Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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»Der Todestrakt ist ein einsamer Ort«

Anruf aus dem Gefängnis von Waynesburg, Pennsylvania: Während der internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin am 9. Januar telefonierte Mumia Abu-Jamal mit seinem Rechtsanwalt Robert R. Bryan. Öffentliches Verteidigergespräch
Emotionaler Höhepunkt auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz: Grüße von und für Mumia Abu-Jamal
Rechtsanwalt Robert R. Bryan aus San Francisco nahm am 9. Januar 2010 als Gastredner an der XV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz teil. Als Hauptverteidiger von Mumia Abu-Jamal erläuterte er die aktuelle Lage seines Mandanten, der im Dezember 1981 unter dem Vorwurf des Polizistenmordes verhaftet und nach einem unfairen Prozeß im Juli 1982 zum Tode verurteilt worden war. Mitten in diesen Ausführungen rief Mumia Abu-Jamal überraschend seinen Verteidiger an. junge Welt dokumentiert das Telefongespräch, das live im Konferenzsaal übertragen wurde, im Wortlaut. Übersetzung: Jürgen Heiser.

[Robert R. Bryans Handy klingelt am Rednerpult]

Robert R. Bryan: Möglicherweise meldet sich hier ein weiterer Gast der Konferenz …

Computerstimme: Sie erhalten ein R-Gespräch von Mumia Abu-Jamal [Name wie bei der Handy-Mailbox mit seiner Stimme gesprochen], einem Insassen der staatlichen Strafanstalt Greene. Wenn Sie die Funktionen Konferenzschaltung oder Anklopfen aktivieren, wird das Gespräch sofort abgebrochen.

Bryan: Es ist Mumia! Hallo, Mumia!

Mumia Abu-Jamal: Hallo, Robert!

[Applaus im Publikum brandet auf. Jubelrufe, anerkennende Pfiffe und Sprechchöre: »Hoch die internationale Solidarität!«]

Bryan: Mumia, bist du noch da? Konntest du hören, daß ich nicht allein bin? Hast du das mitbekommen?

Abu-Jamal: Allerdings habe ich das mitbekommen! [lacht]

Bryan: Hier sind gut über tausend Leute versammelt, viele stehen in den Gängen. Der Applaus galt dir. Das ist jetzt natürlich ein Verteidigergespräch, und nur wir beide werden miteinander reden, aber es steht in keinem Gesetz, daß andere nicht dabei zuhören dürfen. Deswegen hören uns jetzt ein- bis zweitausend Leute zu. Ist das okay?

Abu-Jamal: Ja, das ist »sehr gut« [er benutzt die beiden deutschen Wörter].

Bryan: Mumia, wo befindest du dich gerade?

Abu-Jamal: Ich stehe vor der Tür meiner Zelle im G-Block des Todestrakts von Waynesburg, Pennsylvania.

Bryan: Kannst du uns bitte kurz beschreiben, wie das Leben im Todestrakt ist?

Abu-Jamal: Ich habe schon vor Jahren darüber geschrieben, daß es so ist, als würde man sein Leben in einem Schlafraum oder Badezimmer verbringen, sehr klein, vielleicht sechs Quadratmeter groß. Da hältst du dich 22 Stunden am Tag auf, denn zwei Stunden am Tag haben wir Hofgang, aber ich nenne das den »Käfig«, weil das mehr ein Käfig ist als ein Hof. Stellt euch also einfach vor, ihr seid 24 Stunden am Tag in einem Raum eingesperrt – und das über viele Jahre. Das ist die Situation, das ist die Realität. Du machst alles dort, essen, schlafen, lesen, singen, machst deine Gymnastik, eben alles, was ein Mensch so macht.

Bryan: Wir kennen uns nun schon viele Jahre, länger als die letzten sieben Jahre, in denen ich dich offensiv als dein Anwalt vertrete. Hin und wieder hast du mir von anderen Gefangenen erzählt, die sich das Leben genommen haben. Kannst du uns etwas mehr über das Leben im Todestrakt erzählen?

Abu-Jamal: Innerhalb des letzten Jahres haben sich zwei meiner Freunde umgebracht. Männer, die ich seit einigen Jahren gut kannte, Bill Tilley und José Pagán. Der eine so gegen vier oder fünf Uhr morgens, der andere gegen acht Uhr. Beide haben sich jeweils eine Schlinge um den Hals gelegt und sich erhängt. Das hat uns alle hier im Todes­trakt schockiert. Wir kannten sie beide gut, wir mochten sie, sie hatten einen feinen Charakter, waren gute Leute, haben gekämpft – und plötzlich waren sie nicht mehr da. Daran zeigt sich der Einfluß, den der Todestrakt auf Menschen ausübt, sein psychologischer Einfluß, der Menschen buchstäblich in den Tod treiben kann. Genau das war der Fall bei Bill Tilley und José Pagán.

Bryan: Und wie geht es Mumia Abu-Jamal unter diesen furchtbaren Bedingungen? Was hält dich aufrecht?

Abu-Jamal: Zum Beispiel solche Veranstaltungen wie eure dort – das weiß ich von ganzem Herzen zu schätzen. Wir haben eine gute Unterstützerbasis in Deutschland wie auch in anderen Ländern. Ich höre von Leuten, kommuniziere mit ihnen und bin in der Lage teilzunehmen an dem, was sich an einem anderen Ort wie bei euch mit vielen, vielen anderen Menschen ereignet. Das gibt mir große Kraft und befähigt mich, gegen die Bedingungen hier im Todestrakt zu kämpfen.

Bryan: Bevor du angerufen hast, sprach ich gerade darüber, wie du durch deine Arbeit als Journalist, durch dein Schreiben aus dem Todestrakt, zwangsläufig zu einem Sprecher der über 20000 Männer, Frauen und Kinder in den Todeszellen dieser Welt geworden bist. Ich habe auch darüber gesprochen, warum dein Fall nicht nur für dich, sondern auch für andere so an Bedeutung gewonnen hat. Kannst du etwas dazu sagen, warum das so wichtig ist?

Abu-Jamal: Ich habe gerade gestern abend einen Brief von Frances Goldin gelesen …

Bryan: … die deine literarische Agentin in den USA ist …

Abu-Jamal: … ja, Frances zitiert aus einem Artikel der New York Times, einer Kolumne von Adam Liptak, der über juristische Themen schreibt [siehe: www.nytimes.com/2010/01/05/us/05bar.html]. Darin berichtet er über eine sehr angesehene Juristenorganisation der USA, das American Law Institute, in der über 4000 Rechtsprofessoren, Richter und Anwälte zusammengeschlossen sind. Diese Leute sind die verantwortlichen Architekten des heutigen US-Todesstrafensystems und vieler anderer Rechtsbereiche. Sie haben die Strafvorschriften für zahlreiche US-Bundesstaaten und die Bundesregierung entworfen …

Computerstimme: Dieser Anruf kommt aus der staatlichen Strafanstalt Greene

Abu-Jamal: … Sie haben 1962 das neue Todesstrafenprogramm der USA konstruiert, auf das sich der Oberste Gerichtshof 1976 bei der Wiedereinführung der Todesstrafe, nachdem sie vier Jahre ausgesetzt war, berief. Anfang Januar 2010 hat das American Law Institute (ALI) nun erklärt, daß es sich daran nicht länger beteiligen will, weil die Praxis der Todesstrafe weder verfassungskonform noch fair ist. Das ist eine entscheidende Entwicklung einer Institution, die großes Ansehen genießt und eine einzigartige Stellung einnimmt auf dem Gebiet der US-Rechtsprechung hat. Das ALI erklärt also, die Todesstrafe könne weder verfassungsgemäß noch fair sein, weil sie von Armut, Rassismus und der Inkompetenz von Anwälten beeinflußt wird und politische Faktoren wegen einer durch Wahlen eingesetzten Justiz in vielen Bundesstaaten hineinspielen. Das ALI hat deshalb den Schluß gezogen, zu dem 1994 schon der damalige Richter des Obersten Gerichtshofs der USA, Harry A. Blackmun, gekommen war, als er erklärte, nicht mehr an der »Todesmaschinerie der USA herum­pfuschen« zu wollen.

Bryan: In wenigen Tagen werden wir im Internet eine Petition unter dem Titel »Mumia Abu-Jamal und die weltweite Abschaffung der Todesstrafe« veröffentlichen. Sie richtet sich an US-Präsident Barack Obama und kann online unterzeichnet werden. In der Eingabe geht es um dich und die Zehntausenden, die weltweit in den Todestrakten sitzen. Die Petition wurde in zehn verschiedene Sprachen übersetzt, und viele warten schon darauf, weil sie seit Monaten angekündigt war. Warum findest du diese Petition wichtig?

Abu-Jamal: Es geht hierbei sicher um etwas, das nur ein kleiner Teil einer größeren Sache ist und über meine Situation und die jedes Individuums in den Todestrakten vieler Länder hinausweist. Es geht um eine Bewegung, etwas, das mit dem zusammenhängt, was ich gerade über das American Law Institute gesagt habe. Diese Juristen sagen, sie wollen nicht länger an der Todesstrafenpraxis mitarbeiten, was eine deutliche Verurteilung ist. Die Petition ist Teil einer Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe, die sogar bis in diese hochrangigen Kreise reicht. Wir wissen, daß Leute, die zusammenarbeiten und sich organisieren, Veränderungen erreichen können. Die USA stehen mit ihrer Praxis der Todesstrafe praktisch allein in der industrialisierten Welt, ja sogar in weiten Teilen der Welt. Die Petition ist Ausdruck einer wachsenden Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe.

Bryan: Das Berliner Free-Mumia-Bündnis verteilt hier auf der Konferenz Postkarten, die an dich im Todestrakt von Waynesburg, Pennsylvania, adressiert sind. Was empfindest du, wenn du Postkarten und Briefe von Leuten draußen erhältst?

Abu-Jamal: Wie ich schon sagte, ist der Todestrakt ein sehr einsamer Ort, du bist praktisch 24 Stunden am Tag auf dich allein gestellt. Ich bekomme jeden Tag zwischen sechs und zwölf Postkarten, meist von unseren Freunden, Brüdern und Schwestern aus Deutschland, was mir ein sehr gutes, ein wunderbares Gefühl gibt. Und wenn ich auch nur »schlecht« [er benutzt das deutsche Wort] Deutsch spreche, verstehe ich doch, was mir meine Freunde sagen wollen.

Bryan: Angesichts von Tausenden und Abertausenden Karten und Briefen, die du in den letzten Jahren erhalten hast, kannst du sicher bei bestem Willen nicht allen antworten. Aber ich nehme an, daß du dankbar bist für die große Anteilnahme, die dir gegenüber zum Ausdruck gebracht wird?

Abu-Jamal: Ja, ich bin außerordentlich dankbar dafür, und ich würde gern jedem einzelnen antworten, aber der Tag hat nur 24 Stunden, und da sind mir einfach zeitliche Grenzen gesetzt. Aber so gut ich kann, sage ich allen Leuten: Danke, ich danke euch für eure Aufmerksamkeit und daß ihr euch die Zeit nehmt, mir zu schreiben!

Bryan: Mumia, bevor unser auf 15 Minuten limitiertes Gespräch gleich vorbei ist und wir uns verabschieden müssen – was ist dir noch wichtig zu sagen.

Abu-Jamal: Ich möchte einfach jedem einzelnen für das danken, was er oder sie für mich tut. Ich möchte Jürgen für seine Übersetzungsarbeit danken, und all unseren Brüdern und Schwestern, unseren Freunden und Genossen in Deutschland, in Frankreich, England, den USA und überall auf der Welt danken. Wir gehören alle einer täglich wachsenden Bewegung an.

Bryan: Ich sehe gerade, wie George Pumphrey, dein früherer Black-Panther-Genosse, mit andern zusammen Postkarten im Saal verteilt und Spenden für die Verteidigung sammelt.

Abu-Jamal: Danke, George, und viele Grüße!

Computerstimme: Es bleiben Ihnen noch 60 Sekunden.

Bryan: Mumia, wir sagen jetzt auf Wiedersehen, du hattest das letzte Wort …

[Erneut brandet Applaus im Publikum auf, er wird ohrenbetäubend und geht über in Sprechchöre: »Hoch die internationale Solidarität!«]

Bryan: Mumia, bist du noch da? [Keine Antwort] Nein, das Gespräch ist beendet, nach 15 Minuten werden unsere Telefonate immer automatisch vom Computer abgebrochen. Auch der Todestrakt ist mittlerweile automatisiert. Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen, was Sie tun können: Postkarten schicken, aber nicht vergessen, daß alles kopiert und an die Staatsanwaltschaft geschickt wird. Machen Sie aus Ihrer revolutionären Haltung keinen Hehl, aber beleidigen Sie niemanden, sonst erreicht Ihre Post Mumia nicht. Die zweite Sache: Informieren Sie sich auf unserer neuen Website www.mumialegal.org, mit der wir in Kürze online gehen. Und sorgen Sie für viele Unterschriften unter die Petition an Präsident Obama, die wir parallel ins Internet stellen!

Den Audio-Mitschnitt des Gesprächs finden Sie unter www.rosa-luxemburg-konferenz.de (Mumia live). Zum Aufruf ist ein Online-Abo erforderlich.

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