Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Dritter Griff zur Macht

Vorabdruck. EWG/EG/EWS – Deutschlands Mitteleuropakonzept im neuen Gewand
Von Werner Biermann und Arno Klönne
Gleichstellung (v. r. n. l.: Konrad Adenauer, GB-Außenminister Anthony Eden und sein US-Amtskollege John Foster Dulles, Frankreichs Premier Pierre Mendes-France, Paris 20.10.1954)

Am Samstag findet in Berlin die XIV. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz unter dem Motto »Internationalismus und Gegenmacht heute« statt. Die Podiumsdiskussion der Konferenz beschäftigt sich mit der Rolle der Europäischen Union, in der 2009 ein neues Parlament gewählt wird. Im Kölner PapyRossa Verlag erscheint Ende Januar ein Buch der beiden Soziologen Werner Biermann und Arno Klönne, die Deutschlands Weltmachtambitionen seit 1871 untersuchen. jW veröffentlicht daraus eine um Tabellen und Fußnoten gekürzte Textpassage zur Strategie der westdeutschen Wirtschafts- und Politikelite für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die westeuropäischen Länder ökonomisch und politisch geschwächt. »Mit Schrecken wurde man sich des (relativen) Rückgangs des europäischen Anteils an der Weltproduktion bewußt, besonders des Zurückbleibens Europas gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika«, so der spätere erste Kommissar der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Walter Hallstein. Die USA waren als die mit großem Abstand führende kapitalistische Macht aus dem Weltkrieg hervorgegangen; der Fortgang der US-amerikanischen Hochkonjunktur machte eine Rekonstruktion des Weltmarktes erforderlich, was auch die wirtschaftliche Stärkung Westeuropas als Verwertungsraum von US-Kapital einschloß. Aber dies konnte nur gelingen, wenn die alte Wirtschaftsmacht Deutschland entsprechend berücksichtigt würde.

Aus US-amerikanischer Sicht war ein ungehinderter Zugang zu den westeuropäischen Märkten anzustreben, was angesichts der Überlegenheit des US-Kapitals gegenüber seiner europäischen Konkurrenz zu einer raschen Markteroberung geführt hätte. Hiergegen sperrten sich vor allem Frankreich und Großbritannien, deren Wirtschaftseliten befürchteten, daß ihnen bei einer globalen Neuordnung der kapitalistischen Weltwirtschaft lukrative Kolonialmärkte entrissen würden. Andererseits war aber sicher, daß die Rückkehr zur Autarkiepolitik der 30er Jahre, also eine nationale Abschließung vom Weltmarkt, keine Lösung barg. Bei der damaligen Lage bot sich eine westeuropäische Integration als realistischer Kompromiß an: Die Märkte Westeuropas könnten erhalten bleiben, gleichzeitig eine Abschirmung gegenüber der übermächtigen US-Konkurrenz erfolgen.

Für die westeuropäische Integration war die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Frankreich und der Bundesrepublik entscheidend. Die französische Politik nach 1945 war darauf ausgerichtet, Deutschland als den Hauptkonkurrenten auf dem Kontinent niederzuhalten. Dazu sollte die relativ einflußreiche Position Frankreichs genutzt werden. Andererseits war Frankreich wirtschaftlich schwach. Könnte die im Erstarken begriffene Bundesrepublik in die westeuropäische Vereinigung einbezogen und die Bonner Regierung zur Aufgabe eines Teils der nationalen Souveränität bewegt werden, würde Paris hieraus auch ökonomischen Nutzen ziehen.

Die Bundesrepublik erhoffte von einer Beteiligung an den westeuropäischen Einigungsbestrebungen, sich verlorengegangenes ökonomisches und politisches Terrain wieder erschließen zu können. Erschwerend hierbei war allerdings die Furcht anderer europäischer Länder vor einem neuerlichen deutschen Großmachtstreben. Kanzler Adenauer umriß seine Politik daher wie folgt: »Das Sicherheitsverlangen gegenüber Deutschland bei allen seinen Kriegsgegnern war außerordentlich stark. [Es galt,] einen Weg zu finden, der sowohl dem Sicherheitsbedürfnis der europäischen Länder Rechnung trug, wie auch den Wiederaufbau Westeuropas einschließlich Deutschlands durchzuführen gestattete. Über diesen Weg würden wir auch, darüber war ich mir klar, Schritt für Schritt unsere Gleichberechtigung unter den freien Völkern der Welt zurückerlangen.« Gleichberechtigung bedeutete: der ausländischen Kontrolle über die Ruhrindustrie und auch Abkehr von Sozialisierungsabsichten, Aufhebung der Demontagen, Revision des Besatzungsstatutes und Lösung der »Saarfrage« im westdeutschen Interesse.

Das Streben nach Gleichberechtigung war ein Instrument der inneren Rekonstruktion und Restauration, gleichzeitig aber auch ein Mittel, eine einflußreiche Stellung in Westeuropa zu erlangen. Förderlich war dabei die Remilitarisierung Westdeutschlands. Dem entgegenstehende Bedenken bei anderen europäischen Ländern wurden aufgewogen durch die Aussicht auf Entlastung beim eigenen Rüstungsaufwand, zumal die Kolonialkriege Frankreichs und Großbritanniens enorm kostenintensiv waren und die jeweiligen Staatshaushalte überstrapazierten, so daß zusätzliche militärische Engagements im Rahmen der ­NATO kaum finanzierbar waren. Mit einer neuen westdeutschen Rüstung konnte die vermeintliche Sicherheitslücke gegenüber der unterstellten sowjetischen Aggression geschlossen werden, und an der militant antisowjetischen Haltung der Bundesregierung gab es keinen Zweifel.

Der Adenauerschen Politik lag offenbar die Hypothese zugrunde, daß Westdeutschland innerhalb eines geeinten Europa recht bald die uneingeschränkte Gleichberechtigung bekommen und in wirtschaftlicher Hinsicht die führende Rolle einnehmen würde, selbst dann, wenn der Grundriß des neuen Westeuropa von französischen Architekten entworfen wurde.

Deutsche Kapitalinteressen in EWG

Die EWG war anfänglich eine Zollunion, die auf einem gemeinsamen Außenzoll basierte und eine schrittweise Abschaffung aller inneren Handelshemmnisse vorsah nebst Freizügigkeit beim Kapitalverkehr. Dies war eine klare Absage an das von den Vereinigten Staaten propagierte und in groben Zügen verwirklichte Konzept eines liberalisierten Weltmarktes: Mit der EWG wurden US-amerikanische Warenexporte behindert, und die Steuerung des Weltmarktes durch den US-Dollar war in Frage gestellt. Denn der EWG-interne freie Kapitalverkehr setzte Standards des Internationalen Währungsfonds außer Kraft, die vorsahen, daß ein Land mit Zahlungsproblemen diese über den Fonds lösen müsse. Es ist unschwer erkennbar, daß die politischen Absichten Frankreichs und Westdeutschlands hierbei zu Buche schlugen. Paris konnte so seine Großmachtambitionen wahren, während Bonn auf seinem Weg zur Selbständigkeit, also der Lockerung der Abhängigkeit von den USA, ein gutes Stück vorankam.

Jedoch veränderte sich in den Jahren nach 1958 das ökonomisch-politische Kräfteverhältnis innerhalb der EWG in einem Maße, daß französischen Plänen, mittels einer stärker supranationalen Integration Einfluß auf die Bundesrepublik zu gewinnen, der Boden entzogen war. Das fand zeitweise eine Reaktion in der Politik des französischen Präsidenten de Gaulle, der Mitte der 60er Jahre unter dem Schlagwort »Europa vom Atlantik zum Ural« eine bilaterale Annäherung an die Sowjetunion anstrebte, offenbar mit der Absicht, durch eine Wiederauflage der Bündnispolitik früherer Zeiten die Bundesrepublik in die Schranken zu verweisen.

In den langen Boomjahren entwickelte sich die EWG zu einem großen wirtschaftlichen Machtfaktor. Bei ihrer Gründung im März 1957 betrug der Anteil der sechs Mitgliedsländer1 an der Weltausfuhr 16 Prozent, Mitte der 70er Jahre schon knapp 20 Prozent. Gleichzeitig war der Anteil der Vereinigten Staaten von 22 auf 17 Prozent geschrumpft. Die Weltausfuhr verzeichnete in diesem Zeitraum einen durchschnittlichen Zuwachs von knapp zehn Prozent pro Jahr, was die Exportoffensive der EWG deutlich macht.

Der Aufstieg der Gemeinschaft zum führenden Handelsblock der kapitalistischen Welt beruht auf bedeutenden Verschiebungen in der inneren Struktur des Handels der Mitgliedsländer: Im Jahr 1958 entfielen 30 Prozent der EWG-Exporte auf den Handel innerhalb der Gemeinschaft; Mitte der 70er Jahre waren es bereits 50 Prozent. Bei den Importen gab es eine ähnliche Entwicklung, nämlich von 30 auf 52 Prozent. Treibende Kraft hierbei war die Bundesrepublik, die ihren Anteil an der Weltausfuhr bis auf 13 Prozent steigerte und mit der führenden Exportnation USA gleichzog.

Deutlich wird, daß durch die Errichtung der Zollunion und durch den Abbau der Zölle eine beträchtliche Zunahme des westeuropäischen Binnenhandels erfolgte; fast die Hälfte des Außenhandels der Mitgliedsstaaten fand innerhalb des EWG-Wirtschaftsraumes statt, was auf eine wachsende gegenseitige Abhängigkeit und Arbeitsteilung hinweist. Im Falle der Bundesrepublik zeigte sich allerdings, daß die EWG als Absatzmarkt nicht die Bedeutung hatte, wie dies auf die französische Wirtschaft zutrifft. Es zeichnete sich ab, daß die Bundesrepublik die wachsende innere Verflechtung des Warenaustausches als Basis für den Ausbau ihrer Position auf dem kapitalistischen Weltmarkt ausnutzen konnte. Bei der Exportstruktur der übrigen EWG-Staaten ist auffällig, daß der Binnenmarkt fast die Hälfte der Ausfuhren absorbierte. Das bedeutet, daß sie in starkem Maße von der EWG abhängig waren und damit von deren ökonomischem Gravita­tionszentrum, der Bundesrepublik. Außerdem verzeichneten sie im Gegensatz zu Westdeutschland Defizite beim Handel mit Drittländern. Sie waren also auf den EWG-Markt angewiesen.

Bei technisch hochentwickelten Industriegütern waren die westdeutschen Exporte außerhalb der EWG-Zone besonders hoch, bei Metallbearbeitungsmaschinen sogar 75 Prozent, bei Maschinen und Apparaten 68, bei Kraftfahrzeugen 65 und Büromaschinen 63 Prozent. Auch bei wichtigen Erzeugnissen der chemischen Industrie wurden überdurchschnittliche Anteile im Handel außerhalb der EWG erzielt. Dies läßt den Schluß zu, daß die Bundesrepublik insbesondere in den technologisch und wissenschaftlich hochentwickelten modernen Wachstumsindustrien ihre Führungsposi­tion stetig ausbaute, die sich nicht nur auf ihr Gewicht im innergemeinschaftlichen Handel, sondern immer mehr auf die Intensivierung des weltweiten Außenhandels stützte.

Mit der Gründung der EWG sollte eine regionale Integration eingeleitet werden mit dem Ziel, die Position Westeuropas im Weltmarkt zu festigen und auszubauen. Offenbar ist dies aber nur der Bundesrepublik gelungen, während die übrigen Mitgliedsländer in den ersten fünfzehn Jahren der Gemeinschaft dort keine gleichartigen Positionsverbesserungen erzielen konnten, sich dafür jedoch um so mehr auf den EWG-Markt orientierten.

Für die westdeutsche Wirtschaft nahm also der Handel jenseits der Wirtschaftsgemeinschaft einen zunehmend wichtigeren Platz ein; so wuchs der hierbei erzielte Überschuß seit der Krise 1966/67 um fast das Achtfache. Die Außenhandelsüberschüsse schufen die Voraussetzungen für jenen massiven Kapitalexport, der seit Mitte der 60er Jahre ständig anstieg.

Forcierter Kapitalexport

Diese Entwicklung spiegelt den Prozeß verstärkter Direktinvestitionen wider, wie er für den kapitalistischen Weltmarkt nach 1945 charakteristisch war. Ausländische Direktinvestitionen wurden zum Bestandteil der globalen Strategie international agierender Konzerne. (...)

Die bundesdeutschen Direktinvestitionen waren von ihrem Umfang her am Ende des langen Booms die drittgrößten weltweit, allerdings mit weitem Abstand hinter den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Sie beliefen sich 1973 auf rund 5,6 Milliarden DM bei einem Sockel von 400 Millionen im Jahr 1955. Hieran verdeutlicht sich die Tendenz zur Internationalisierung der Produktion.

Wo lagen nun die regionalen und branchenspezifischen Schwerpunkte dieser Investitionen? Rund ein Drittel der westdeutschen Direkt­investitionen floß in den EWG-Raum, jeweils 16 Prozent wurden in Nordamerika (USA und Kanada) und im Wirtschaftsraum der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA angelegt. Aufgeschlüsselt nach Branchen überwogen Direktinvestitionen der chemischen Industrie, gefolgt von der Elektroindustrie. (...) Das statistische Material ergibt folgende Einsichten:

– Die regionale Struktur der westdeutschen Direktinvestitionen wurde zunehmend von der westeuropäischen Integration geprägt. Zwischen 1961 und dem Ende des Booms hat sich eine eindeutige Schwerpunktverlagerung von Nord­amerika nach Europa und hier insbesondere in die EWG-Partnerländer herausgebildet.

– Die Struktur der Direktinvestitionen nach Branchen bestätigt den Zusammenhang zwischen Waren- und Kapitalexport, denn die Branchen, die den größten Teil des westdeutschen Exports generierten, tätigten gleichzeitig auch den Großteil der Direktinvestitionen.

– Der Schwerpunkt der Außenexpansion des westdeutschen Kapitals lag im Betrachtungszeitraum nicht bei der Auslandsproduktion, sondern beim Warenexport. Es kündigte sich allerdings eine Wende an: Nach der Krise 1966/67 wurden ausländische Direktinvestitionen forciert, um auf diesem Wege nicht nur den Anforderungen der Weltmarktkonkurrenz besser zu entsprechen, sondern auch, um eine größere Unabhängigkeit von der Binnenmarktkonjunktur zu erlangen. Zwar stieg der Wert der Direktinvestitionen im Verhältnis zum Export von 1,3 Prozent im Jahr 1956 auf zwei Prozent 1974; die entsprechende Quote für die US-Industrie lag aber bei 9,5 Prozent.

Frankreich, die zweitgrößte Ökonomie der EWG, konnte mit dem westdeutschen Expan­sionstempo nicht Schritt halten. In den 60er Jahren flossen nur 20 Prozent der französischen Direktinvestitionen in den EWG-Raum, darunter elf Prozent nach Italien, in die Bundesrepublik hingegen lediglich fünf Prozent (zirka 270 Millionen DM). Im gleichen Zeitraum exportierte die westdeutsche Industrie aber rund 5,8 Milliarden DM Kapital in das westliche Nachbarland – die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder waren also sehr ungleichgewichtig zugunsten der Bundesrepublik. Dies förderte Befürchtungen vor einer westdeutschen Übermacht, was dazu führte, daß die französischen Regierungen versuchten, eine Politik nationalstaatlicher Protektion durchzusetzen.

Vorteile durch Währungsunion

Der Wunsch nach einer Währungsunion nahm nach 1968 Gestalt an. Auslöser war die divergierende Entwicklung der Zahlungsbilanzen der EWG-Mitglieder, insbesondere Frankreichs und der Bundesrepublik. Bis 1966 hatte die französische Zahlungsbilanz einen Überschuß ausgewiesen, wenn auch mit einer stark fallenden Tendenz; demgegenüber war die westdeutsche Zahlungsbilanz unstetig und in den Jahren 1962 und 1965 sogar defizitär. Das Jahr 1967 markierte eine entscheidende Wende. Westdeutschland überwand den damaligen Konjunktureinbruch durch eine beispiellose Exportoffensive, die einen hohen Zahlungsbilanzüberschuß mit sich brachte; gleichzeitig rutschte die Zahlungsbilanz Frankreichs in ein Defizit, das in Verbindung mit der politischen Krise des gaullistischen Regimes, aber besonders durch gezielte Indiskretionen der Bundesregierung, die hiermit eine Franc-Abwertung erzwingen wollte, eine enorme Kapitalflucht aus dem Franc in Gang setzte mit dem Ergebnis einer ernsthaften Währungskrise. Der Vorschlag der französischen Regierung, nun ein System für kurz- und mittelfristige Stützungskredite auf Gemeinschaftsebene einzuführen, scheiterte nicht zuletzt am Widerstand der Bundesrepublik. Diese sah zwar wie alle Mitgliedsstaaten die Vorteile einer Währungsunion gerade im Hinblick auf eine größere Unabhängigkeit vom Dollar, was sie jedoch über eine beschleunigte politische Integration verwirklichen wollte. Eine solche Integration in Verbindung mit einer allgemeinen ökonomischen Koordination der jeweiligen nationalen Wirtschafts- und Währungspolitik sollte angesichts des wirtschaftlichen Potentials der Bundesrepublik zu dem erhofften Übergewicht in Westeuropa führen. Eine Währungsunion kam für die Bundesregierung erst dann in Betracht, wenn der größte Teil der Lasten auf die Partnerländer abgewälzt werden konnte.

1978 kam es zur Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS), das als ein solider Damm gegen die Kursschwankungen des Dollars und die daraus resultierenden Spekulationen betrachtet wurde. Es kam zu einem wechselseitigen Verbund zwischen den europäischen Währungen und zur Schaffung einer neuen Leitwährung (ECU), wodurch die Wechselkursschwankungen mehr gedämpft wurden, als wenn jede der am EWS beteiligten Währungen ihren Wechselkurs frei bestimmt hätte. Zunächst traten alle damaligen Mitgliedsländer der EG mit Ausnahme Großbritanniens dem Währungssystem EWS bei.

Aus bundesdeutscher Sicht war das EWS ein Erfolg, denn es konnte zwar die Tendenz zur Aufwertung der DM nicht unterbinden, aber immerhin abschwächen und damit verbundene außenwirtschaftliche Nachteile auf die übrigen Länder abwälzen. (...)

Zwei Weltmachtstrategien

Die strategische Rechnung der USA, Westdeutschland zu einem stabilen Frontstaat im Kalten Krieg aufzubauen, ging in wirtschaftlicher, militärischer und politischer Hinsicht auf. Die Bundesrepublik war US-Juniorpartner in Europa. Aber diese dichte Abhängigkeit kann keineswegs als deutsches »Vasallentum« gedeutet werden. Die Großindustrie, zweimal im 20. Jahrhundert Betreiber und Nutznießer des deutschen Imperialismus, blieb weiterhin die bestimmende Kraft; die politische Elite, zunächst von der Siegermacht USA handverlesen, akzeptierte zwar die neuen Herren in Wa­shington, war aber empfänglich für Ideen einer Großmachtpolitik auf eigene Rechnung.

Innerhalb Westeuropas verfügte die Bundesrepublik dank ihres Wirtschafts- und Militärpotentials schon in den 70er Jahren über eine Vormachtstellung. So machte das westdeutsche Industriepotential mehr als 80 Prozent desjenigen von Frankreich und Großbritannien zusammen aus. Die Grundlagen für den wirtschaftlichen Aufstieg im Verhältnis zu den anderen europäischen Großmächten entstanden in den 50er Jahren. Während Frankreich und Großbritan­nien durch hohe Rüstungslasten und kostspielige Kolonialkriege bzw. aufwendiges Herrschaftsmanagement in den Kolonien stark beansprucht waren, konnte die westdeutsche Industrie frei von solchen Lasten ihr Potential zügig aufstocken. Das schlug sich in den seinerzeitigen industriellen Wachstumsraten nieder, wo die Bundesrepublik mit einem durchschnittlichen Jahreszuwachs von 18,5 Prozent ihre Konkurrenten weiter hinter sich ließ; Frankreich erwirtschaftete ein Durchschnittswachstum von 6,3 und Großbritannien von lediglich 4,2 Prozent. Die expansive Exportstrategie der bundesdeutschen Konzerne führte dazu, daß die Bundesrepublik Mitte der 70er Jahre ebenso viele Waren ausführte wie Frankreich und Großbritannien zusammen. Hier deuten sich enorme außenwirtschaftliche Ungleichgewichte an; die Bundesrepublik hatte in den 70er Jahren einen kumulierten Exportüberschuß von rund 100 Milliarden Dollar, Frankreich bzw. Großbritannien hingegen verzeichneten im gleichen Zeitraum Außenhandelsdefizite in Höhe von 20 bzw. 50 Milliarden Dollar. Diese Überschüsse waren der Hauptgrund für die hohen Währungsreserven der Bundesbank, die größer waren als die französischen und britischen zusammengenommen. Auch die Entwicklung der Wechselkurse der DM läßt erkennen, in welchem Ausmaß und mit welcher Geschwindigkeit sich damals das ökonomische Gewicht der Bundesrepublik erhöht hat. (…)

Die stetigen DM-Aufwertungen hatten die starke westdeutsche Außenhandelsposition kaum geschwächt. Andererseits verbesserten sie die Chancen zum Kapitalexport erheblich. So wuchs der Bestand privater Direktinvestitionen von 0,8 Milliarden Dollar im Jahr 1960 auf knapp 17 Milliarden 1975; der Bestand übertraf denjenigen französischer Konzerne um mehr als vier Milliarden Dollar und betrug die Hälfte des britischen. Diese erfolgreiche Aufholjagd ist um so beeindruckender, wenn man bedenkt, daß die deutschen Konzerne nach den Niederlagen in den zwei Weltkriegen den Großteil ihrer Auslandsanlagen verloren hatten.

Weder Frankreich noch Großbritannien konnten mit dem Tempo des westdeutschen Kapital­exports mithalten, was in der Unterlegenheit des Produktionspotentials gegenüber dem westdeutschen begründet war. Bezogen auf die Wirtschaftskraft wurde die Bundesrepublik eindeutig die stärkste Macht in Westeuropa.

Der Verbesserung der ökonomischen Posi­tion entsprach die militärische Stärkung. (…) Innerhalb der NATO stellte die Bundesrepublik nach den Vereinigten Staaten die ökonomisch und militärisch stärkste Machtkonzentration; sie war zur wichtigsten Landmacht westlich des Eisernen Vorhangs geworden.

Die Bundesrepublik als selbsternannter Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, das beim Griff nach der Weltherrschaft im Zweiten Weltkrieg gescheitert war, kam – neben Japan – der Rolle eines verspäteten Siegers schon sehr nahe. Den traditionellen Expansionstendenzen lagen maßgeblich wirtschaftliche Interessen zugrunde, und gemessen daran hat das deutsche Kapital (wie auch das japanische) beim »Wiederaufbau« so prächtig verdient wie kaum jemals zuvor.

Die Nachkriegsperiode dauerte länger als die NS-Epoche und die nach 1890 einsetzende Hochindustrialisierung des Wilhelminischen Reiches. Unter dem Schirm der Vereinigten Staaten konnte westdeutsches Kapital jetzt in früher versperrte Regionen vordringen. Der lang gehegte Mitteleuropatraum kam nun in seiner ökonomischen Dimension einen großen Schritt voran. Dennoch reichte der westdeutschen Elite in Wirtschaft und Politik dieser ökonomische Aufstieg nicht aus – der dritte Griff nach Weltmacht wurde, je deutlicher die »pax americana« ihren Gipfelpunkt überschritt, allmählich wieder ein Thema politischer Überlegungen. Vermutlich hatten die westdeutschen Führungskräfte Lehren aus der Geschichte nicht ziehen mögen. Den Lagerwechsel vom Faschismus zur parlamentarischen Demokratie hatten sie ohne große Opfer, fast nahtlos, vollzogen; nicht zuletzt, weil die Siegermacht USA in ihnen einen leistungsfähigen Verbündeten beim Kreuzzug gegen die kommunistische Welt sah. Hierbei waren auf westdeutscher Seite zwei Strömungen zu unterscheiden: Die sogenannten Atlantiker, die als Emissäre Washingtons wirkten, und europa-nationalistische Kräfte um Franz Josef Strauß, die von Anfang an einen Weg gemeinsam mit Frankreich befürworteten. Ansonsten hatten sie vieles gemeinsam. Da war zunächst die Einschätzung, daß die USA nicht in der Lage sein würden, ihr Weltsystem im Alleingang auf Dauer aufrechtzuerhalten, sodann der Glaube an die besonderen militärischen Fähigkeiten Deutschlands.

Den Atlantikern ging es offensichtlich darum, sich beizeiten an bester Stelle zu plazieren, um dann, wenn das US-System zusammenbräche, das größte Erbe anzutreten. Die Europa-Nationalisten wollten vorzeitig erben, also über den Ausbau der EWG die US-amerikanischen Schwächen sofort ausnutzen, die Abhängigkeitsfesseln lockern, was auch eine taktische Annäherung an die Sowjetunion einschließen konnte, wie etwa im Rahmen der Brandtschen Ostpolitik. Die Zeit war hierfür allerdings noch nicht reif; zunächst beendete die Entspannungspolitik zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion westdeutsche Machtträume, dann verwies der Kurswechsel der Regierung Reagan zurück zur Politik des Kalten Krieges die Bundesrepublik auf den angestammten Platz des kleinen Partners.

Nahmen die beiden Strömungen die Grenzen einer westdeutschen Weltpolitik nicht wahr? Es sprach einiges gegen das Projekt einer Globalmacht Deutschland: Der Anteil an der Weltindustrieproduktion von damals lediglich fünf Prozent hätte Zweifel an der großen Ambition aufkommen lassen müssen. Die ökonomische Stärke war außerdem relativiert durch die starke Abhängigkeit sowohl von Fertigwarenexporten als auch von Rohstoffimporten. Das sogenannte Modell Deutschland erwies sich als sehr anfällig gegen Krisenerscheinungen in der Weltwirtschaft. Die geographische Lage, die geringe Größe des Territoriums und die Bevölkerungszahl waren weitere Faktoren, die den Schluß hätten nahelegen können, daß die Bundesrepublik für eine Weltmachtrolle nicht geeignet war.



1 Am 25. März 1957 gründeten Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die BRD mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge die EWG. 1973 trat Großbritannien bei

Werner Biermann/Arno Klönne, Ein Spiel ohne Grenzen. Politik und Weltmachtambitionen in Deutschland 1871 bis heute, 293 S., PapyRossa Verlag Köln, 17,90 Euro

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