige Entscheidung fällten – für ihre Wahl ins Gericht politische und sonstige Schützenhilfe von Polizeiorganisationen erhalten, die sich damals für Abu-Jamals Hinrichtung eingesetzt hatten. Einer dieser fünf – Ronald Castille – war sogar ehemaliger Bezirksstaatsanwalt in Philadelphia, eine Funktion, in der er sich Mitte der 1980er erfolgreich für die Aufrechterhaltung von Abu-Jamals Todesurteil eingesetzt hatte.

Die richterliche Beteiligung des früheren Staatsanwalts Castille an der Ablehnung der Berufung 1998 verstieß gegen die in Pennsylvania geltenden Richtlinien für juristisch korrektes Verhalten. 2016 nahm das Oberste Gericht der USA einen anderen Fall zum Anlass, um Castille scharf wegen dessen rechtlich unzulässiger Doppelrolle als Staatsanwalt und Richter zu kritisieren, und eröffnete damit den Weg zu einer weiteren Berufung Abu-Jamals – jener, die die Polizeibruderschaft FOP und Maureen Faulkner derzeit zu verhindern versuchen.

Mitte November sagte die berühmte Aktivistin Angela Davis auf einer Pressekonferenz zum Fall Abu-Jamal: »Das Fehlurteil gegen Mumia und die Repression gegen ihn sind Teil einer breiteren Geschichte, in der es um strukturellen Rassismus und Polizeibrutalität geht.« Für viele ist der Mord an Daniel Faulkner ein Fall, der vor 39 Jahren mit der Verurteilung Abu-Jamals abgeschlossen wurde. Auf der anderen Seite betrachten Millionen Menschen auf der ganzen Welt die Verurteilung Abu-Jamals als ein klassisches Beispiel beständigen und fortgesetzten Unrechts. Mumia Abu-Jamal hat seit seiner Verhaftung am Mittwoch, den 9. Dezember 1981, auf seiner Unschuld bestanden. Heute sind das mehr als 468 Monate.

Übersetzung: Michael Schiffmann

Der Artikel erschien im Original ursprünglich zu Mumias 39. Haftjahrestag am 9. Dezember auf thiscantbehappening.com

Mumia Abu-Jamal wird auf der XXVI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 9. Januar um etwa 15.30 Uhr per Video eine Botschaft sprechen

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