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Blog

  • 20.09.2021 12:08 Uhr

    Mumia Abu-Jamal: Gegen Faschismus und das Kapital

    In seiner Grußbotschaft an die Rosa-Luxemburg-Konferenz widmet sich der seit 37 Jahren in US-Haft sitzende politische Gefangene Mumia Abu-Jamal den gegenwärtigen Krisenerscheinungen des kapitalistischen Gesellschaftssystems weltweit. In Frankreich demonstrieren »Gelbwesten« gegen ihren neoliberalen Präsidenten und seine »Reform«-Politik, in Großbritannien entscheidet sich die Bevölkerung, aus der Europäischen Union auszutreten, und die USA befinden sich in einer ökonomischen Krise, die an die 30er Jahre erinnere.

    Warum sollten wir uns darüber Gedanken machen, fragt Mumia? Diese Entwicklung mache den Menschen Angst, und dies öffne dem Faschismus Tür und Tor. Denken wir nur an die US-Kleinstadt Charlottesville, so Mumia, wo 2017 das »finstere Antlitz des Faschismus« aufblitzte. Dieser Fanatismus im Geiste könne ganze Gesellschaften verschlingen.

    Bertolt Brecht habe in den 30er Jahren gefragt: Wie kann man die Wahrheit über den Faschismus sagen, ohne gleichzeitig auch über Kapitalismus zu sprechen. Mumia erinnert daran, dass Faschismus ein politisches Instrument des Kapitalismus sei. So habe der Neoliberalismus die Grundlagen für den gegenwärtigen Aufstieg des Neo- und Kryptofaschismus geschaffen. Es sei verstörend, dass die Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu keinem Bewusstseinswandel geführt hätten. Es ist Zeit für uns alle, sagt Mumia, endlich aufzuwachen. (mik)

  • 20.09.2021 12:08 Uhr

    Mesale Tolu: Solidarität als »Frage von Leben und Tod«

    Nicht nur an die Lage ihrer eingesperrten Kollegen in der Türkei erinnert die Journalistin Mesale Tolu auf der XXIV. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin. »Glauben Sie mir, es ist sehr wichtig, an solchen Konferenzen teilzunehmen und zuzuhören«, sagt sie. »In dem Land, in dem ich inhaftiert war, ist das nicht selbstverständlich.« Sowohl Referenten als auch anderen Teilnehmern solcher Tagungen drohten dort Prozesse.

    »Vor den Augen der EU und der USA hat sich in der Türkei ein autokratischer Staat konstituiert«, betont sie. Die Regierung habe das Ziel, »jegliche Kritik im Keim zu ersticken«, egal, welche Ideologie dahinter stehe. Zum ersten Mal seit den schweren Menschenrechtsverletzungen der 1990er Jahre gebe es wieder eine vergleichbare Situation – was damals vor allem die kurdische Bewegung und türkische Linke getroffen habe, treffe nun auch konservative und kemalistische Kräfte, die die Regierungspartei AKP und Präsident Recep Tayyip Erdogan kritisieren. Dieser brüste sich unter anderem mit dem Neubau eines Flughafens, der bereits 400 Arbeiter das Leben gekostet habe. Bei Arbeitsunfällen gestorbene Bergleute würden in der Türkei zum Teil nicht einmal geborgen.

    Der türkische Innenminister Süleyman Soylu habe unlängst voller Stolz erklärt, dass innerhalb einer Woche landesweit 2.500 Razzien stattgefunden hätten. Die Verhaftungswelle halte seit zwei Jahren an, berichtet Tolu. Sie sei jedoch stolz auf die Unerschrockenheit der Frauen- und der Jugendbewegung in der Türkei. Im Fall der inhaftierten Politikerin Leyla Güven, die als Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ins Türkische Parlament gewählt worden war, sei Solidarität »eine Frage von Leben und Tod«.

    Leyla Güven befindet sich seit 66 Tagen im Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen der politischen Gefangenen protestieren – vor allem gegen die Isolationshaft von Abdullah Öcalan. Der Mitgründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) befindet sich seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali.

    Mesale Tolu, die siebeneinhalb Monate in Untersuchungshaft saß, wirft die türkische Justiz in einem noch laufenden Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder der türkischen linken MLKP »Terrorpropaganda« und »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« vor. (clw)

  • 20.09.2021 12:08 Uhr

    Eduardo Sosa: Wo wir gerne leben

    Alexander Reich
    Eduardo Sosa

    Mit dem Liedermacher Eduardo Sosa beginnt der kubanische Teil der Konferenz. Er singt eines der ersten Lieder der kubanischen Trova über eine Frau aus Bayamo, komponiert 1851 von einem Unabhängigkeitskämpfer. Die Temperatur im Saal steigt.

    Sosa wurde 1972 im Municipio Mayari im Osten Kubas geobren – wie die Brüder Fidel und Raúl Castro. Einer eingängigen Interpretation eines Songs des legendären Kollegen und Kampfgefährten Silvio Rodriguez lässt er zum Abschluss seinen bekanntesten Titel folgen, »A mi me gusta, Compay«. Das Lieblingslied von Che Guevaras Tochter Aleida ist im Stil einer Guaracha komponiert. Es beginnt mit der Zeile »Ich lebe gerne hier, wo ich lebe«. Sosa erklärt, es gebe immer genug Gründe, woanders hinzugehen, aber irgendwann kommen ihm dort, wo immer das sein mag, die Tränen, und er will nichts als zurück in seine Heimat. Im Saal wird rhythmisch geklatscht und auch getanzt. Einige lächeln glücklich, als wären sie gerade in ihre revolutionäre Heimat Kuba zurückgekehrt.

  • 20.09.2021 12:07 Uhr

    Manifestation: 60 Jahre Revolution in Kuba

    Der kubanische Botschafter Ramón Ignacio Ripoll Díaz (M.) und Abel Prieto, ehemaliger Kulturminister Kubas
    Samuel Wanitsch, Cuba-Solidarität Schweiz spricht zum Abschluss der Kuba-Manifestation

    André Scheer ruft nach dem Podiumsgespräch Vertreter aller lateinamerikanischen Delegationen und den Koordinator der Vereinigung Schweiz–Cuba, Samuel Wanitsch, auf die Bühne. Diese füllt sich, und alle versammeln sich hinter der kubanischen Flagge. Wanitsch trägt im Namen aller eine Manifestation zum 60. Jahrestag der kubanischen Revolution vor:

    Hochwillkommen, liebe Schwestern und Brüder aus Kuba, liebe Genossinnen und Genossen, Freundinnen und Freunde, Kämpferinnen und Kämpfer für die gerechte Sache!

    Es ist mir eine große Ehre, diese Grußbotschaft der internationalen Solidarität zur Feier der seit 60 Jahren erfolgreichen kubanischen Revolution hier anlässlich der Rosa-Luxemburg-Konferenz einbringen zu dürfen.

    Meine Herkunft ist unüberhörbar und eigentlich unwichtig. Ich muss aber aus besonderem Grunde festhalten, dass ich mich für die Politik meines Landes aktuell besonders schäme.

    In zehn Tagen wird nämlich anlässlich des World Economic Forum (WEF) in Davos in den Schweizer Bergen den schlimmsten Übeltätern an Mensch und Natur der Teppich ausgelegt – ich sage wohlweislich nicht der rote, wenn schon, dann der braune – und zum globalen Monopoly eingeladen und dabei auch die sogenannte direkte Demokratie vorübergehend außer Kraft gesetzt.

    Banker, CEOs der schlimmsten multinationalen Konzerne, Patriarchen, Oligarchen, Multimilliardäre pokern und dealen mit willfährigen Regierungen und auch mit Faschisten wie Bolsonaro um den irdischen Kuchen, respektive um die Ressourcen der Menschheit. Im Klartext: Das kapitalistische Monster zeigt in Davos sein telegenes Gesicht.

    Es ist genau das Monster, das seit Jahrzehnten Kuba mit kriminellen Sanktionen verschiedenster Art zu drangsalieren versucht, nachdem es vor 60 Jahren von todesmutigen und selbstlosen Kämpferinnen und Kämpfern von der wunderschönen Insel vertrieben werden konnte.

    Jetzt sind wir hier, um diesen Protagonisten um Fidel und Rául Castro, Frank País, Camilo Cienfuegos, Juan Almeida, Che Guevara und wie sie alle heißen, und genauso den engagierten starken Frauen wie Vilma Espín, Celia Sanchez, Haydée Santamaria, Melba Hernández, Aleida March die Ehre zu erweisen.

    Deren Hoffnung und Überzeugung, dass sich auch die nachkommenden Generationen genauso konsequent für dieselben Ideale einsetzen werden, ist mit dem Fortbestand der kubanischen Revolution bis zum heutigen Tag eindrücklich untermauert. Zehntausende von Kubanerinnen und Kubanern haben sich auch im Ausland für bessere und gerechtere Verhältnisse eingesetzt, sei es in Befreiungskämpfen in Äthiopien, Angola und Südafrika oder in der neueren Zeit als Ärztinnen und Ärzte in den entlegensten Ecken dieser Erde.

    Auch die im Volk bereits gelobte Amtsführung von Miguel Díaz-Canel als Präsident und die laufende Verfassungsreform bestätigen die Kontinuität in der sozialistischen Politik. So ist Kuba Stern der Hoffnung für alle Unterdrückten dieser Welt geworden – und geblieben.

    Aber nicht nur für sie, auch für uns, die wir unter ganz anderen Bedingungen leben, aber dieselben Ideale haben, ist Kuba ein Fixpunkt und Orientierungshilfe im Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Frieden.

    In gelebter internationalistischer Solidarität ist uns Kuba das große Vorbild. Legen wir also gleich viel Kraft, Zärtlichkeit und Liebe in unser Engagement für eine bessere Welt, so wie wir das vom kubanischen Volk kennen.

    Otro mundo es posible, gracias Cuba por tu tjemplo! (Eine andere Welt ist möglich, danke Kuba für dein Vorbild!)

    Viva Cuba y su Revolución!

  • 20.09.2021 12:07 Uhr

    Abel Prieto: Die Kultur entwickeln

    Abel Prieto, der ehemalige Kulturminister Kubas (1997 bis 2012 und 2016 bis 2018), spricht über Kultur und Kulturpolitik in seiner Heimat.

    Er schildert zunächst die Situation in der vorrevolutionären Zeit. Alles sei genau wie »in Miami« gemacht worden. Die Söhne und Töchter der Bourgeoisie studierten in den USA. Warum, fragt Prieto, konnten sie uns geistig und spirituell nicht wirklich vereinnahmen? »Die kubanische Kultur war zu reichhaltig und zu tief verwurzelt. Die Religiosität war demokratisch.« Kubanische Lehrer, denen man an der Universität Harvard das Gehirn habe waschen wollen, hätten nach ihrer Rückkehr das Gegenteil des Gewünschten gemacht: Sie hätten den kubanischen Patriotismus gestärkt.

    Für die Zeit seit 1959 gelte: Man könne das materielle Lebensumfeld der Menschen transformieren. Erfolge aber keine kulturelle Wandlung, dann könne sich die Revolution nicht durchsetzen. Das zeige sich auch jetzt wieder bei den Rückschlägen, die die Linke in verschiedenen Ländern Lateinamerikas erleide. Menschen profitierten von progressiven Maßnahmen, stimmten bei der nächsten Wahl aber dennoch für rechte Parteien.

    In Kuba habe man es anders gemacht. Der sozialistische kubanische Patriotismus war nie chauvinistisch. Die Revolution hat den Analphabetismus besiegt. Fidel habe die Linie vorgegeben: Nicht glauben, sondern lesen. Man wolle auch weiterhin Gebildete heranziehen und keine Fanatiker. Rückschläge habe es dennoch gegeben: Im Kino habe sich die kommerzielle Massenproduktion breitgemacht, die Qualität der Musik sei oft mittelmäßig. Optimismus sei aber gerechtfertigt: In Kuba gebe es keine Kinder ohne Schulen oder Lehrer. Kuba verfüge über die Mittel, um seine Identität zu schützen und die Würde des Menschen den Ideen des Neoliberalismus und der Verherrlichung des Geldes entgegenzusetzen. (np)

  • 20.09.2021 12:06 Uhr

    Dietmar Dath: Wissen, was man kann

    Die Vorträge sind gehalten, gerade beginnt die Podiumsdiskussion. Zuletzt sprach der Science-Fiction-Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath, natürlich über die Zukunft: »Die nächste Revolution«. Die beginne bekanntlich im Hier und Jetzt, was auch räumlich zu verstehen sei. Die »Verfolgten, Unterdrückten, Bestohlenen, Ausgegrenzten, Eingeschlossenen, Abgehängten oder einfach Aufgegebenen« seien nicht nur irgendwo im vom Neokolonialismus gebeutelten Weltregionen, sondern »überall«. Wenn die Revolution dieser Menschen beginne, werde es kein Spaß werden, sondern so hässlich, wie immer in der Geschichte.

    Doch man müsse sich nicht freuen, um das Richtige zu tun, sondern denken. Eine der größten Herausforderungen für eine zeitgemäße Revolutionstheorie sei die Tendenz, dass sich ein Atomkrieg nicht in einen Bürgerkrieg verwandeln lässt. Doch Tendenzen seien nicht widerspruchsfrei, enthielten also auch Chancen für Gegenläufiges. Unter Kriegen würden immer die Ärmsten leiden, verheizt als lebendes Kriegsmaterial in den imperialistischen Verteilungskämpfen. »Imperialismus heißt: Wozu Gerät belasten, wenn man Menschen verschleißen kann? Weshalb eine revolutionäre Situation eine ist, in der Leute nicht mehr verschlissen werden wollen, während ihre Peiniger umgekehrt aus dem Verschleiß auch nicht mehr den alten Nutzen ziehen.« Trotz der großen Erfolge der in globaler Qualität praktizierten Strategie des Teile-und-Herrsche. »Der Imperialismus zwingt die Beherrschten aller Kontinente auch in einen neuen Zusammenhang miteinander, den sie begreifen und gegen die Herrschenden und Besitzenden kehren könnten«, so Dath. Der erste Schritt bleibe praktisches Bewusstsein.

    Damit dieses entstehen könne, müssten die Ausgebeuteten aber der Pseudo-Teilhabe widerstehen, die ihnen der Kapitalismus anbiete. Dem alten Spiel »linksliberal gegen rechtsautoritär«, bei dem sich nie etwas ändert, müsse sich auch die Metropolenlinke entziehen. Dath: »Revolutionäre Politik weiß heute mehr als die Grundlagen, die in den Schriften der Klassiker stehen. Aber diese Grundlagen braucht sie. Mit ihnen weiß sie derzeit vor allem mehr, als sie kann. Zwischen 1917 und 1990 konnte sie umgekehrt oft mehr, als sie wusste. Sei’s drum: Wissen kann man lernen, und Können kann man üben. Die nächste sozialistische Revolution ist ein theoretisches Rätsel, das wir praktisch lösen müssen, aber nur wer sie vorbereitet, macht Geschichte. Alles andere, selbst wenn es Politik treibt, ist der ahistorische Leerlauf einer erschöpften, ungerechten und wahnsinnigen Welt. Die wirkliche Bewegung, die sie abschafft, war und ist und bleibt und wird – der Kommunismus.« (pm)

  • 20.09.2021 12:06 Uhr

    Melodie & Rhythmus ist wieder da

    Dietmar Koschmieder, Verlag 8. Mai; Anja Panse, Moderatorin, Susann Witt-Stahl, Chefredakteurin der Melodie & Rhythmus

    Zu Beginn des vergangenen Jahres sah es so aus, als würde Melodie & Rhythmus eingestellt. Die Ansprüche waren mit den vorhandenen Mitteln nicht mehr zu erfüllen. Die auf der XXIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz gemachte Ankündigung sorgte für Proteste. Es war noch nicht lange her, da war das Heft in ein Magazin für Gegenkultur umgewandelt worden. Und nun – das Ende?

    Warum es nicht so kam, warum es Melodie & Rhythmus seit Anfang 2019 wieder gibt, schildern Dietmar Koschmieder, der Geschäftsführer des Verlags 8. Mai, und Chefredakteurin Susann Witt-Stahl. Zuspruch, weiterzumachen, kam vor allem von den Leserinnen und Lesern. Aber auch viele Künstler meldeten sich. Koschmieder betont es noch einmal: Eine Kulturzeitschrift, die sich deutlich gegen die kapitalistische Kulturindustrie richtet, ist eine Einzigartigkeit.

    Um das Weiterbestehen zu sichern, waren Bedingungen gesetzt. 1.000 neue Abos sollten es bis Mitte 2018 sein. Dann, so Koschmieder, wäre ein Neustart möglich. Die Erwartungen wurden übertroffen. Mittlerweile sind es 2.200 neue Abos.

    Susann Witt-Stahl betont, dass dieser Erfolg sich nicht nur der tatkräftigen Unterstützung des Verlags verdanke, sondern vor allem auf das kollektive Agieren zurückzuführen sei. Für die Zukunft gelte es, das Erreichte weiter auszubauen, die Unabhängigkeit zu wahren und an Breite zu gewinnen. Denn M & R wolle Debatten anstoßen und eine Plattform für alle jene werden, die an einer Kultur jenseits des Zwangs zur Verwertung interessiert seien.

    Eine Grundlage für eine Diskussion findet sich im aktuellen Heft mit dem Manifest für Gegenkultur. Im Juni 2019 soll die Diskussion in Berlin bei einer Konferenz weitergehen. Dazu lädt Witt-Stahl herzlich ein und bedankt sich noch einmal bei allen Beteiligten für den Erfolg. M & R ist wieder da. (row)

  • 20.09.2021 12:06 Uhr

    Wieland Hoban: Ein Stück gegen Krieg und Besatzung

    Wieland Hoban, Komponist, und Susann Witt-Stahl, Chefredakteurin der Melodie & Rhythmus

    2008 griffen die Israelis Gaza an. »Operation gegossenes Blei« hieß der Krieg, der mehr als 1.400 Palästinenser das Leben kostete. 13 israelische Soldaten starben bei den militärischen Auseinandersetzungen. Die Zahlen verdeutlichen die Dimension der Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Der deutsch-britische Komponist Wieland Hoban war schockiert. Aber ein Stück darüber schreiben? Sich engagieren, zudem in einem Umfeld wie der Neuen Musik und seinem doch recht begrenzten Publikum? 2012 folgte der nächste Angriff auf Gaza. Da war es genug. Es entstand der Dreiteiler »Rules of Engagement«. Ausgehend von einem Gespräch, das die israelische Menschenrechtsorganisation »Breaking the silence« mit einem Soldaten geführt hatte, schrieb Hoban ein Stück, das den Krieg und den Alltag der israelischen Besatzung in Ton setzte.

    Den dritten Teil des Stück reichte er ein für eine Aufführung bei den Donaueschinger Musiktagen. Aber dazu kam es nicht. »Ich war wirklich schockiert«, sagt Hoban im Gespräch mit der Chefredakteurin von Melodie & Rhythmus, Susann Witt-Stahl. Die Begründung lautete, es würden keine Stücke aufgeführt, die Israel kritisieren. Es ist dies ein Beispiel einer Zensur, die in den letzten Jahren immer mehr um sich greift. Über die israelische Besatzung soll am besten gar nicht mehr gesprochen werden.

    Wieland Hoban will sich davon nicht entmutigen lassen, sondern weitermachen. Über seine Stücke und den Streit mit den Donaueschinger Musiktagen kann ausführlich im aktuellen Heft von Melodie und Rhythmus nachgelesen werden. (row)

  • 20.09.2021 12:04 Uhr

    Ahed Tamimi im Widerstand gegen israelische Besatzung

    Ahed Tamimi

    Im Dezember 2017 ging ihr Bild durch die internationalen Medien: eine palästinensische Teenagerin, die sich gegen israelische Soldaten wehrt, mit Händen und Füßen. Die Soldaten waren zuvor in das Haus ihrer Familie im Dorf Nabi Salih nördlich von Ramallah eingedrungen, weil von dort Steine geworfen worden waren. Das geschah damals wöchentlich bei den Demonstrationen der Bewohner gegen israelische Siedler, die eine der wichtigsten Wasserquellen des Dorfes für sich beanspruchten. Acht Monate ging Tamimi für ihren Widerstand ins Gefängnis. Heute sollte sie auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz sprechen. Der Einladung konnte sie leider nicht folgen, denn mittlerweile musste sie wegen Bedrohung ihrer Familie untergetauchen.

    »Es ist uns ein Bedürfnis, an dieser Stelle noch einmal unsere Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auszudrücken«, sagt Arnold Schölzel, der stellvertretende Chefredakteur der jungen Welt. Im Hintergrund werden Bilder von Ahed Tamimi in Handschellen gezeigt. (row)

  • 20.09.2021 12:04 Uhr

    Hoch die internationale Solidarität

    Zum Abschluss erhoben sich die Gäste und füllte sich die Bühne, um das alte Arbeiterlied »Auf, auf zum Kampf« zu singen. Im Anschluss erschallte kräftig die »Internationale«.

  • 20.09.2021 12:05 Uhr

    Bewusstsein durch Aktion: Diskussion über Klassenpolitik der Gegenwart

    Stefan Huth (2. von rechts) und Nina Scholz während der Podiumsdiskussion
    Lena Kreymann
    Ulrich Maurer
    Nina Scholz
    Jan von Hagen

    Mit einem hochkarätig besetzten Podium ist auf der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz über die Bedingungen heutiger Klassenpolitik diskutiert worden. In Zeiten einer erstarkenden Rechten und einer multiplen Krise des kapitalistischen Systems stellte Stefan Huth, Chefredakteur der jungen Welt, die Frage, wie sich eine emanzipative Bewegung entwickeln kann. Unterschiedliche Perspektiven darauf lieferten Ulrich Maurer, früherer Bundestagsabgeordneter für Die Linke, Lena Kreymann, Bundesvorsitzende der SDAJ, Nina Scholz, Aktivistin der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co enteignen«, und Jan von Hagen, Mitglied der Verdi-Verhandlungskommission und Streikleiter während der Krankenhausstreiks in Nordrhein-Westfalen.

    »Mit Aktionen in Parlamenten wird man die herrschende Klasse nicht beeindrucken«, berichtete Ulrich Maurer. Der frühere SPD-Landeschef in Baden-Württemberg betonte, dass es Formen des passiven Widerstandes brauche, auch Widerstand auf der Straße, um Erfolge zu erzielen. In Hinterzimmern könne man zwar viel diskutieren, das werde die gesellschaftliche Realität aber nicht ändern. Linke Parteien hätten den Bewegungen zu dienen, die sich entwickeln, so Maurer – und verwies dabei auf die Kampagne »Deutsche Wohnen und Co enteignen«, in der sich Nina Scholz engagiert. Sie berichtete davon, wie sich Mieter in der konkreten Auseinandersetzung solidarisieren, und dabei meist schon mit einem klaren Bewusstsein über die Verhältnisse ausgestattet sind. Die Deutsche Wohnen als der größte Immobilienkonzern der Hauptstadt sei ein »klarer Feind«, der dem Interesse der Menschen nach bezahlbarem Wohnraum entgegensteht, sagte die Journalistin. Deswegen sei Enteignung eine notwendige politische Forderung.

    Darum sei es in den jüngsten Arbeitskämpfen in den Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen weniger gegangen, sagte Jan von Hagen. Bedeutend sei es gewesen, dass die Beschäftigten an den Unikliniken während der Streiks feststellten, dass sie ein Krankenhaus auch alleine führen könnten, und eine Geschäftsführung nicht zwingend erforderlich sei. Zudem sei die Solidarisierung der Beschäftigten etwa mit denen bei Amazon oder der Deutschen Post ein entscheidendes Moment gewesen, so der Verdi-Vertreter. Unterstützung sei auch von Genossen der SDAJ gekommen, berichtete Lena Kreymann. Die Interessen der Arbeiter würden sich in diesen Kämpfen zeigen und weiter herausbilden. Auch im kleinen ließen sich an Fragen, wofür in dieser Gesellschaft Geld ausgegeben wird und wofür nicht, die gesellschaftlichen Widersprüche aufzeigen. Wenn Armeen aufgerüstet werden und Schulgebäude verfallen, werde Widerstand notwendig.

    Maurer appellierte an die Anwesenden, sich zu organisieren. Jeder Betrieb, der rekommunalisiert werde, sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer besseren Gesellschaft. »Wehrt euch«, so der ehemalige Berufspolitiker. In der gegenwärtigen Lage müsse man für jede Form des Widerstandes dankbar sein.

    Das Podium diskutierte auch über diejenigen, die heute rechte Parteien wählen. Die Menschen seien nicht per se aus den Bewegungen auszuschließen – darin waren sich die Diskutanten einig. »Der Lack ist ab«, sagte die Journalistin Nina Scholz über die weiter sichtbar werdenden Widersprüche. In vermeintlich juristische Debatten dürfe man sich dabei nicht hineinziehen lassen, sagte Lena Kreymann. Es brauche den politischen Druck von der Straße. Jan von Hagen konnte berichten, dass Arbeiter verschiedener Bereiche die Erfahrung teilten: »Es ist die Belastung, die uns kaputt macht.« Diese gelte es zu überwinden. (jg)

  • 20.09.2021 12:05 Uhr

    Jahresauftakt der DKP

    Patrik Köbele Vorsitzender der DKP
    Das Café K

    Die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz könnte nicht stattfinden ohne die vielen Helfer der DKP. Nach einem arbeitsreichen Tag im Café K, wo Mitglieder der DKP die Besucher mit Speis und Trank versorgt haben, treffen sie sich zum politischen Jahresauftakt. Der findet traditionell am Rande der Konferenz statt.

    Inhaltlich geht es um die bevorstehende Wahl des EU-Parlaments, an der sich auch die DKP beteiligt. Aus diesem Grund sammelten Mitglieder auf der Konferenz Unterstützungsunterschriften. Das ist nötig, damit die Partei zur Wahl antreten kann. Außerdem wird darüber gesprochen, wie der Kampf gegen die weltweite militärische Aufrüstung und die Kriegsgefahr, die auch von Deutschland ausgeht, im Anschluss an die Kampagne »Abrüsten statt Aufrüsten« fortgeführt werden kann. Wichtig für die Partei werden selbstredend die Arbeitskämpfe in der Republik sein. Nachdem auch DKPler sich im letzten Jahr bundesweit an denen im Gesundheitsbereich beteiligt hatten, wird es in der nächsten Zeit darum gehen, wie die Aktionen fortgeführt und eventuell auf eine neue Stufe gehoben werden können. Zu dem Jahresauftakt der DKP sind traditionell auch internationale Gäste eingeladen. Heute sprechen neben einem portugiesischen Genossen auch der ehemalige Kulturminister Kubas.

  • 21.09.2021 14:03 Uhr

    »Für mich ist Noske eine präfaschistische Figur«

    Gespräch mit Klaus Gietinger. Über die von der SPD geführte Konterrevolution 1918/19, warum Friedrich Ebert damals von »Volksgemeinschaft« sprach und über den Umgang bundesdeutscher Historiker mit der Novemberrevolution
    Nico Popp
    kollwitz.jpg
    Käthe Kollwitz: Gedenkblatt für Karl Liebknecht, 1920

    In einer Extraausgabe der sozialdemokratischen Parteizeitung Vorwärts, die im Herbst 2018 herauskam und sich nur mit der Novemberrevolution befasst, wird ein einleitender Grundsatzartikel mit diesen beiden Sätzen angeteasert: »Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann sind die führenden Köpfe der Revolution. Sie setzen die Demokratie durch.« Was ist davon zu halten?

    Sie waren nicht die führenden Köpfe. Die haben sich auf die Revolution draufgesetzt, um sie so stark wie möglich zu bremsen. »Demokratie« – das ist auch ganz lustig. Ebert hat zu Max von Baden, dem letzten Reichskanzler des Kaiserreiches, gesagt, er befürchte, dass die USPD die Umsetzung des SPD-Programms fordere. Er hat sich offensichtlich vor seinem eigenen Parteiprogramm gefürchtet: Denn »das Volk« – er redet ja immer vom Volk und nicht von den Arbeitern – sei noch nicht für die Republik bereit oder reif, man müsse also einen Nachfolger für den Kaiser finden, so dass es am Ende auf eine starke konstitutionelle Monarchie hinausgelaufen wäre.

    Was ich an solchen Wertungen wie der eben zitierten immer wieder ziemlich dreist finde, ist diese totale Verzerrung des Verhältnisses von Revolution und Gegenrevolution. Die politischen Anführer der Gegenrevolution – oder diejenigen, die sie gedeckt haben an der Spitze des politischen Apparates – werden einfach zu führenden Köpfen der Revolution erklärt, die etwas durchgesetzt haben, das den Namen Demokratie bekommt. Und das ist dann wie selbstverständlich die Weimarer Reichsverfassung. Dieser Dreh funktioniert offenbar auch jetzt noch, ohne damit bei jedermann Kopfschütteln auszulösen. Wie schätzen Sie das ein? Ist diese Perspektive exklusives Eigentum von SPD-Parteijournalisten, die in wissenschaftlichen Veröffentlichungen überhaupt nicht mehr anzutreffen ist? Historiker wie Eberhard Kolb oder Reinhard Rürup haben ja durchaus mal eine Kritik an der Linie der sozialdemokratischen Parteiführung formuliert. Schaut man sich neuere Arbeiten wie die von Wolfgang Niess an, dann ist da sehr viel von dieser Kritik rausgenommen. Und die Revolution wird in einer ziemlich grotesken Verdrehung nicht mehr als gescheitert, sondern als erfolgreich bewertet.

    Wir sind mitten in einem Rollback. Es gibt ein paar jüngere Leute, die anders forschen, aber der Mainstream geht wieder in die andere Richtung. Leute wie Joachim Käppner und auch Niess sind zwar in bestimmten Passagen durchaus kritisch, beide trauen sich dann aber doch nicht, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, die eigentlich die Köpfe der Konterrevolution sind, direkt anzuklagen. Joachim Käppner ist noch so ein Zwischending, aber einer wie Robert Gerwarth, der hoch gelobt wird, und andere auch, die versuchen ein richtiges Rollback. Dann gibt es Journalisten wie den Taz-Mitgründer Arno Widmann, der jetzt für die Berliner Zeitung schreibt und dort in einem Artikel zum 9. November wirklich den Terror gerechtfertigt hat, mit ungefähr so einem Satz: Alles, was links von Ebert und Scheidemann war, musste bekämpft werden, und zwar mit den schärfsten Mitteln. Das finde ich schon sehr interessant.

    Woher kommt das denn? Es ist ein Rollback im Gange. Es ist eine neue Verbissenheit etwa bei der Rechtfertigung von Ebert zu beobachten. Wenn man mal unterstellt, dass das nicht einfach Launen sind oder historische Denkmalpflege betrieben wird – hat das einen politischen Kern?

    Es hat ganz bestimmt einen politischen Kern. Damals hatten wir eine Revolution und dann eine Konterrevolution. Heute haben wir eine Konterrevolution ohne Revolution. In ganz Europa. Es gibt rechte Massenbewegungen und eine rechte Stimmung in den Köpfen vieler Intellektueller. Nehmen Sie Deutschland mit der AfD, Polen, Frankreich, Italien sowieso. Das ist eine europaweite Konterrevolution. Und da spielen auch Intellektuelle als Vordenker rein, und dazu gehört auch die Revision von Geschichte.

    Sie haben die Revolution von 1918/19 in Ihrer Anfang 2018 erschienenen Monographie schon im Titel als »verpassten Frühling des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Was wäre denn anders gekommen, wenn dieser Frühling nicht ausgefallen wäre?

    Nehmen wir den Rätekongress im Dezember 1918. Da wird immer hervorgehoben: Die haben sich mit großer Mehrheit für die Nationalversammlung entschieden. Man könnte über die Delegierten reden. Das waren überwiegend sozialdemokratische Parteisoldaten, nur wenige Arbeiter darunter. Aber dieser Kongress hat eine basisdemokratische Volkswehr beschlossen, die zu einem weiteren imperialistischen Krieg nicht fähig gewesen wäre. Und sie haben die sofortige Sozialisierung der dafür geeigneten Industriezweige gefordert. Beides Punkte aus dem Erfurter Programm der SPD, vor dem Ebert sich gefürchtet hat. Diese Forderungen wurden niedergeschlagen. Das führte dann zu diesen Massenbewegungen und Aufständen. Wenn diese und andere Forderungen durchgesetzt worden wären, wären Armee, Wirtschaft und Verwaltung demokratisiert worden, und den Junkern wäre es an den Kragen gegangen. Und dann hätte die Konterrevolution, hätte vermutlich auch der Faschismus keine Chance gehabt.

    Das Votum des Reichsrätekongresses wird gerne dahingehend missverstanden, als sei es eins für die Weimarer Republik gewesen, wie sie sich dann ein paar Monate später konkretisiert hat. Was man hier indes sehr schön studieren kann, ist ja, dass die sozialdemokratische Parteiführung auch gegenüber den Leuten falsch gespielt hat, die auf diesem Kongress als ihre Anhängerschaft aufgetreten sind. Denn das waren in der Mehrzahl Menschen, die angenommen haben, dass der Weg über die Nationalversammlung der Weg zum Sozialismus ist. Das war zu diesem Zeitpunkt auch die Linie der sozialdemokratischen Parteipresse. Aber das war zu keinem Zeitpunkt die Linie der SPD-Führung.

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    Januar 1919 in Berlin: SPD-Kampagne für die Wahlen zur Nationalversammlung während des sogenannten Spartakusaufstandes. Der war in Wirklichkeit die SPD-geführte bewaffnete Niederschlagung eines Generalstreiks

    Das haben die den Leuten immer nur erzählt, bis ins Frühjahr 1919: Ja, das wird alles verankert in der Verfassung, und dann machen wir den Sozialismus.

    Das bekannteste Beispiel für den bereits angesprochenen Terror gegen die sozialistische Linke ist die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919. Können Sie den aktuellen Forschungsstand, den Sie ja sicher am besten übersehen, kurz zusammenfassen?

    Es gab einen zivilen Oberbefehlshaber. Das war Gustav Noske, und der hat schon kurz nach Weihnachten 1918 gesagt: Man muss jetzt auf jeden schießen, der der Truppe vor die Flinte kommt. Und der hatte die Verantwortung für die Freikorps. Das waren zum Teil vom Krieg zerstörte Menschen, zum Teil Arbeitslose, viele Studenten, ganz viele Offiziere, die es jetzt mal denen zeigen wollten, die die Revolution gemacht hatten. Und die hat Noske losgelassen. Dann gab es noch Bürgerwehren, die auch unter dem Kommando von Noske standen. Und so eine Bürgerwehr hat Liebknecht und Luxemburg am Abend des 15. Januar in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf gefangengenommen und ins Eden-Hotel verschleppt. Dort saß Hauptmann Waldemar Pabst, der faktisch die Garde-Kavallerie-Schützen-Division, das größte und radikalste Freikorps, kommandierte. Der hatte für sich beschlossen: Die zwei, die legen wir jetzt um. Weil sie, nach Pabsts eigenen Worten, viel gefährlicher sind als die mit einer Waffe. Die verfügen über die Sprache, über eine Kritik, die haben Einfluss auf die Massen. Aber Pabst wollte das nicht allein entscheiden. Er hat sich mit Noske verständigt. Pabst gab später an, er habe ihn angerufen, und Noske habe ihm gesagt, er solle den kommandierenden General Walther von Lüttwitz fragen. Und da habe Pabst gesagt: Der gibt so einen Befehl nie. Und Noske hätte ihm gesagt, dann müsse er selbst verantworten, was zu tun sei. Jetzt gibt es dazu ein neues Detail. Ein renommierter Militärhistoriker, ein Oberstleutnant a. D., der am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr gearbeitet hat, hat mir gesagt, dass er als junger Offizier einen Vortrag von Pabst gehört hat. Und dort habe Pabst ausgeführt, dass er vorher persönlich bei Noske war und der die Sache abgenickt hat. Ich habe diesen Oberstleutnant gefragt: Wie schätzen Sie Pabst ein? Die Antwort: Der war arrogant und egomanisch, aber in dieser Sache glaubwürdig. Also: Die Ausflucht SPD-naher Historiker, Pabst würde lügen, funktioniert nicht. Pabst hat Noske immer gelobt, wollte ihn sogar als Diktator haben. Und er hat immer nur intern unter Offizieren Klartext gesprochen und diese Sachen nie an die große Glocke gehängt.

    Das war vermutlich in den 1960er Jahren?

    Ja, genau.

    Da ist Pabst offiziell vor Offiziersnachwuchs der Bundeswehr aufgetreten? Oder war das eine eher informelle Runde?

    Das war ein informeller Kreis ehemaliger Kadetten. Pabst war Kadett in der Kadettenanstalt in Lichterfelde, wo heute das Bundesarchiv ist. Einer der alten Kameraden war der ehemalige Reichskanzler Franz von Papen.

    Ein interessantes Detail ist der von Ihnen erwähnte Hinweis von Noske an Pabst: Wenden Sie sich doch an Lüttwitz, um sich von dem einen Befehl geben, also decken zu lassen. Pabst erwidert, dass er den nicht bekommen werde. Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler hat dieses Dilemma des Haupttäters offenbar nie begriffen und noch 2009 in einem merkwürdigen Deutschlandfunk-Interview behauptet, dass, wären Luxemburg und Liebknecht »korrekt« in ein Gefängnis überstellt worden, sie am Abend vor ein Standgericht gestellt und erschossen worden wären. Die hätten halt Aufstand und Bürgerkrieg angezettelt. Wehler wusste demnach nicht, dass im Januar 1919 in Berlin kein Standrecht galt – der Belagerungszustand der Kriegszeit war ja aufgehoben worden –, und Noskes Schießerlass vom März 1919 lag noch nicht vor. Es war also von vornherein klar: Wenn »wir die zwei umlegen«, dann ist das ist eine extralegale Tötung, also Mord. Es gibt zudem eine Passage in dem Interview, deren Heuchelei schwer zu ertragen ist: Wehler sagt, er könne gar nicht verstehen, wieso Pabst nie angeklagt worden ist. Dass sei »rätselhaft« und »schlechterdings unverständlich«. Sie hatten zu dem Zeitpunkt schon das Dokument aus dem Pabst-Nachlass veröffentlicht, in dem der höchstpersönlich das »Rätsel« auflöst: Er ist einfach gedeckt worden von den sozialdemokratischen Mitwissern.

    Ja. Dieses Interview ist in mehrfacher Hinsicht sehr interessant. Erstens, weil ein der Sozialdemokratie nahestehender Historiker zugibt, dass die beiden ermordet wurden und dass es diese Zusammenarbeit zwischen Noske und Pabst gegeben hat. Zweitens: Eigentlich hatte der Deutschlandfunk mich interviewt. Ich war damals in Bremen, habe da über Pabst geforscht und musste extra ins Studio von Radio Bremen, um mich über eine Standleitung interviewen zu lassen. Dann war der zuständige Redakteur mit dem Gespräch nicht zufrieden, hat es aus dem Programm geschmissen und dann Wehler interviewt. Also, Sie sagten es ja schon: Es war kein Bürgerkrieg, der da entfacht wurde von den beiden. Und es gab keinen Belagerungszustand. Und selbst wenn es den gegeben hätte, dann hätte das entsprechende preußische Gesetz von 1851 gegolten. Da braucht man einen Verteidiger und ein mit Offizieren besetztes offizielles Gericht. Und hätte das beschlossen, die beiden zu erschießen, dann hätte man 24 Stunden warten und die formelle Zustimmung des Oberkommandierenden – Lüttwitz oder Noske – einholen müssen. Ein ziemlich kompliziertes Verfahren. Die beiden zu erschießen war also doppelt widerrechtlich. Nehmen wir mal den Fall Georg Ledebour. Der war maßgeblich am Januaraufstand beteiligt, wurde auch verhaftet, ist ganz knapp davongekommen. Anton Fischer, Stadtkommandant und SPDler, wollte ihn eigentlich erschießen lassen. Es gab dann einen Prozess, und da hat ein Staatsanwalt, ein Rechter, der später am Kapp-Putsch beteiligt war …

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    Berlin, Frühjahr 1919: Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) schreitet die Front einer Brigade der vorläufigen Reichsmarine vor ihrer Versetzung nach Kiel ab

    der Staatsanwalt Karl Zum­broich …

    … genau, der hat festgestellt: Das war im Januar 1919 eine revolutionäre Situation und kein Hochverrat, kein Putsch. Und Ledebour ist freigesprochen worden. Eine eindeutige Sache, auch dann, wenn man sie nur rein rechtlich betrachtet.

    Und dass Wehler vorgibt, nicht zu verstehen, warum Pabst nie angeklagt worden ist: Das ist doch kein Missverständnis mehr, sondern ein bewusstes Augenverschließen, weil man hier mit einer Tatsache konfrontiert ist, die man aus dieser sozialdemokratischen Rechtfertigungsperspektive einfach nicht mehr rationalisieren kann.

    Pabst wird über 50 Jahre hinweg geschützt. Die SPD-Regierung lässt den Mord vom Kriegsgericht der Garde-Kavallerie-Schützen-Division untersuchen, also von den Kameraden der Mörder. Dann laufen die ganzen Sachen über den Tisch des Adjutanten von Pabst. Der steuert den ermittelnden Kriegsgerichtsrat Paul Jorns, der dann später als Ankläger beim Volksgerichtshof gelandet ist. Alles wird vertuscht. Und die Regierung weiß das. Ebert und Noske waren doch nicht dumm. Die haben gewusst, was da gelaufen ist. Und dann wird Kurt Vogel, der die Leiche von Luxemburg in den Landwehrkanal werfen ließ, von Wilhelm Canaris aus dem Gefängnis geholt und nach Holland geschafft. Noske verhindert, dass er ausgeliefert wird und bestätigt die Freisprüche der anderen Täter.

    Vogel musste weg, weil er mit einer Aussage, mit der er ja offenbar gedroht hat, das ganze Lügengebäude zum Einsturz hätte bringen können.

    Genau. Und Pabst muss ihn dann in Holland ständig mit Geld versorgen. Pabst wird nach dem Zweiten Weltkrieg weiter geschützt. Ein Regierungssprecher, ein Freund von Pabst, Felix von Eckardt, der Drehbücher für Nazipropagandafilme geschrieben hatte, macht in Bonn 1962 eine offizielle Erklärung, dass das Ganze eine standrechtliche Erschießung war. Die ganze CDU-Kamarilla hat ihn in den 50er und 60er Jahren beschützt. Der spätere Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau besucht Pabst 1959, weil er Wilhelm Pieck etwas anhängen will. Pabst erzählt ihm, wie der ganze Mord abgelaufen ist. Nollau behält das für sich, geht nicht zur Polizei und hängt nur die Sache mit Pieck an die große Glocke. Nach dem Spiegel-Interview mit Pabst von 1962 stellt das Ministerium für Staatssicherheit fest, dass der noch lebt. Dann gab es ein Ermittlungsverfahren in der DDR. Der Generalstaatsanwalt erlässt einen Haftbefehl und schickt ihn an das Bonner Justizministerium. Er bekommt nicht mal eine Antwort. Justizminister war Gustav Heinemann.

    Aus dem Terror gegen die führenden Köpfe des radikalen Flügels der revolutionären Bewegung wird 1919 binnen weniger Wochen ein Massenterror. Anfang März bäumt sich in Berlin die im Januar niedergeschlagene Massenbewegung in einem Generalstreik noch einmal auf. Und da reagiert die gleiche Kombination aus rechter Sozialdemokratie und Freikorps mit einer Gewaltorgie, die einigermaßen beispiellos ist und lange Zeit zu den fast ganz vergessenen Episoden der Revolution von 1918/19 gehörte. Ihr zentrales Dokument ist der Schießbefehl Noskes vom 9. März 1919. Sie haben mal geschrieben, dass der sogar noch Jahrzehnte später einem Verfassungsrechtler mit Nazivergangenheit wie Ernst Rudolf Huber »den Atem geraubt« habe. Was ist denn dessen außergewöhnliche Qualität?

    Das ist ein Befehl zur Gefangenentötung, der über alles hinausgeht, was es im Kaiserreich je an Befehlen und Gesetzen gab. Das hatte auch nichts mehr mit dem Belagerungszustand und dem Standrecht zu tun. Das war ein Befehl, der die Schleusen geöffnet hat: Jeder konnte abgeknallt werden, der verdächtig war, ein Roter zu sein. Sogar Frauen, Jugendliche, Kinder wurden getötet. Das war die Einführung des Massenterrors in die Innenpolitik Deutschlands – unter einem Sozialdemokraten. Der Anlass war eine Zeitungsente, dass die Spartakisten 60, dann wurden es 150, 200, Polizeibeamte umgebracht hätten. Dann legt Pabst Noske diesen Befehl vor. 1907 gab es schon einmal etwas Ähnliches: Da hat der preußische Generalstab Pläne für den Umgang mit »insurgenten« Städten entworfen. Auch da gab es den Vorschlag, alle Zivilisten zu erschießen, die mit einer Waffe in der Hand angetroffen werden. Das waren aber geheime Spielereien. Die SPD hat davon erfahren. 1911 war es ausgerechnet Gustav Noske, der das öffentlich gegeißelt hat. 1919 hat er diesen Befehl erlassen, und Tausende Menschen sind deswegen in Berlin, in München, im Ruhrgebiet umgebracht worden. Noske hat das als Zeuge in mehreren Gerichtsverfahren immer verteidigt.

    Wenn man diesen Terror mal auf seinen Kern, also seine Praxis reduziert, kann man da von einer faschistischen Qualität sprechen? In Lichtenberg sind im März 1919 Leute erschossen worden, weil sie ein Parteibuch der USPD oder einen Gewerkschaftsausweis im Schrank hatten. Die verantwortlichen Offiziere waren meist Bürgersöhne, die endlich einmal in einem Arbeiterviertel aufräumen wollten.

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    Protest gegen die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Zeitungen der internationalen Arbeiterbewegung

    Für mich ist Noske eine präfaschistische Figur. Aber der stand nicht allein. Ebert hat es akzeptiert, der Vorstand der SPD hat das gebilligt. Der preußische SPD-Justizminister Wolfgang Heine hat es befürwortet. Es gibt da schon einen Zug hin zum Faschismus.

    Ist das Abbiegen bzw. die Niederschlagung der – im weitesten Sinne – sozialistischen oder, wenn man so will, radikaldemokratischen Massenbewegung von 1918/19 die entscheidende Weichenstellung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert gewesen? Und damit auch der folgenreichste Auftritt der SPD?

    Es ist einer der folgenreichsten. Der August 1914 zählt dazu, auch der Kapp-Putsch 1920. Da wurden die rechten Sozialdemokraten von den Arbeitern noch einmal gerettet und haben dann ihre Retter umbringen lassen. Kurz bevor der Faschismus kam, gab es dann im Juli 1932 den sogenannten Preußenschlag Papens. Da haben sie sich einfach so aus der preußischen Regierung schmeißen lassen. Linke Revolutionäre haben sie erschießen lassen, aber gegenüber den Rechten wurde immer sofort der Schreibtisch geräumt.

    Auffällig ist, dass die rechte Politik der Parteiführung die SPD schon zwischen 1919 und 1920 in eine Existenzkrise geführt hat. Im Januar 1919 wurde die Partei von Millionen Arbeitern in der Annahme gewählt, damit etwas für den Sozialismus zu tun. Viele von denen votierten dann bei der Reichstagswahl im Juni 1920 für die USPD, die zusammen mit der KPD ungefähr auf die Stimmenzahl der SPD kam.

    Und die SPD fliegt aus der Regierung. Und stellt erst 1928 wieder einen Reichskanzler.

    Warum hat die Führungsgruppe diesen Kurs dann nicht grundsätzlich revidiert? Die haben doch gesehen, dass sie die Partei in die Krise führen. Wie kann man das erklären?

    Ich dachte mir jahrelang: Verrat, das greift zu kurz. Und nahm an, es sei die Verbürgerlichung. Die hatten Ämter und Funktionen, haben Einkommen bezogen von der Partei, haben sich arrangiert. Aber man muss noch weiter gehen: Die waren verpreußt oder besser: deutschnational. Haben nur noch vom Volk gesprochen und von der Nation. 1919 spricht Ebert von der Volksgemeinschaft. Die Arbeiter haben sie nicht mehr interessiert, nur noch das Volk.

    Der Begriff Volksgemeinschaft ist ja maßgeblich von der sozialdemokratischen Rechten während der Kriegsjahre entwickelt worden. Auch das war keine Eigenleistung der radikalen Rechten. Die haben sich das später in der Form einer feindlichen Übernahme angeeignet. Wobei zu klären bliebe, wie feindlich die Übernahme eigentlich war.

    Ja. Die meisten führenden Sozialdemokraten waren Anhänger des preußisch-deutschen Militärstaates. Der rechte Rand der Partei, der ja auch an der Spitze saß, war in gewissem Sinne völkisch. Erst als 1922 die USPD zurückkam, wurde die Idee der Volksgemeinschaft wieder gestrichen. Die rechten Sozialdemokraten waren total an den Staat und den Gedanken der Nation angepasst.

    Wenn man einen Strich darunter zieht: Was ließe sich abschließend über die Revolution von 1918/19 sagen? Alles verweht, alles umsonst? Oder ist irgend etwas gedanklich oder praktisch Greifbares geblieben, an das eine Linke heute anschließen kann?

    Die Räte sind wichtig. Ein Überbleibsel gibt es ja noch, die Betriebsräte. Das Frauenwahlrecht. Die basisdemokratischen Bestrebungen auch jenseits der politischen Rätebewegung. Die sind völlig vergessen und verschüttet. Aber vielleicht kann man sie wieder ausgraben.

  • 21.09.2021 14:06 Uhr

    »Linke könnte diesen Zauber leicht beenden«

    Zuviel Parlament, zu wenig Straße? Über falsche Alternativen, neue Bewegungen und rechte Erfolge. Ein Gespräch mit Ulrich Maurer
    Jan Greve
    September 2018
    Raus aus den bequemen Büros: Politiker von Die Linke bei der Auftaktdemonstration der Kampagne »Bezahlbare Miete statt fetter Rendite« (September 2018)

    Sie waren viele Jahre Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, dann Mitglied der WASG und Bundestagsabgeordneter für Die Linke. Sie kennen den politischen Betrieb also relativ gut …

    Das kann man wohl sagen.

    Mit Blick auf ein vermutlich erneut politisch turbulentes Jahr: Ist Die Linke gut für die Herausforderungen gerüstet?

    Nein, das ist sie ohne Zweifel nicht. Sie muss Geschlossenheit und Aktionsfähigkeit zurückgewinnen.

    Was bedeutet, dass diese der Partei abhanden gekommen sind.

    Ja, das sehe ich so. Viele von uns sind sehr in der Routine des Parlamentsbetriebs versackt.

    In der Zeit, als die PDS sich 2005 in Linkspartei/PDS umbenannte, hat es starken Protest auf den Straßen gegeben, etwa gegen die Hartz-IV-Politik. Kann man Ihrer Partei vorwerfen, dass es die Bewegungen heute nicht in dieser Form gibt?

    Ich denke, dass wir es da mit einer Wechselwirkung zu tun haben. Nach dem Dahinsiechen der »Occupy«-Bewegung hat es sicher einige Frustrationen gegeben. Auf der anderen Seite hätten wir auch heute jede Menge Möglichkeiten für Aktionen, die schlicht zu wenig genutzt werden. Ich denke etwa an die Katastrophe auf dem Wohnungsmarkt.

    Im April 2018 hat es zum Beispiel in Berlin eine Großdemonstration gegen explodierende Mieten gegeben. Haben wir es hier mit einem Grundproblem zu tun, dass Die Linke bei Protest auf der Straße gegen ihre eigene Regierungspolitik opponieren müsste? Kann ein solcher Spagat zwischen Parlament und Straße überhaupt gelingen?

    Das ist Unfug, eine solche Alternative gibt es für eine linke Partei nicht. Ihre Parlamentsfraktionen müssen sich als Sprachrohr von politischen Bewegungen in der Gesellschaft verstehen. Von daher ist die Frage, ob Die Linke bei öffentlichen Protesten entscheidend beteiligt ist, eine wesentliche für ihre Zukunft.

    Am Sonnabend werden Sie bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz mit anderen über die Frage diskutieren, wie Klassenpolitik heute funktioniert. Sehen Sie derzeit eine politische Partei oder Organisation, die eine Antwort darauf hat?

    Wir stehen erst am Beginn dieser Debatte. Immerhin, sie hat mittlerweile angefangen. Die aktuellen Probleme lassen sich überall in Europa aufzeigen. Die »Gelbwesten« in Frankreich sind ein relativ unkoordinierter, anarchischer Ausdruck von Protest und geben damit ein typisches Bild von sich entwickelnden Bewegungen ab. In der Bundesrepublik haben wir nicht einmal diesen Punkt bislang erreicht. Hier sehe ich höchstens zarte Anfänge von Debatten. Ich finde zum Beispiel bemerkenswert, dass der Berliner Landesverband von Die Linke die Kampagne »Deutsche Wohnen enteignen« unterstützt. Daran lässt sich verdeutlichen, dass Bewegungen auf der Straße und in den Parlamenten auch zusammen agieren können. Nach vielen Jahren des Stillstandes ist hier aber noch einiges zu tun.

    Wie stehen Sie zu der These, dass die soziale Frage heute erfolgreich von rechten Kräften wie der AfD besetzt worden ist?

    Wenn Sie sich das Wohnungsprogramm der AfD anschauen, werden Sie feststellen, dass es an reaktionärer Ausrichtung kaum noch zu überbieten ist. Mit linken Positionen hat das nichts zu tun. Das Problem ist ein anderes: Zu viele Menschen sind orientierungslos und wählen diese Partei aus Protest, ohne das mit fundierten Kenntnissen über ihre politischen Inhalte zu verbinden. Wir haben es mit einer gewissen Denkzettel-Mentalität zu tun. Dazu kommen Rassismus und Nationalismus, die in der gesamten Gesellschaft verbreitetet sind. Eine Linke, die an der Spitze politischer Protestbewegungen stünde, könnte diesen Zauber leicht beenden.

    In diesen Tagen wird viel zurückgeschaut auf die Ereignisse vor 100 Jahren. Welche Lehre ziehen Sie aus den damaligen Kämpfen?

    Der Hass aufeinander hat den Linken vielmehr geschadet als jeder rechte Umtrieb. Gerade deswegen wäre es in diesen Tagen wichtig, würde die SPD ihre eigene Vergangenheit ehrlich aufarbeiten. Darauf kann man nur hoffen.

  • 21.09.2021 14:06 Uhr

    Hammer und Kompass

    Die Linke in Deutschland muss den »systematischen Tageskampf« wieder erlernen – ohne dabei ihre sozialistische Orientierung aufzugeben
    Lena Kreymann
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    Unter dem Motto »Riders united – Deliverunion« gelang es der Basisgewerkschaft FAU die Fahrradkuriere zu organisieren – Kundgebung gegen den Essenslieferdienst Deliveroo in Berlin (13.4.2018)

    Frieden sofort und auf Dauer, das war die Forderung der Revolutionäre vor 100 Jahren im November 1918. Vielen von ihnen war klar, dass die Voraussetzung dafür der Bruch mit dem Kapitalismus und der Übergang zum Sozialismus war. Es gelang ihnen, für kurze Zeit die Staats- und Militärmaschinerie eines der stärksten imperialistischen Länder der Welt zu lähmen, aber nicht, sie zu zerbrechen. Das wurde durch das Zusammenspiel von SPD- und Armeeführung verhindert. Unter dem Druck der Massen gestanden diese zwar die parlamentarische Republik, das Frauenwahlrecht, den Acht-Stundenarbeitstag und weitere Errungenschaften zu, auf die halbe Revolution folgte aber eine ganze Konterrevolution. Tausende Arbeiter und Soldaten wurden zu Beginn der Weimarer Republik ermordet, die schließlich in der faschistischen Diktatur, die den Zweiten Weltkrieg entfesselte, unterging.

    Dem ersten großen Völkermord waren fast 20 Jahre lang endlose Kolonialkriege um die Neuaufteilung der Welt vorausgegangen, dem zweiten der bewaffnete Aufmarsch gegen die Sowjetunion. Nach 1989 begann weltweit erneut eine Periode neokolonialer Feldzüge des Westens; die NATO setzte die Einkreisung Russlands und Chinas fort; von deutschem Boden geht seit 1990 fast ununterbrochen Krieg aus. Die Entfesselung des Kapitalismus sorgte auch in der Bundesrepublik für wachsende Armut auf der einen Seite und exorbitanten Reichtum auf der anderen. Worin besteht vor diesem Hintergrund Klassenpolitik von unten? Wie wird aus Wut endlich Widerstand?

    Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Wir stellen hier die Positionen zweier der geladenen Diskutantinnen vor. (jW)

    Dass es nichts bringt, sich in seiner Blase zu verkriechen, und man die Arbeiterklasse ansprechen muss, ist in der – im weiten Sinne klassenbewussten – Linken fast schon ein Gemeinplatz. Leider bleibt die Diskussion oft an diesem Punkt stehen. Dementsprechend ist eine veränderte Praxis kaum spürbar.

    Denn auch wenn jene, die eine Abwendung von Szenepolitik fordern, ein Problem richtig benennen, folgt daraus nicht unbedingt ein Lösungsvorschlag. Um dahin zu kommen, müssen erst einmal einige Fragen geklärt werden: Unter welchen Bedingungen kämpfen wir heute? Auf welche Kämpfe müssen wir uns daher fokussieren? Und wie müssen wir uns dafür organisieren?

    Die Arbeiterklasse in Deutschland durchlebt eine Kapitaloffensive ungeahnten Ausmaßes. Arbeits-, Lebens- und Lernbedingungen verschlechtern sich auf allen Ebenen – Stichworte sind die Zunahme von Leiharbeit und anderen »atypischen« Beschäftigungsformen, Tarifflucht, die Schließung kommunaler Einrichtungen wie Schwimmbäder, Gentrifizierung, Privatisierungen oder der Sanierungsstau an Schulen. Gleichzeitig gilt als selbstverständlich, was seinerzeit noch heftigen Protest ausgelöst hat. Hartz IV ist für heute 20jährige »normal«, sie sind damit aufgewachsen. In manchen Schulen lernt man gleich, wie der entsprechende Antrag ausgefüllt wird. Ebenso »normal« ist es, dass man nicht mehr 40 Jahre im gleichen Job verbringt. Kaum vorhanden ist ein Bewusstsein dafür, dass die gegenwärtigen Bedingungen nicht in Stein gemeißelt sind, dass man sich dagegen zusammenschließen kann und muss. Perspektivlosigkeit, Individualisierung und eine »Man kann ja eh nichts tun«-Mentalität sind weit verbreitet.

    Die Aggression des deutschen Imperialismus führt zu Rechtsruck und erhöhter Kriegsgefahr. In Dokumenten wie dem »Weißbuch der Bundeswehr« geben die Strategen des Kapitals dem Weltmachtstreben fast unverhohlen Ausdruck. Diesem dienen die Aufrüstungspläne, die mit Bündnisverpflichtungen gerechtfertigt werden. Dem aggressiveren Agieren nach außen entsprechen reaktionäre Maßnahmen im Inneren – die neuen Polizeigesetze sind nur ein Beispiel dafür.

    Teewasserkämpfe

    Was bedeutet das für den Klassenkampf in diesem Land? Die diesjährige Rosa-Luxemburg-Konferenz trägt den Titel »Sozialismus oder Barbarei« – den Gegensatz, den Marx und Engels schon im »Manifest« benennen. Im gleichnamigen Text setzt sich Rosa Luxemburg mit den Kämpfen ihrer Zeit auseinander und schreibt über die Schlussfolgerungen der kommunistischen Bewegung nach der Zerschlagung der Pariser Kommune: »Seitdem begann eine neue Phase. Statt der spontanen Revolutionen, Aufstände, Barrikadenkämpfe, nach denen das Proletariat jedesmal wieder in seinen passiven Zustand zurückfiel, begann der systematische Tageskampf, die Ausnützung des bürgerlichen Parlamentarismus, die Massenorganisation, die Vermählung des wirtschaftlichen mit dem politischen Kampfe und des sozialistischen Ideals mit der hartnäckigen Verteidigung der nächsten Tagesinteressen.« Im selben Text geht Luxemburg auf die Rolle der marxistischen Theorie ein sowie auf den Maßstab, an dem sich tagesaktuelle Auseinandersetzungen messen lassen müssen: »Die marxistische Erkenntnis gab der Arbeiterklasse der ganzen Welt einen Kompass in die Hand, um sich im Strudel der Tagesereignisse zurechtzufinden, um die Kampftaktik jeder Stunde nach dem unverrückbaren Endziel zu richten.«

    Den »systematischen Tageskampf« müssen wir heute wieder lernen. Gerade angesichts der Resignation und Vereinzelung müssen wir das Bewusstsein darüber stärken, dass man – als Klasse – etwas erkämpfen kann, wenn man sich zusammenschließt. Deshalb besteht eine wesentliche Aufgabe für uns darin, das zu initiieren, was Lenin »Teewasserkämpfe« genannt hat, kleine gewinnbare Kämpfe also. Zentrale Orte dafür sind die Betriebe und, für uns als Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, die Schulen. Dort sind die Menschen, die wir erreichen wollen, dort erfahren sie den Klassengegensatz und können für ihre Interessen eintreten.

    Gewinnbar bedeutet nicht, es sich zu leicht zu machen. Es heißt, Ziele zu wählen, von denen man überzeugend vermitteln kann, dass wir sie erreichen können und dass es sich lohnt, darum auch harte Auseinandersetzungen zu führen. Welche das sind, hängt davon ab, welche Probleme die Kollegen beschäftigen und mit welchen Themen man sie in Bewegung bringen kann. Ein Beispiel ist die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, die erst seit kurzem wieder Gehör in den Gewerkschaften findet und um die es in mehreren Bereichen – bei den Metallern, der Bahn oder in der Gesundheitsbranche – gesellschaftlich relevante Auseinandersetzungen gibt.

    Dabei gilt es, Missstände zu skandalisieren, Wut über bestehende Verhältnisse zu schüren und Mut in die eigene Kraft zu entwickeln. In unserer aktuellen Kampagne »Geld gibt’s genug – Zeit es uns zu holen« nutzen wir dafür verstärkt Kostengegenüberstellungen: Wir zeigen auf, wofür in dieser Gesellschaft Geld da ist, etwa für Militärausgaben und Steuergeschenke an Großkonzerne, während es bei uns fehlt. Das bietet auch die Möglichkeit aufzuzeigen, wem staatliches Handeln nützt und wessen Staat die Bundesrepublik letztlich ist.

    Das allein macht jedoch noch keine revolutionäre Praxis aus. Die muss sich schließlich am »unverrückbaren Endziel« messen – dem Sozialismus. Gerade angesichts der wirklich wenig ermutigenden Ausgangsbedingungen verliert man das jedoch leicht aus den Augen. Doch dann wird politisches Handeln beliebig, falsch und verliert sich in Reformkämpfen. Maßstab des Erfolgs ist also, ob es in den Tageskämpfen gelingt, Klassenbewusstsein zu schaffen.

    Das heißt auch aufzuzeigen, dass ein anderes Gesellschaftssystem möglich und notwendig ist. Dass in diesem Land so einiges schiefläuft, ist vielen bewusst. Resignation, Vereinzelung, aber auch rechte Positionen sind jedoch Ausdruck davon, dass die meisten keine Alternative vor Augen haben. Die Produktivkraftentwicklung macht den Sozialismus heute möglich. Kriegsgefahr und Rechtsruck machen es notwendiger denn je, ihn auch auf die Tagesordnung zu setzen. Das funktioniert aber nur dann, wenn wir nicht neben den politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen stehen, sondern an erster Stelle mit dabei sind.

    Wie schwierig es ist, die richtigen Tageslosungen mit dem Schaffen von Klassenbewusstsein zu verbinden, zeigt sich in der Geflüchtetenfrage. Der Umgang schwankt zwischen zwei Extremen: Die eine Seite ignoriert die berechtigte Perspektivangst der Menschen, erklärt Rassisten für dumm und stellt sich selbst über die Arbeiterklasse, die tagtäglich mit den Konsequenzen des Sozialabbaus konfrontiert ist. Die andere Seite lässt sich auf den Diskurs der herrschenden Klasse ein, wie man am besten den Zuzug steuert, also die Kapitalverwertung optimiert. Beides ist falsch, führt doch nichts davon zu gemeinsamen Kämpfen, in denen Rassismus als gegen die eigenen Interessen gerichtet erfahrbar gemacht wird.

    Ursache und Wirkung

    Ähnliches gilt für den Rechtsruck insgesamt. Die Analyse bleibt oft auf der Erscheinungsebene stehen, bei der AfD und den »Gesichtern« der Rechtsentwicklung. Dem entspricht ein falscher Umgang: Viele Linke greifen die AfD-Mitglieder von einem Standpunkt der Überlegenheit aus an. Der Zeigefinger richtet sich nicht auf die Großkonzerne, sondern gegen den vermeintlichen rassistischen »Bodensatz« in der Arbeiterklasse.

    Doch der Rechtsruck geht nicht von der AfD aus, die AfD ist vielmehr Ausdruck davon, mit welchen Maßnahmen das Kapital derzeit seine Interessen zu wahren versucht. Dass dieses hinter dem reaktionären Staatsumbau steckt, müssen wir vermitteln – wie es beispielsweise die Kostengegenüberstellungen im Ansatz ermöglichen. Dafür gilt es, die Menschen nicht nur für einmalige Aktionen gegen rechts zu mobilisieren, sondern in dauerhafte Auseinandersetzungen einzubinden. Das bedeutet auch, mit rassistischen Kollegen und Kolleginnen gemeinsam zu agieren, wenn diese im Betrieb bereit sind, Arbeitskämpfe zu führen. Es bedeutet, Rassismus nicht »von oben« mit der Konzernspitze zu bekämpfen, denn dann macht man gemeinsame Sache mit denen, die für unsere schlechten Lebensbedingungen verantwortlich sind. Wer das tut, braucht sich nicht zu wundern, wenn er oder sie nicht mehr ernst genommen wird. Das bedeutet aber nicht, bei rassistischen Kommentaren oder entsprechendem Verhalten die Klappe zu halten oder untätig zu bleiben.

    Was folgt daraus für die revolutionäre Organisation? Vor 100 Jahren wurde die KPD gegründet. Die Erkenntnis, dass es eine solche kommunistische Organisation braucht, war eine Konsequenz aus der Novemberrevolution und ihrer Niederschlagung durch das Kapital und seine sozialdemokratischen Handlanger. In ihrem Programm hielt die KPD fest: »Mit dem Ausgang des Weltkrieges hat die bürgerliche Klassenherrschaft ihr Daseinsrecht verwirkt. Sie ist nicht mehr imstande, die Gesellschaft aus dem furchtbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch herauszuführen, den die imperialistische Orgie hinterlassen hat.« Um an dieser Erkenntnis trotz der gerade erfahrenen Niederlage festzuhalten, bedarf es des Kompasses der marxistischen Theorie. Damit der aber richtig genordet ist, braucht es einen Zusammenschluss von Revolutionären, in dem Kampferfahrungen zusammengebracht und um die richtige Analyse gerungen wird.

    Luxemburg und Liebknecht stehen für die Erkenntnis, dass es einer Kommunistischen Partei bedarf. Was also fand Luxemburg an der neu gegründeten KPD so gut? Sie war »frei von den verblödeten Traditionen der ›alten bewährten‹ Partei«. Die altbewährte Partei nämlich war es gewesen, die mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten den Klassenstandpunkt endgültig über Bord geworfen hatte.

  • 21.09.2021 14:08 Uhr

    Neue Klassenpolitik

    Die politische Debatte und die realen Kämpfe von prekär Beschäftigten und Mietern gehören zusammen
    Nina Scholz

    Die Debatte um sie ist noch jung, und trotzdem ist die »Neue Klassenpolitik« schon ein stehender Begriff – ein Sammelbecken voller Hoffnungen, Romantizismen, Projektionen und Missverständnisse. Für die einen ist es ein Begriff voller Verheißungen: Klassenkämpfe, Stärke, Bündnisse, Geschichte und Zukunft, Streiks – und das Ende des Kapitalismus. Andere hören: weiße, männliche Arbeiter, Geschichtsklitterung, Hauptwiderspruch.

    Doch was ist der Kern dieser Debatte? Neu ist die Neue Klassenpolitik nur bedingt. Neu ist an ihr nur, dass alte Klassenpolitiken neu adaptiert, dass alte Praxen, verschüttetes Wissen geborgen werden mussten – und noch immer geborgen werden. Nicht dass dieses Wissen wirklich weg gewesen wäre, Linke haben es nur selten angewendet. Das Politische an der Klassenpolitik musste erst wiederentdeckt werden und wird jetzt mühsam in politische Praxen und in Alltagshandlungen integriert. Das fängt schon bei der Bündnisfähigkeit an: Mit wem kooperiert man? Wie wird mit Rassismen oder Sexismen der zu Organisierenden umgegangen? Wie werden Alltagshilfen mit langfristigen Strategien verknüpft? Wie kommt man raus aus der Kampagnenpolitik, und wie bindet man unorganisierte Nachbarinnen und Nachbarn oder Kolleginnen und Kollegen langfristig in politische Projekte ein? Auf dem Papier hört sich das alles leichter an, als es in mühsamen Gruppenprozessen gemeinsam bewältigt, geübt und praktiziert wird. In den Jahren vor der Renaissance des Klassenpolitik-Begriffs gab es mehrheitlich andere Strategien, andere Praxen, auch bei denen, die sich Kommunistinnen und Kommunisten nennen. Einzelne Events standen im Fokus, Hoffnungen waren oft an Spontanität von Massen, Riots, Mobs geknüpft. Die erhofften Erfolge blieben aus. Exemplarisch steht dafür Occupy Wall Street, das trotz seiner nur mäßigen langfristigen Erfolge zur Blaupause für die internationale Linke wurde. Solche »Events« kosten Kraft. Es kostet Kraft, sie zu organisieren, sie zu begleiten, sich danach davon zu erholen – und dann wieder von vorne zu beginnen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung von solchen Formaten trägt eben nicht langfristig: Es braucht sehr viel Arbeitskraft von zahlreichen Aktivistinnen und Aktivisten, so etwas vorzubereiten, mit Medienkampagnen zu begleiten, andere zu mobilisieren und gleichzeitig kurzfristig Strukturen aufzubauen und am Laufen zu halten – wenn dabei kaum neue tragfähige Organisierungen entstehen und die Aktiven danach oft auch noch ausfallen, weil sie ihr Burnout kurieren müssen, ist die Bilanz negativ.

    Mühsame Praxis

    Hinzu kommt: Die politische Praxis der vergangenen Jahrzehnte war oftmals nur noch ein Abwehrkampf, zum Beispiel gegen einen Kapitalismus, der sich aus Richtung Silicon Valley erneuerte. Die immer aggressiver werdende Sparpolitik befeuerte die soziale Abwärtsspirale. Die unter Rechtsruck subsumierte Faschisierung Europas und der USA gibt nun den Rahmen ab, so dass man sich den Luxus, ohne starke Bündnisse in Kämpfe zu gehen, die weitaus bedrohlicher werden können als vorhergegangene, nicht mehr leisten kann. Parallel dazu reifte die Erkenntnis, dass der alte Werkzeugkasten aus Blockieren, Kampagne, Outing, Skandalisieren nicht gegen die neuen Rechten hilft, dass man mit Parolen auf Stickern, Postings auf Facebook und Transparenten auf Demonstrationen nicht die umstimmt, die unzufrieden und verzweifelt sind, denen eine Linke aber schon lange keine Lösungen mehr für ihre existentiellen Ängste anzubieten hat. Sozialpolitik und kulturelle Verankerung außerhalb des eigenen Milieus – das hat es lange nicht mehr massenhaft gegeben. Langsam reifte also die Erkenntnis: Es gibt zwar gar nicht so wenige Linke, aber kaum welche, die sich politisch jenseits der eigenen Szenekreise betätigen. Viele setzten auch schlicht und einfach aufs falsche Pferd: Repräsentation, Teilhabe, Sichtbarkeit von Marginalisierten wurden höher bewertet als die Überwindung der Verhältnisse, die jene erst zu Marginalisierten gemacht haben. Das hat im vergangenen Jahr besonders anschaulich die amerikanische Aktivistin und Uni-Professorin Keeanga-Yamahtta Taylor in ihrem Buch »Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation« nachgewiesen: Sie zeigt anhand der Integration der Bürgerrechtsbewegung in den Staats- und Kulturbetrieb, wie sich eine schwarze Elite herausbildet, wie schwarze Menschen in den USA zwar immer sichtbarer werden, wie die Ungleichheiten aber insgesamt nicht abnehmen. Besonders gut kann man das an der Amtszeit von Barack Obama sehen, in der die soziale Bewegung »Black Lives Matter« gegründet wurde, zunächst um gegen die Morde an schwarzen, jungen Männern zu protestieren; sie wendet sich aber generell gegen den nach wie vorher strukturell sehr vitalen Rassismus.

    Bücher wie die von Taylor entkräften auch leicht das häufig gegen Neue Klassenpolitiken vorgebrachte Argument, hier würde der weiße heterosexuelle Mann (Arbeiter) als Bündnispartner bevorzugt – und fetischisiert. Es dürfte mittlerweile klargeworden sein, dass Neue Klassenpolitik nicht den Korporatismus der BRD meint, sondern die Arbeitskämpfe und solidarischen, kämpferischen Bündnisse, die es von Anbeginn der Industrialisierung über die Black Panther bis zu den aktuellen Fabrikbesetzungen Argentiniens gegeben hat. Die Beispiele für Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft sind zahlreich: Von den Community-Arbeiterinnen und -Arbeitern der Black Panther lässt sich lernen, dass auch radikale Politik das Leben der Menschen im Umfeld konkret verbessern sollte, und von den aktuellen Arbeitskämpfen, dass es vor allem Frauen und Migranten sind, die die ganz schlechten Jobs machen – wenn sie überhaupt welche haben.

    Die Perspektive wechseln

    Daran anschließend denkt ein beachtlicher Teil der schwer beweglichen Linken aktuell die eigene Praxis neu: Wo früher Szenekneipen waren, werden Kiezläden geöffnet. Wo früher misstrauisch geschaut wurde, wenn Fremde reinkamen, versuchen Genossinnen und Genossen, offen auf die Neuen zuzugehen. Wo früher erklärt wurde, wird jetzt das Zuhören geübt. Wo sich früher Gruppen nicht einmal gegrüßt haben, lernen sie jetzt mitunter auch mal voneinander. So gibt es mittlerweile beachtliche Bündnisse. Postautonome Gruppen etwa aus dem »Ums-Ganze«-Bündnis, die sich früher kaum mit Arbeitskämpfen beschäftigt haben, versuchen die Streiks der Amazon-Arbeiterinnen und -Arbeiter zu unterstützen. Die Basisgewerkschaft FAU erhält stetigen Zulauf, nicht nur bei ihrer »#Deliverunion-Kampagne«, in der sich die Essenskuriere der Gig Economy organisieren.

    In Stadtteil- und Mietkämpfen funktioniert der gemeinsame Kampf besonders gut, weil es dort tatsächlich noch ein stärkeres Beisammensein gibt – anders als an den Arbeitsplätzen. Die Vernetzung der Deutsche-Wohnen-Mieterinnen und -Mieter ist in Berlin zu einem breiten und heterogenen Bündnis gewachsen – und demnächst soll mit der »Deutsche Wohnen & Co enteignen«-Kampagne in einem Volksentscheid die Eigentumsfrage gestellt werden. 2019 soll es einen Frauenstreik geben. Hier wird ein kämpferischer Feminismus wiederentdeckt, der geraume Zeit verschütt gegangen war und neben dem Repräsentationspolitiken des liberalen Feminismus nur eine Nebenrolle spielten. Gleichzeitig werden hier auch Streikformen jenseits des klassischen Fabrikstreiks erdacht, also Mischformen aus Arbeits- und Reproduktionsstreiks, Boykotten und Blockaden, die auch für andere Kämpfe der Prekären und Vereinzelten relevant sein werden, denn Lohnarbeit findet heute nur noch selten am gemeinsamen Arbeitsplatz statt – und auch dort sind die wenigsten heute festangestellt.

    Das sind nur ein paar Beispiele von all dem, was aktuell parallel passiert. Sie illustrieren nicht nur, dass hier keine Hauptwiderspruchsfetischisten am Werk sind, sie zeigen auch das aktuelle Manko der Neue-Klassenpolitik-Debatte auf. Während sich Autorinnen und Autoren die immergleichen Argumente um die Ohren hauen, passiert andernorts das, was man sich von so einer Debatte oftmals nur erträumen kann: Erkenntnisse werden in Praxis umgewandelt. Die Debatte hinkt derweil hinterher und setzt sich kaum mit den Erkenntnissen dieser Praxen auseinander. Das liegt auch daran, dass viele der Kämpfenden weniger auf große Demonstrationen, auf Transparente, auf Öffentlichkeitsarbeit, auf Bilanzierungen und Blogtexte fokussieren. Sie verwenden ihre Energie darauf, Strukturen aufzubauen, sich gegenseitig kennenzulernen, Bündnisse einzugehen, Räume zu öffnen, Widersprüche auszuhalten. Das kostet Kraft und Zeit. Zeit, die dann fehlt, ihre Erfahrungen für das linke Feuilleton aufzubereiten.

    Die Debatte kann nur vital bleiben, wenn von den Debattierenden danach gefragt wird, was funktioniert und was nicht. Welche Strategien sind wo nützlich? Welche nicht? Warum also nicht mal bei den Kämpfenden vorbeigehen, statt den nächsten Meinungstext zu schreiben, und einfach mal nachfragen, wie es bei ihnen läuft? Was halten Amazon-Arbeiterinnen und -Arbeiter von Linksradikalen, die auftauchen? Und umgekehrt? Wie fanden und finden Fahrradkuriere zusammen? Dazu wäre auch eine Offenheit der Kämpfenden notwendig: Sie müssten reflektieren und klarmachen, was sie gelernt haben, im Positiven wie im Negativen. Linke führen ihre Politgruppen heute aber fast wie kapitalistische Unternehmen: Jede noch so kleine Aktion verkaufen sie als Erfolg, über Misserfolge schweigen sie lieber, um nicht als schwach zu gelten. Doch nur wenn diejenigen, die gerade daran arbeiten, die Neue Klassenpolitik umzusetzen, ehrlich miteinander sind, können Strategien weiterentwickelt und kann endlich die wichtigste Frage gestellt und vielleicht auch beantwortet werden: Wie kommen wir aus der Vereinzelung der zahlreichen klassenpolitischen Kämpfe zu einer robusten, kämpferischen Organisation, die der Faschisierung und dem sich immer räuberischer entwickelnden Kapitalismus tatsächlich schlagkräftig entgegentritt?

  • 21.09.2021 14:08 Uhr

    »Eine der schönsten Formen politischer Arbeit«

    »Rote Peperoni« gestalten Kinderprogramm auf diesjähriger Rosa-Luxemburg-Konferenz. Ein Gespräch mit Cedric Sommer
    Jan Greve
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    Sommerferienlager der Roten Peperoni aus der Vogelperspektive

    Am 12. Januar findet die Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin statt. Dort wird mit verschiedenen, auch internationalen Gästen über politische und soziale Herausforderungen debattiert. Ist der Termin auch für Kinder interessant?

    Die Vorträge und Diskussionen richten sich sicherlich an Jugendliche und Erwachsene, allerdings organisieren wir als Rote Peperoni für Kinder ein paralleles Programm. Es wird verschiedene Spiele geben, ebenso wie Möglichkeiten zum Basteln.

    Die »Roten Peperoni« bezeichnen sich als »sozialistische Kinderorganisation«. Was kann man sich darunter vorstellen?

    Wir sind eine Organisation für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Unser politischer Anspruch findet sich in der Bezeichnung sozialistisch wieder: Wir sind mit der Welt so, wie sie ist, nicht zufrieden. Gleichzeitig wissen wir, dass sich von alleine nichts ändern wird. Deswegen wollen wir etwas tun, und zwar gemeinsam mit Kindern.

    Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz sind?

    Zum einen veranstalten wir Freizeiten, wie etwa unser zweiwöchiges Sommerferienlager. Es gibt auch ein Pfingstcamp und Herbstfreizeiten. Dabei geht es einerseits natürlich darum, Spaß zu haben und eine schöne Zeit zu verbringen. Andererseits beschäftigen wir uns auch mit unserem jeweiligen Jahresthema. 2018 lautete dies »Bunt statt braun«, in diesem Jahr: »Wir haben nur diese eine Welt«. Wir werden uns also mit Fragen der Nachhaltigkeit und der Umweltzerstörung beschäftigen.

    Zum anderen veranstalten wir Kindergruppennachmittage. Am regelmäßigsten finden die in Stuttgart statt – wir haben einen Schwerpunkt in Baden-Württemberg. Seit einigen Jahren gibt es aber auch einen sehr aktiven Kreis im Saarland. Das Alter der teilnehmenden Kinder ist unterschiedlich. Bei den Ferienlagern liegt es zwischen neun und 14 Jahren, bei den Pfingstcamps oder den Gruppennachmittagen sind auch Kinder ab sechs Jahren dabei.

    Ist die politische Arbeit mit Kindern anstrengend?

    Nein, das ist sie aus meiner Sicht überhaupt nicht. Vielmehr ist es eine der schönsten Formen politischer Arbeit. Kinder nehmen unsere Angebote in dem Sinne aber auch gar nicht als politisch wahr. Für sie geht es vielmehr darum, den Zustand der Welt, in der sie leben, zu hinterfragen. Und es geht darum, zu überlegen, in was für einer Welt man selber leben möchte und wie man sich einmischen kann.

    Die Roten Peperoni formulieren das Ziel einer »kinderfreundlichen Welt«, in der es weder Krieg noch Rassismus gibt. Muss man Kindern solidarisches Verhalten beibringen?

    Das klingt nach der Frage, wie Kinder von Natur aus sind. Das kann ich nicht beantworten. Meinem Eindruck nach ist aber beispielsweise Rassismus etwas, was sich Kinder von anderen abschauen. Von sich aus machen sie keine Unterschiede, wie sie zum Beispiel Erwachsene aufgrund von äußeren Merkmalen sehen. Klar ist natürlich, dass auch sie in unserer kapitalistischen Welt leben und von Konkurrenzsituationen geprägt werden. Dem möchten wir ein solidarisches Miteinander entgegensetzen.

    Welche Stellung haben die Roten Peperoni im Vergleich zu anderen Freizeitangeboten für Kinder?

    In meiner Wahrnehmung sind wir mit unserem explizit politischen Anspruch einzigartig. Bei der Jugendarbeit sieht es da sicherlich anders aus. Es ist sehr wichtig, mit politischer Arbeit nicht erst ab einem gewissen Alter zu beginnen und Kinder damit davon abzutrennen. Auch sie haben ein Bewusstsein für gesellschaftliche Fragen.

    Worauf können sich Interessierte in diesem Jahr freuen, neben Ihrem Programm bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz?

    Es wird nicht so viele Highlights geben wie im vergangenen Jubiläumsjahr, in dem unsere Organisation ihr 25jähriges Bestehen gefeiert hat. Das Ferienlager vom 27. Juli bis 10. August ist aber definitiv etwas, auf das man sich schon jetzt freuen kann.

  • 21.09.2021 14:08 Uhr

    »Die Kapitalisten sind zu weit gegangen«

    In der Euro-Zone stehen die Zeichen auf Rezession. Ein Gespräch mit Vladimiro Giacché
    Simon Zeise
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    Protest während der Vertrauensabstimmung über den Haushalt im italienischen Parlament (Rom, 29.12.2018)

    Was sind die Ursachen der Euro-Krise?

    Die Probleme, die in der Krise 2009/10 und in den folgenden Jahren zum Vorschein kamen, sind nicht gelöst worden. Das heißt, es gibt eine tiefe Spaltung zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Ungleichheit ist noch größer geworden. Ich glaube, dass die neoliberale EU an ihre Grenzen stößt. Der Wettbewerb zwischen den Staaten beruht auf einem Wettrennen der Löhne und der Unternehmensbesteuerung nach unten. So steht es in den EU-Verträgen. Das Ergebnis sehen wir heute: Es gibt ein tiefes Unbehagen nicht nur im Süden, sondern auch in Frankreich und Deutschland. Wenn wir betrachten, was in den vergangenen zehn Jahren passiert ist, sehen wir, dass die gesamte Europäische Union mehr oder weniger in ein großes Deutschland transformiert worden ist. Ein großer Wirtschaftsraum wurde auf Merkantilismus ausgerichtet. Dessen Kern ist Lohndeflation.

    Sie leben in Italien. Die dortige Regierung hat sich ein langes Scharmützel mit der EU-Kommission um die Ausweitung des Haushaltsdefizits geliefert. Wie bewerten Sie die Einigung?

    Die italienische Regierung hatte zunächst die Neuverschuldung des Haushalts auf 2,4 Prozent des BIP angesetzt. Rausgekommen sind 2,04 Prozent. Für eine expansive Wirtschaftspolitik wären fünf Prozent notwendig. EU-Wirtschaftskommissar Pierre Mos­covici sagte: Die Maßnahmen sind nicht optimal, aber immerhin ist das Defizit reduziert worden. Es werde keine Sanktionen gegen Italien geben. Leider werde das Wachstum in Italien aber dadurch niedriger ausfallen. Das ist paradox. Natürlich ist das Wachstum niedriger, weil die expansive Wirtschaftspolitik gestoppt wurde – von der EU.

    Die italienische Verfassung steht im direkten Widerspruch zu den EU-Verträgen. Sie sieht den Kampf gegen Arbeitslosigkeit vor. Die EU-Verträge stellen hingegen die Preisstabilität an die erste Stelle. Es handelt sich hierbei nicht um verschiedene, sondern um sich widersprechende Werte. Das ist sehr wichtig zu betonen. Um Preisstabilität, also geringe Inflation, zu gewährleisten, bedarf es hoher Arbeitslosigkeit und niedriger Löhne.

    Wann wird die nächste Krise in der Euro-Zone offen ausbrechen?

    Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass 2019/20 eine Rezession einsetzt. Das hängt davon ab, wie sich die inneren Widersprüche der EU entwickeln. Es hängt auch davon ab, wie schnell im Fall einer Krise alle gegenwärtigen Regeln in der EU gebrochen werden können. Wenn die Kapitalvorschriften, wie sie etwa in der sogenannten Bankenunion gelten, beibehalten werden, wird die Krise schlimmer ausfallen und schwieriger zu behandeln sein. 2009 wurden die Regeln, die Staatshilfen untersagen, über Nacht stillschweigend außer Kraft gesetzt. Das hat die enorme Sozialisierung der Verluste aus dem Bankenwesen ermöglicht. Man hätte unter den bestehenden Regeln nicht 259 Milliarden Euro für die Banken ausgeben können. In der EU wurde versucht, die Regeln auf europäischer Ebene zu harmonisieren, wie man zu sagen pflegt. Für die großen Konzerne war das zweifellos ein Vorteil. Aber ich glaube, die Kapitalisten sind zu weit gegangen.

  • 21.09.2021 14:08 Uhr

    Den Sozialismus organisieren

    Vladimiro Giacché bietet einen Überblick über das wirtschaftspolitische Programm Lenins
    Simon Zeise
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    Bedingungen für die sozialistische Gesellschaft schaffen: Lenin hat es vorgemacht (St. Petersburg, 2.9.2018)

    Wie sollen wir den Sozialismus aufbauen? Der italienische Philosoph und Ökonom Vladimiro Giacché widmet sich in seinem Buch »Lenins ökonomisches Denken nach der Oktoberrevolution« dieser Frage. Auf nicht einmal 150 Seiten hat er die Herausforderungen dargestellt, vor denen die Bolschewiki nach der Machtergreifung standen.

    Nach der großen sozialistischen Oktoberrevolution 1917 formulierte Lenin die wesentlichen Ziele: »Unterdrückung des Geldes, Unterdrückung des Kapitals, Unterdrückung der Ausbeutung«.

    Doch die Unterstellung aller Banken – der »Nervenknoten des gesamten kapitalistischen Systems der Volkswirtschaft« – in eine Staatsbank rüttelte noch nicht an den Eigentumsverhältnissen. Der Arbeiterstaat sollte zunächst in die Lage versetzt werden, nachvollziehen zu können, wohin die Abermilliarden Rubel im Land flossen. Nur so konnte der Spekulation ein Riegel vorgeschoben und damit sichergestellt werden, dass das Geld dem Wirtschaftskreislauf zugute kam. Lenins Absicht war es, schreibt Giacché, die Industrie unter kapitalistischen Verhältnissen laufen zu lassen, aber Schritt für Schritt unter die Kontrolle der Arbeiter zu bringen. Sie sollte mittels der durch die Bank ausgeübten staatlichen Kontrolle von oben unterworfen werden.

    Doch wer entscheidet, was in einer Gesellschaft hergestellt wird und wieviel Arbeitskraft die Arbeiter dafür zur Verfügung stellen müssen? Für Lenin war die Antwort klar: Die Großproduktion musste zentralisiert werden. Forderungen etwa der Schiffahrtsgewerkschaft, die Planung der Produktion den in den jeweiligen Branchen tätigen Arbeitern zu überlassen, erteilte er eine klare Absage: »Aufgabe des Sozialismus ist es, alle Produktionsmittel in das Eigentum des gesamten Volkes zu überführen, jedoch keineswegs, die Schiffe den Schiffsarbeitern, die Banken den Bankangestellten zu übereignen«, erklärte Lenin.

    Die Stärke des Buches ist es, dass Giacché die Diskussionen über die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik unter den Bolschewiki nachzeichnet. Lenin wandte sich gegen die »Jammerrevolutionäre« der von Nikolai Bucharin angeführten Parteiopposition der »linken Kommunisten«, die eine kollektive Leitung der Betriebe forderten. Für Lenin hatte das »Kollegialitätsprinzip bestenfalls eine ungeheure Verschwendung der Produktivität zufolge«. Die kapitalistische Produktionsweise musste auf die nächste Entwicklungsstufe gehoben werden. Die ausgefeilteste Technik, die Fließbandproduktion des »Taylorismus«, sollte von der »Indienstnahme für die kapitalistische Ausbeutung befreit werden«. Statt dessen setze der Produktivitätszuwachs durch die rationalisierte Produktionsweise Arbeitskraftpotentiale frei. Die Arbeitstage konnten verkürzt werden und die Arbeiter dadurch ihre Fähigkeiten entfalten.

    Den Gewerkschaften kam eine neue Rolle zu. Sie sollten die Arbeiter lehren, »den Staat zu regieren und die Industrie zu leiten, dass wir die praktische Arbeit entfalten und jenes in Jahrzehnten und Jahrhunderten in den Arbeitermassen eingewurzelte schädliche Vorurteil vernichten können, wonach das Regieren des Staates Sache der Privilegierten sei, wonach das eine besondere Kunst sei«.

    Viele Genossen brachte Lenin gegen sich auf, als er die Neue Ökonomische Politik verkündete. Lenins Plan sah vor, ausländischen Kapitalisten zu erlauben, auf Ressourcen zuzugreifen, gegen die Entrichtung eines Gewinnanteils an die Sowjetunion.

    Mit den verhassten Kapitalisten paktieren? Wie Molotow berichtete, waren die Genossen »desillusioniert, warfen ihre Parteibücher hin und ergaben sich dem Suff«. Doch die im Kampf gegen die Invasion der Imperialisten notwendig gewordene Warenkonfiskation und -zuteilung, die Lenin als »Kriegskommunismus« bezeichnete, drohte das Land schwer zurückzuwerfen.

    Die Produktion konnte durch frisches Kapital auf stärkere Füße gestellt werden. Und endlich konnten sich die Bolschewiki den drei Hauptfeinden zuwenden. Doch wieder preschten Bucharin und Co. vor: Es sei an der Zeit, das Geld abzuschaffen. Durch den Druck von unverhältnismäßigen Mengen Papiergeld sollte sich die Gesellschaft des schnöden Mammons entledigen. Bucharin dachte, durch den »Prozess der Vernichtung des Warensystems als solchem« finde eine »›Selbstverneinung‹ des Geldes« statt, die sich unter anderem »in der sogenannten ›Geldentwertung‹« ausdrücke. Lenin entgegnete, um das Geld abzuschaffen, sei es nötig, »die Organisation der Verteilung der Produkte für Hunderte Millionen Menschen in Gang zu bringen – eine Sache vieler Jahre. Weder der Warenaustausch noch das Geld könnten per Dekret abgeschafft werden. Beides gehe nur unter Voraussetzung einer den vorangegangenen Gesellschaftsformationen überlegenen Arbeitsorganisation – des Sozialismus. Wer Giacchés Buch gelesen hat, wird dieses Ziel schneller erreichen.

  • 21.09.2021 14:09 Uhr

    Kleine Zeichen, große Wirkung

    Konferenz mit neuem Besucherrekord
    Dietmar Koschmieder
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    Großzügige Schenkung: 50 dieser äußerst raren Abzeichen aus der Arbeiterbewegung werden nun Bestandteil der jW-Kunstsammlung

    Der direkte Ticketvorverkauf über den Postweg für die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz am kommenden Wochenende ist abgeschlossen, 2.000 Plätze sind bereits besetzt: Ein neuer Besucherrekord zeichnet sich ab. Wer sich jetzt noch Einlass zur größten regelmäßig stattfindenden Konferenz der Linken (so der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel über die Veranstaltung) sichern will, dem empfehlen wir die Möglichkeit der Kartenreservierung: Das geht über das Onlineformular unter rosa-luxemburg-konferenz.de oder per Telefon (0 30/53 63 55 54). Bei reservierten Tickets aber bitte unbedingt beachten, dass diese am Konferenzsamstag bis spätestens 10.30 Uhr abzuholen sind. Nicht abgeholte Karten gehen in den freien Verkauf, an den Tageskassen muss mit Wartezeiten gerechnet werden.

    Reserviermöglichkeit nutzen

    Ansonsten laufen die Vorbereitungen für den Neujahrsauftakt der linken Kräfte auf Hochtouren. Mumia Abu-Jamals Grußansprache ist mittlerweile als Tondatei eingetroffen und wird gerade übersetzt. Hier gab es Schwierigkeiten, weil die Gefängnisleitung die Kommunikationsorganisation verändert hat. Höher als in den vergangenen Jahren wird die Zahl der Besucher aus dem Ausland sein. Zum einen spricht es sich herum, dass alle Beiträge der Konferenz simultan in vier Sprachen nachvollziehbar sind (Englisch, Spanisch, Deutsch, Türkisch), zum anderen spielt der historische Hintergrund eine Rolle: In diesen Tagen jährt sich die Gründung der KPD und die Ermordung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und anderen zum 100. Mal. Konferenz wie auch die Kundgebung am darauffolgenden Tag werden eindrücklich belegen, dass sich weiterhin viele Menschen für dauerhaften Frieden und soziale Gerechtigkeit und damit für eine Welt ohne Kapitalismus einsetzen.

    Konferenz zu Hause verfolgen

    Wer es nicht schafft, dieses wichtige Wochenende in Berlin mitzuerleben, kann die XXIV. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz trotzdem live mitverfolgen: Zum einen wird die Redaktion der jungen Welt über einen Spezial-Blog kontinuierlich auf ­jungewelt.de/rlk2019­ berichten, zum anderen werden die Beiträge auf der Hauptbühne per Live­stream direkt übertragen. Schon jetzt kann man im Blog zur Vorbereitung sämtliche bisher in der jungen Welt erschienenen Texte zur Konferenz nachlesen. Nach der Veranstaltung stehen nicht nur die Berichterstattung der jungen Welt und eine Konferenzbroschüre zur Verfügung, es werden die einzelnen Beiträge auch als Filmmitschnitte zugänglich sein.

    In revolutionärer Tradition

    Die Tageszeitung junge Welt steht seit ihrer Gründung in der Tradition der Revolutionäre um Karl und Rosa. Das zeigt auch eine kleine Geschichte, die sich diese Woche zugetragen hat: Unser Leser und Genossenschafter Fritz Wengler war früher nicht nur stellvertretender Chefredakteur der Berliner Zeitung, sondern davor auch in dieser Funktion bei der Jungen Welt tätig. Uns war bekannt, dass Fritz neben anderen Verdiensten eine wichtige Rolle bei der Herausgabe der Junge-Welt-Grafiken spielte. Dass er aber auch an einem »sensationellen Fund historischer Abzeichen« (wie die JW am 25. März 1967 titelte) beteiligt war, wussten wir bisher nicht. In dieser Woche hat uns nun Fritz Wengler ein schönes Geschenk gemacht: eine Sammlung von mehr als 50 dieser äußerst raren Abzeichen aus der Arbeiterbewegung, deren Grundform um 1910 hergestellt und dann je nach politischem Anlass aktualisiert wurden (zum Beispiel mit Fotos von Lassalle, Lenin, Liebknecht und Luxemburg oder mit der Forderung nach dem Achtstundentag) und anderem Material (darunter historische Postkarten). Sie werden nun Bestandteil der jW-Kunstsammlung – für die Fritz Wengler schon viele Grafiken zur Verfügung stellte. Vielen Dank, Genosse Fritz!

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