»Amazon sollte zerschlagen werden«
Stefan Huth: Herzlich willkommen zu unserem Podiumsgespräch. Es geht um den »Krisengewinnler Amazon«. Wie kaum ein anderes Unternehmen hat der Onlineriese von der Coronapandemie profitiert. Während der stationäre Handel in Fachgeschäften und Kaufhäusern zwischenzeitlich praktisch zum Erliegen gekommen ist, wuchsen die Umsätze von Amazon ins schier Unermessliche. Firmeninhaber Jeff Bezos verfügt inzwischen über ein geschätztes Privatvermögen von rund 183 Milliarden US-Dollar. Aber wer zahlt am Ende die Zeche? Die Arbeitsbedingungen in den euphemistisch als Fulfillment-Centern (»Wunscherfüllungszentralen«) bezeichneten gigantischen Lager- und Verteileinrichtungen sind für die Beschäftigten eine reine Zumutung. Arbeitshetze, schlechte und untertarifliche Bezahlung sowie permanente Kontrolle durch intransparente Algorithmen gehören zur gängigen Praxis. Hinzu kommen harte körperliche Belastungen. Die Mitarbeiter werden auf reine Funktionalität reduziert und damit gleichsam zur bloßen Verlängerung der Maschinen – Zustände also, wie wir sie aus dem Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts kennen. Dies zwingt Linke aller Couleur weitergehende Fragen auf – auch die nach einer künftigen menschengerechten Gesellschaftsordnung. Es soll heute Abend um das Ausbeutungsmodell von Amazon, um Monopolbildung und um Ansätze erfolgreichen Widerstands gehen, aber auch um eine mögliche Vergesellschaftung solcher Konzerne in einer anderen Gesellschaftsordnung als der kapitalistischen.
Unsere Diskussionsteilnehmer: Zunächst Timothy Bray aus Kalifornien. Der Softwareentwickler war Vizepräsident bei Amazon Web Services EWS, hat sich jedoch von dem Konzern abgewandt und praktisch die Seiten gewechselt. Aus Madrid spricht zu uns Fátima Aguado Queipo, Sekretärin der Gewerkschaft Federación de Servicios de Comisiones Obreras, CCOO. Begrüßen darf ich auch Massimo Mensi, Sekretär für internationale Beziehungen in der Gewerkschaft CGIL in Rom. Last but not least, mein Studiogast in der jW-Ladengalerie, Orhan Akman. Er ist Bundesfachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel beim Verdi-Bundesvorstand. Zudem ist er zentraler Koordinator der Arbeitskämpfe bei Amazon in der BRD. Timothy, könntest du uns schildern, was dein Arbeitsbereich bei Amazon war und was am Ende zu deiner Kündigung geführt hat?
Timothy Bray: Ich habe für Amazon Web Services gearbeitet, den Cloud-Computing-Bereich des Unternehmens. Als ich das Unternehmen verließ, hatte ich die Funktion eines Vice Presidents. Anfang 2020, als Covid-19 sich ausbreitete, kam es schnell zu Diskussionen zwischen den Arbeitern und dem Unternehmen darüber, ob es am Arbeitsplatz sicher sei. Amazon behauptete, sie geben Hunderte von Millionen Dollar für die Sicherheit aus, aber die Arbeiter sagten: »Wir kennen nicht einmal die Distanz, die wir einhalten müssen.« Einige der Büroarbeiter haben dann Unterstützung für die Lagerarbeiter organisiert, und plötzlich begann Amazon, die Arbeiter und ihre Unterstützer zu entlassen. Auch mir war es nicht mehr möglich, Amazon von innen heraus zu kritisieren: Am 1. Mai habe ich den Konzern verlassen.
Huth: Waren denn auch andere Kollegen aus der Vorstandsetage kritisch eingestellt oder hast du da auf verlorenem Posten gekämpft?
Bray: Ich weiß nicht, ob andere in vergleichbaren Positionen Kritik geübt haben, aber es gab bei den Technikern, in der Verwaltung und bei den Designern sehr viel Unterstützung für die Arbeiter. Auch die Organisation »Amazon Employees for climate justice« (Amazon-Beschäftigte für Klimagerechtigkeit) hat von innen heraus den Lagerarbeitern geholfen. Ich war also nicht die einzige progressive Person dort.
Huth: Wenn du eine Bilanz ziehst, würdest du sagen, dass dein Ausstieg zu spät erfolgte?
Bray: Nein, das glaube ich nicht. Amazon ist ja nicht das Problem, sondern nur ein Symptom des Problems, das darin besteht, dass im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts die Ungleichheit an Wohlstand und Macht zwischen den Besitzenden und den Arbeitern inakzeptabel ist. Einzigartig bei Amazon ist nur, wie dort versucht wird, die Debatte zu kontrollieren, indem sie kritische Leute entlassen. Das ist nicht akzeptabel, und das war auch der Faktor, der mich veranlasste, das Unternehmen zu verlassen.
Huth: Du hast seither internationale Kontakte geknüpft: Gestaltet sich die Praxis in den USA anders als in den Verteilzentren in der restlichen Welt?
Bray: Ja, die Dinge liegen anders in den USA, insbesondere im Unterschied zu Europa. Als Beispiel mag Frankreich dienen. Zu Beginn der Pandemie haben die Gewerkschaften Amazon dort vor Gericht gezerrt und gesagt, die Bedingungen sind nicht in Ordnung. Amazon hat diesen Prozess verloren. In Europa ist die Position der Gewerkschaften insgesamt wesentlich stärker als in den USA, wo sie im weltweiten Vergleich wahrscheinlich sogar am schwächsten ist. Es gab eine gezielte Politik gegen die Gewerkschaften seit den 70er Jahren, eine gezielte Schwächung der Arbeiterklasse. Vielleicht ändert sich das in der Zukunft, aber derzeit ist die Position schrecklich. Man hat die Effizienz so sehr intensiviert, dass es keinen Moment der Ruhe gibt: Man darf nie innehalten. In einigen Lagern wurden Roboter eingeführt, die den Arbeitern die Waren bringen. In diesen Lagern gib es dann auffälligerweise mehr Verletzungen. Und jede Sekunde, die man steht, muss man etwas tun. Der menschliche Körper ist nicht dafür gemacht, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Die Menschen brauchen Pausen.
Huth: Hast du noch Kontakt zu Leuten aus der Führungsetage? Und wie wurde dein Schritt dort aufgenommen?
Bray: Da gibt es nur noch ganz wenig Kontakt. Es gibt wahrscheinlich die interne Devise: »Redet nicht mit Bray, das ist ganz gefährlich, sich mit dem zu unterhalten.«
Huth: Wurdest du sozusagen als der Edward Snowden von Amazon wahrgenommen?
Bray: Ich glaube, für große Konzerne ist die Welt ganz simpel gestrickt: »Wenn du nicht für uns bist, bist du ein Gegner.« Und von Amazon werde ich als Feind wahrgenommen.
Huth: Erstmal vielen Dank, Tim. Als nächstes begrüße ich Fátima aus Madrid. Kannst du die Lage der Amazon-Beschäftigten in Spanien charakterisieren und ins Verhältnis zu dem setzen, was Tim gesagt hat?
Fátima A. Queipo: Zunächst einmal haben wir in Spanien ein Gesetz, das die Arbeiter doch relativ gut unterstützt, und es gibt noch eine gewisse Stärke der Gewerkschaft. Nach dem Gesetz hat man das Recht, über die Arbeitsbedingungen zu sprechen und die Forderungen der Gewerkschaft vorzutragen. Das Schwierigste ist, Kandidaten für eine gewerkschaftliche Vertretung zu finden. Amazon agiert hier wie ein Chamäleon und versucht, seine eigenen Kandidaten einzuschleusen. Im Moment ist es so, dass wir nur in neun von insgesamt dreißig Arbeitszentren eine gewerkschaftliche Organisierung haben. Und wir haben dieselben Probleme mit Amazon, über die Timothy gerade berichtete. Die haben hauptsächlich mit psychosozialen Problemen infolge der starken Arbeitsauslastung zu tun.
Huth: Du sprachst von eigenen Amazon-Kandidaten. Kannst du genauer sagen, wie diese gelben Gewerkschaften von Amazon installiert und gefördert werden?
Queipo: Das spanische Gesetz schreibt vor, dass die Unternehmen Gewerkschaftswahlen durchführen bzw. zulassen müssen. Dagegen kann ein Unternehmen sich nicht wehren. In dieser Situation hat Amazon selbst einige Leute überzeugt, sich als Kandidaten aufzustellen. Und dann erschweren sie mit ihren eigenen Leuten hier die gewerkschaftliche Arbeit. Glücklicherweise ist es so, dass wir diese Tricks oftmals erkennen und dann in der Lage sind, dagegen vorzugehen. Jedoch haben wir auch Probleme mit den schon erwähnten robotergestützten Tätigkeiten, da sind die Leute relativ schnell völlig erschöpft.
Huth: Gab es Hinweise, dass diese gelben Gewerkschaften auch finanziell gefördert worden sind, es also eine Art Bestechungsgeld gab?
Queipo: Ja, diese Hinweise gab es. Die Praxis von Amazon zwingt zu dem Schluss, dass wir es mit einer Art Monstrum zu tun haben. Als Gewerkschaft haben wir es in diesem Konzern sehr schwer. Welchen Rat kann man geben? Das Beste ist, wenn man sich zusammenschließt. Das heißt, wenn wir ein Netz schaffen, mit dem wir Gewerkschafter uns gegenseitig warnen, etwa wenn man erfährt, dass Amazon versucht, die Gewerkschaftswahlen zu beeinflussen.
Huth: Danke, Fátima. Schalten wir nach Rom zu Massimo Mensi. Im Frühjahr 2020 war Italien einer der globalen Hotspots der Coronapandemie. Dabei sind auch die Logistikzentren von Amazon in die Schlagzeilen gerückt. Massimo, kannst du uns sagen, wie die Arbeit eurer Gewerkschaft sich unter diesen Bedingungen gestaltet hat und was ihr erreichen konntet?
Massimo Mensi: Während der ersten Phase der Pandemie im April wurde ein Abkommen geschlossen, um sicherzustellen, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus umgesetzt werden. Amazon hat damals versucht, seine Verpflichtungen zu umgehen und versucht, in die Verhandlungen einzugreifen. In Piacenza, dem ersten Lager, das wir gewerkschaftlich organisiert hatten, haben die Arbeiter einen elftägigen Streik ausgerufen, damit die Maßnahmen vollständig umgesetzt werden. Aber wie meine Kollegin Fátima schon gesagt hat, ist das schwierig, denn Amazon lässt keine Gelegenheit aus, uns zu spalten. In Italien haben wir wesentlich mehr rechtliche Möglichkeiten, uns zu wehren, als in den USA, aber es ist aufgrund der Fluktuation nicht einfach, die Arbeiter zusammenzubringen. Die Beschäftigten bleiben im Durchschnitt vielleicht 18 bis 24 Monate in einem Lager.
Huth: Wie sieht das generell in Italien aus ?
Mensi: Dort, wo Amazon sich ansiedelt, ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Da ist es für den Konzern einfacher, sich in der Region als Wohltäter auszugeben. Das stimmt aber nicht. Die Arbeiter mancher Verteilzentren müssen teils im Auto in der Nähe des Gewerbegebietes schlafen, der Konzern stellt nicht einmal Unterkünfte zur Verfügung. Zudem werden sie im Namen der Effizienz kontinuierlich überwacht und es gibt Berichte über harte Bestrafungen.
Huth: Wenden wir uns den Verhältnissen in der BRD zu. Orhan, du vertrittst als Gewerkschaftssekretär die Interessen der Amazon-Kollegen. Wie geht der Konzern hier in Deutschland mit der Pandemie um? Wie mit seinen Beschäftigten?
Orhan Akman: Als die Pandemie begann, führte Amazon in den deutschen Firmenzentren für Beschäftigte, die normal zur Arbeit kamen, eine Anwesenheitsprämie von zwei Euro pro Stunde ein. Die galt für die ersten drei Monate, dann wurde sie abgeschafft. Das sollte womöglich einen Anreiz schaffen, sich trotz Symptomen zur Arbeit zu schleppen, und zeigt einmal mehr, dass die Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen der Aussicht auf Profit untergeordnet wird. Reglementiert werden die Zahl der Kunden pro Verkaufsfläche im stationären Einzelhandel und der private Kontakt zwischen verschiedenen Haushalten. Aber bei Amazon ist es kein Problem, wenn Personen aus 250, ja 500 verschiedenen Haushalten in einer Schicht zusammenarbeiten. Das ist zynisch. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen und die Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen aufs Spiel gesetzt. Amazon weigert sich seit Jahren, mit Verdi Tarifverträge abzuschließen, in dem nicht nur Löhne, sondern auch Bestimmungen zur Arbeit selbst festgeschrieben sind. Die Arbeitsbedingungen bei Amazon machen krank. Das hat sehr viel mit dem Rhythmus und dem Tempo zu tun, aber auch mit dem Einsatz von neuen Technologien. Die Arbeit wird entgrenzt. Selbst wenn die Kollegen Feierabend haben, nehmen sie die Belastungen mit nach Hause, immer in der Angst, mit den Vorgaben nicht fertig zu werden. Wir sind keine Gegner neuer Technologien, aber wir wehren uns dagegen, dass sie zu Lasten der Beschäftigten eingesetzt werden, und dagegen, dass weder die Gewerkschaften noch die Betriebsräte ein Mitspracherecht besitzen. Bei Amazon herrscht eine Kultur von Befehl und Gehorsam. Der Konzern sucht sein Führungspersonal gezielt bei ehemaligen Bundeswehr-Angehörigen. Dennoch haben wir nach acht Jahren Arbeitskampf Erfolge vorzuweisen. Wir haben in Deutschland an den allermeisten Standorten Betriebsräte gewählt. Jetzt ist immerhin die Arbeits- und Pausenzeit geregelt, es gibt regelmäßige Lohnerhöhungen, die Arbeitskonditionen haben sich verbessert. Doch Amazon weigert sich weiterhin, einen Tarifvertrag zu akzeptieren. Wir stellen uns daher auf weitere acht Jahre Arbeitskampf ein. Das ist für uns von grundsätzlicher Bedeutung. Amazon besitzt eine erhebliche finanzielle Macht, die auch die bürgerliche Demokratie gefährdet. Der Konzern macht einen jährlichen Umsatz, der über dem Bruttoinlandsprodukt von Portugal oder Vietnam liegt. Hier wäre eine Regulierung angezeigt. Es geht nicht nur um die 18.000 Beschäftigten in Deutschland, sondern darum, einem Megakonzern durch Gewerkschaftsmacht Grenzen zu setzen.
Huth: Sprechen wir über Stellenabbau und Standortschließung bei Karstadt-Kaufhof. Der stationäre Einzelhandel ist durch die Konkurrenz von Amazon in Bedrängnis geraten. Gleichzeitig ist der Konzern auch im Dachverband des deutschen Einzelhandels organisiert. Und in den verbliebenen großen Warenhäusern gibt es Abholzentren für Amazon, es besteht also eine Kooperation.
Akman: Das Geschäftsmodell von Amazon ist eigentlich nichts Neues. Der Versandhandel war in Deutschland schon sehr früh entwickelt worden. Doch die deutschen Handelskonzerne haben die technischen Änderungen verschlafen und sind sehr fahrlässig mit der Zukunft ihrer Unternehmungen und der ihrer Beschäftigten umgegangen. Man hat es versäumt, die digitalen Plattformen und den stationären Handel miteinander zu verzahnen. Jetzt tut man ganz überrascht, als ob das etwas völlig Neues sei. Der Handelsverband Deutschland hat Anfang des vergangenen Jahres Amazon als Mitglied aufgenommen, ohne dass der Konzern die Tarifbindung anerkannt hätte. Diese Möglichkeit besteht, aber der Handelsverband schadet damit den Interessen seiner eigenen Mitglieder, die sich an den Tarif halten. Mit einer Erklärung zur Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge könnte die deutsche Politik solchen Geschäftspraktiken sofort ein Ende setzen. Ansonsten schätze ich, dass der stationäre Handel in Deutschland nur dann eine Zukunft hat, wenn die unterschiedlichen Vertriebskanäle gut miteinander verzahnt werden und dabei nicht immer sofort die Beschäftigten bzw. die Personalkosten als vorrangiges Problem erachtet werden. Ob es eine gute Idee ist, sich seinen Hauptkonkurrenten ins Haus zu holen, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Huth: Ist die Rekrutierung von militärischem Personal auch eine gängige Praxis von Amazon in den USA, Timothy?
Bray: Nein, soweit ich weiß, ist das nicht der Fall. Aber sie machen das, was wir aus Italien gehört haben: Sie gehen in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, um die Schwäche der Lohnabhängigen nutzen zu können. Doch zu etwas anderem, was Herr Akman gesagt hat: Die Probleme der Einzelhändler im Wettbewerb mit Amazon. Eines der Probleme besteht darin, dass Amazon ein Monopolist ist, es ist eine Kombination von Einzelhändler, Cloudcomputingunternehmen und TV-Produktionsunternehmen. Das Cloudcomputing ist unglaublich profitabel. Hier werden achtzig Prozent des Profits generiert, mit dem dann der lokale Einzelhandel angegriffen wird. Herr Akman hat zwar Recht, die stationären Einzelhändler sind nicht ganz so klug, wie sie sein sollten, aber zur Wahrheit gehört auch, dass der Wettbewerb unfair verläuft. Die wichtigste Frage einer progressiven Bewegung wäre der Kampf gegen das Monopol. Und Amazon ist nicht der einzige Monopolist. Amazon sollte zerschlagen werden, aber das gleiche gilt für Google, Microsoft, Facebook und Apple. Die Eigentümerstruktur im Kapitalismus ist viel zu stark konzentriert. Mich interessiert dabei nicht, ob der Eigentümer Jeff Bezos heißt, es geht darum, dass es einer völlig anderen Unternehmensstruktur bedarf.
Huth: Fátima, diskutiert ihr in eurer Gewerkschaft auch die Frage, inwieweit der Staat intervenieren sollte, ob eine Enteignung und Zerschlagung dieser Monopolkonzerne notwendig ist?
Queipo: Tatsächlich sollte der Staat sicherstellen, dass es einen gerechten Wettbewerb gibt. Aber in der Praxis ist das nicht so. Ja, auch in Spanien wird über diese Monopole diskutiert, dann heißt es, Amazon müsse möglicherweise gezwungen werden, höhere Steuern zu entrichten. Doch die Debatte ist bei uns noch nicht sonderlich weit gediehen. Die Abhängigkeit von diesen Monopolen ist einfach sehr groß.
Huth: Massimo, deine Gewerkschaft hat bereits Kontakte zu Gewerkschaftsvertretern in jenen Ländern aufgenommen, in denen noch gar keine Amazon-Standorte existieren, um sie vorzubereiten, ihnen Tipps zu geben, wie man Arbeitskämpfe effektiv organisieren kann. Kannst du uns etwas zum Erfolg dieser internationalen Kooperation sagen?
Mensi: Die einzige Strategie, die etwas taugt, ist die Bildung eines starken Netzwerks, grenzüberschreitend und ganz gleich, aus welchen Gewerkschaften oder Verbänden wir kommen. Wir tauschen unsere Informationen und Erfahrungen aus. Das vergangene Jahr war sehr wichtig für uns. Ich hatte den Eindruck, dass irgendetwas bei Amazon kaputtgegangen ist, dass es anfängt zu knirschen. Wir müssen der Öffentlichkeit zeigen, dass ein Job bei Amazon nicht so toll ist, wie es die TV-Spots verheißen. In der Weihnachtszeit gab es davon in Italien ganz viele, toll aufgemachte, fast wie eine Netflix-Serie über die Arbeit bei Amazon: Alles schön, alle freundlich. Die Realität sieht natürlich ganz anders aus. Wir müssen globale Aktionstage durchführen, in jeweils unterschiedlicher Weise. Was der Black Friday für die Klimaschutzbewegung ist, das ist der Red Friday für uns; denn rot, das ist die Farbe unserer Gewerkschaft.
Huth: Zurück nach Berlin, zu den hiesigen Zuständen bei Amazon. Auch Verdi ist Teil dieses internationalen Vernetzungsbestrebens. Welche Rolle spielt Verdi genau?
Akman: Diese Arbeit ist enorm wichtig. Zum einen, um dem Konzern zu zeigen, dass der Grundsatz der Gewerkschaften internationale Solidarität heißt. Verdi hat von Anfang bei diesem Netzwerk mitgemacht. Aber internationale Netzwerkarbeit ist nur dann sinnvoll, wenn wir auf nationaler Ebene viel bewegen; das heißt, gewerkschaftliche Macht in den Arbeitsstätten aufzubauen. Das ist keine einfache Aufgabe. Die Erfahrungen, die wir jetzt in Europa, in Spanien, Italien, in Frankreich, in Deutschland machen, die müssen wir auch mit den Kolleginnen und Kollegen in, sagen wir, Mexiko oder Brasilien teilen. Gewerkschaftsarbeit muss auch entlang der Wertschöpfungsketten und der Lieferketten neu konzipiert werden. Die Gewerkschaft muss schon da sein, bevor der Konzern kommt.
Huth: Sprechen wir über den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Wir haben die kapitalistische Vergesellschaftung in Gestalt solcher Monopole wie Amazon. Könnten solche Konzerne, wenn sie nicht als Maschinen der Profitmaximierung dienen, sondern der Bedürfnisbefriedigung, nicht auch Vorstufen einer sozialistischen Vergesellschaftung sein?
Akman: 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat der Kapitalismus nur Kriege produziert, hat Ungleichheiten geschaffen, hat für dramatische Umweltzerstörung gesorgt. Amazon gehört dazu. Der CO2-Ausstoß des Konzerns ist größer als der von Dänemark. Ja, wir müssen Alternativen zum Kapitalismus diskutieren. Wenn Beschäftigte mit ihrer Arbeit Milliardengewinne für andere erschaffen, aber auf der anderen Seite die Ungleichheit wächst, dann müssen wir uns die Frage stellen, wollen wir in einem solchen System leben? Auch im Sozialismus muss gearbeitet werden, aber die Frage ist, zu welchen Konditionen. Ich halte es für schwierig, wenn man bei Amazon acht Stunden arbeitet, danach aber so fertig ist, dass man noch sechs bis zehn Stunden über die Arbeit nachdenkt und wahrscheinlich nicht gesund das Rentenalter erreicht. Das ist doch kein Lebensmodell für uns. Das können wir nicht akzeptieren. Die deutsche Politik reagiert feige, dabei besitzt sie ein Instrument. Im Grundgesetz heißt es: Eigentum verpflichtet zu sozialer Verantwortung. Allein wenn man diesen Satz bei Amazon anwenden würde, sähe die Sache schon ganz anders aus. Wir müssen auch ernsthaft über die Zukunft der Arbeit sprechen. Ich will kein Arbeitsleben, in dem wir zu Anhängseln von Maschinen werden. Wir sind keine Roboter und wir wollen auch keine werden. Der technische Fortschritt sollte die Arbeit erleichtern, mehr Freizeit schaffen, mehr Kontrolle über die Arbeit ermöglichen.
Huth: Timothy, als der am weitesten entfernte Gast, darfst du das Schlusswort sprechen. Zunächst aber die Frage: Hast Du Jeff Bezos je persönlich getroffen?
Bray: Ja, ich habe ihn zweimal getroffen, bevor ich bei Amazon anfing, aber niemals während meiner Tätigkeit für Amazon.
Huth: Wenn Du ihm einen einzigen Satz ins Stammbuch schreiben dürftest, wie würde der lauten?
Bray: Dein Unternehmen funktioniert hervorragend, aber das System ist kaputt, und das kann nicht mehr so weitergehen. Wenn dieses System nicht in der Lage ist, die Kinder zu ernähren und für Unterkunft zu sorgen und einen vernünftigen Lebensstil zu gewährleisten, dann ist es schlichtweg kaputt. Wenn ein gutes Unternehmen in einem kaputten System arbeitet, dann kann das nicht gut enden für uns. Wir müssen das besser machen.
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