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Die große Lüge

junge Welt und Melodie & Rhythmus präsentieren die Weltpremiere eines Dokumentarfilms über den Putsch gegen die Labour-Ikone Jeremy Corbyn
Von Susann Witt-Stahl
Erzfeind und »Parteifreund« Jeremy Corbyns: Keir Starmer (r.; Szenenfoto aus »The Big Lie«)

Bei seinen Wahlkampfauftritten wurde er stürmisch als großer Hoffnungsträger gefeiert. »Oh, Jeremy Corbyn« sangen seine Anhänger nach der Melodie des The-White-Stripes-Pophits »Seven Nation Army«. Nach Jahrzehnten politischer Finsternis des Thatcherismus und des Blairismus hatte sich die britische Arbeiterklasse unter seiner Führung kraftvoll zurückgemeldet. Er sei stolz, dass es gelungen sei, so viele Menschen zu mobilisieren, die sich vorher noch nie für Politik interessiert hatten. »Sie glauben uns, dass wir ihnen wirklich etwas anzubieten haben«, sagte der damalige Labour-Chef in einer Rede vor zigtausend vorwiegend jungen Besuchern auf dem Glastonbury-Festival 2017.

»Er war eine Kriegserklärung an die herrschende Klasse«, heißt es in dem Dokumentarfilm »The Big Lie«, der eine unglaubliche Geschichte nachzeichnet, die 2015 mit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden ihren Lauf nahm. Eine halbe Million Briten trat damals in die Partei ein. »Es war eine Massenbewegung entstanden, mit der niemand gerechnet hatte«, so der Filme­macher Christopher Reeves. »Gleichzeitig war es der Beginn der größten politischen Hexenjagd des 21. Jahrhunderts.«

In der 80minütigen Dokumentation wird ein Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse geboten, die ihr vorausgingen: Die Eliten und ihre Tories hatten auf die Losung der Corbynisten, »For the Many, Not the Few!«, und auf ihre Forderungen – Steuererhöhungen für die Reichen, mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem, Schulen und Bildung, ein Mindestlohn von zehn Pfund – äußerst allergisch reagiert. Als Corbyn, langjähriger Aktivist der Gewerkschafts- und Friedensbewegung, auch noch seine radikale Ablehnung von Nuklearwaffen äußerte, schickte das Establishment seine Medienarmada in die Spur: »Der Kollaborateur«, titelte Daily Mail und »entlarvte« Corbyn als ehemaligen Informanten sowjetischer Geheimdienste; das Revolverblatt The Sun behauptete, er sei im Bunde mit Dschihadisten – der Labour-Führer wurde in der britischen Öffentlichkeit systematisch als Bedrohung für die nationale Sicherheit dargestellt und dämonisiert.

Als Corbyn bei der Unterhauswahl 2017 trotz der Diffamierungen ein hervorragendes Ergebnis einfuhr und nur knapp den Einzug in die Downing Street verpasste, holte man zum Vernichtungsschlag aus: Ein riesiges Netzwerk aus Neocons und anderen Labour-Rechten, die ihren eigenen Parteichef von Anfang an bis aufs Messer bekämpft hatten, brachte – mit tatkräftiger Hilfe von konservativen und extremen Rechten, darunter auch Trumpisten, und radikalen Zionisten – das schwerste aller Propagandageschütze in Stellung: Corbyn, der sich immer für die unterdrückten Palästinenser eingesetzt hatte, wurde mit einer bisher beispiellosen Schmutzkampagne aus konstruierten bis aberwitzigen Antisemitismusvorwürfen zu Fall gebracht. Sein Wahlkampf 2019 ging in einem Jauchemeer aus perfider Hetze, Lügen und Rufmord unter und endete mit einem Debakel – Labour verlor 59 Sitze. Corbyn musste zurücktreten und wurde sogar aus der Partei ausgeschlossen.

Die Labour-Rechte habe die Drecksarbeit für die herrschende Klasse gemacht, lautet eine erschütternde Bilanz, die Andrew Murray, Corbyns ehemaliger Berater, in »The Big Lie« zieht. »Da waren keine Panzer in den Straßen mehr nötig.« Der Coup – bei dem Corbyns Nachfolger Keir Starmer eine Schlüsselrolle spielte – habe letztlich »nur einen Sinn und Zweck gehabt«, sagt ­Jackie Walker, Vizevorsitzende der Graswurzelorganisation »Momentum«, die 2015 extra zur Unterstützung von Corbyns Wahlkämpfen gegründet worden war: »Es ging um die Zerschlagung des Sozialismus.« Außer Murray und Walker kommen in dem Film weitere namhafte Vertreter des linken Labour-Flügels – auch mit (selbst-)kritischen Analysen – zu Wort, beispielsweise Chris Williamson, Exminister in Corbyns Schattenkabinett, sowie der Filmregisseur Ken Loach. Ebenso Graham Bash und weitere Mitglieder der 2017 gegründeten Organisation »Jewish Voice for Labour«, die besonders aggressiven Angriffen ausgesetzt war. Der Schauspieler und Komiker Alexei Sayle wirkt als Off-Sprecher und ­Kommentator mit.

»The Big Lie« ist eine Produktion des »Platform-Films«-Kollektivs aus London, das seit mehr als 40 Jahren Dokumentationen, beispielsweise für die Gewerkschaftslinke und für die »Marx Memorial Library«, herstellt und zu den bedeutendsten Bewegtbildchronisten des großen Bergarbeiterstreiks 1984–1985 zählt.

Am 15. Januar werden junge Welt und das Kulturmagazin Melodie & Rhythmus im Kino Babylon in Berlin-Mitte die Weltpremiere von »The Big Lie« veranstalten (Ausschnitte daraus werden bereits tags zuvor auf der XXVIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz gezeigt). Der Film wird in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln zu sehen sein. Im Anschluss an die Aufführung gibt es ein Podiumsgespräch mit Jackie Walker und weiteren spannenden Gästen.

»The Big Lie«, Regie: Christopher Reeves, UK 2022, 80 Min., Karten für die Filmpremiere am 15. Januar, 14 Uhr, unter www.jungewelt-shop.de

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