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Podiumsdiskussion: »Krieg global - Widerstand lokal?«

Von Redaktion

mit Christian Geissler, Mag Wompel, Juan Carlos Frómeta, Angela Davis, Iván Morales, Jude Abbott, Allan Whalley, Moderation: Arnold Schölzel

Arnold Schölzel: Das Thema, das wir uns gestellt haben, trägt den Titel »Krieg global – Widerstand lokal?« Das ist ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch diese zehn Rosa-Luxemburg-Konferenzen zieht. Als die erste im Januar 1996 stattfand, hatte der Deutsche Bundestag kurz zuvor, im Dezember 1995, unter der von CDU/CSU und FDP geführten Regierungskoalition mit den Stimmen von SPD und einigen Grünen-Abgeordneten gerade einen Blauhelm-Einsatz in Ex-Jugoslawien beschlossen. Es war der erste umfassende Militäreinsatz, einige waren schon vorhergegangen. Das Thema der Diskussion lautete damals: »Frieden schaffen mit Blauhelm-Waffen?«

Das Thema Krieg durchzieht die letzten 15 Jahre in einer Art und Weise, wie sich das selbst diejenigen, die 1990 glaubten, besonders realistisch zu sein, wahrscheinlich nicht vorstellen konnten. Als die Mauer fiel, wurden wenige Tage später sieben Jesuitenpadres von Todesschwadronen in El Salvador ermordet. Kurz nachdem die Mauer gefallen war, starben bei einer Militärinvasion der USA in Panama 1 500 Menschen. Der Krieg in Jugoslawien begann, und Anfang 1991 fand das statt, was Volker Braun einmal den »Begrüßungskrieg« genannt hat. Es war der erste »Weltordnungskrieg«. Jetzt liegen weitere Kriege hinter uns, die Formel »Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen« ist zerstört. Es ist gerade einmal zwei Jahre her, daß der amtierende Bundeskanzler auf die Frage nach seiner größten politischen Leistung antwortete: »die Enttabuisierung des Militärischen«. Was damit gemeint ist, wissen wir, es steht in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« von 1992. Es geht um Intervention zur Sicherung »unserer« Rohstoffe und »unserer« Transportwege, es geht um die – direkte oder indirekte – Teilnahme an Kriegen, die unter der Überschrift »Kampf gegen den Terror« weltumspannend geworden sind. Wir haben vor zwei Jahren, vor Beginn des Irak-Krieges, die größten Antikriegsdemonstrationen der Geschichte erlebt. Wie vor dreißig Jahren – als Angela Davis, wie sie eben sagte, im Gefängnis saß und schließlich befreit werden konnte – haben Millionen Menschen wieder nein gesagt, so viele, wie wahrscheinlich noch nie. Aber der Krieg wurde nicht verhindert. Und dennoch – und das ist auch ein Resultat dessen, was wir heute auf der Konferenz gehört haben – gibt es eine Hoffnung auf Widerstand, gibt es sehr viele Menschen, die nicht nachlassen wollen, solche Kriege zu verhindern. Und sie tun das auf sehr unterschiedliche Weise: im Moment noch im wesentlichen dort, wo sie leben, lokal.

Christian Geissler, du hast heute morgen gesagt: »Aus der Niederlage aufstehen«, ein »Traumschritt«. Welche Schritte siehst du in Richtung Widerstand?

Christian Geissler: Ich weiß es nicht genau, sonst würde ich heute morgen deutlicher und klarer geredet haben. Ich bin, habe ich gesagt, sehr ratlos. Aber ein paar Sachen weiß ich noch ganz genau. Erst einmal, Widerstand beginnt nach meiner Erfahrung mit ›Konspiration‹, das heißt: zusammen atmen. Das ist ein alter Wandspruch aus dem Italien der 70er Jahre. Die Kraft, gegen die wir Widerstand zu leisten haben, diese falsche Kraft, wird aber nicht durch gemeinsames Atmen niedergeworfen, sondern durch eine konsequente, internationale Erweiterung unseres Widerstands. Das heißt auch: durch eine internationale Organisation. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.

Als alter Mann habe ich allen Grund, dem Wort ›Organisation‹ gegenüber mißtrauisch zu sein. Als alter Kommunist erst recht. Und doch: Das Kapital, die Ausbeutung und die Massenvernichtung sind organisiert, weltweit. Ich kann mir keine andere Gegenbewegung vorstellen als eine, die in sich streng und international organisiert ist. Aber es beginnt ganz bestimmt mit dem Moment des wissenden Vertrauens, also nicht Vertrauen als bloße Gefühlserfahrung, sondern Vertrauen aus gemeinsamem Wissen, gemeinsamen Interessen. Damit beginnt es ganz gewiß. Und das geht von Stuhl zu Stuhl zu Stuhl und von hier zu mir nach Hamburg und zurück.

Arnold Schölzel: Ich möchte die Frage gleich weiterreichen. Das war gerade ein Plädoyer für eine starke Organisation. Mag Wompel, habe ich dich falsch verstanden: Das ist nicht der Anfang von Widerstand?

Mag Wompel: Wir wollten ein kontroverses Podium, und das fängt jetzt schon an. In dem einen Punkt muß ich Christian widersprechen. Wir haben zu viele schlechte Erfahrungen gemacht mit starken Organisationen, die immer dazu neigen, irgendwann zentralistisch und bürokratisch zu werden. Deswegen glaube ich, daß wir mit dem heutigen Stand der Technik und der weltweiten Vernetzung etwas Neues in der Geschichte der Linken ausprobieren können: lose verkoppelte Netzwerke, die auf Vertrauen und Solidarität gegründet sind. Das ist eine erstmalige Chance in der Geschichte.

Meine Erfahrung zeigt mir, daß es möglich ist, ohne strenge Hierarchien eine starke Organisation zu bilden. Auch wenn ich des Individualismus bezichtigt werde – die größten Massen, die etwas bewegen, bestehen ja schließlich aus einzelnen Individuen. Wenn diese selbstbewußt und solidarisch miteinander sind, glaube ich, daß es der beste Weg ist, dezentral und lose verkoppelt etwas zu bewegen. Und daß daraus vielleicht eine noch viel stärkere Bewegung entstehen könnte, die zudem auch noch widerständig ist, nicht nur gegen die Kapitalbestrebungen oder das System an und für sich, sondern widerständig ist gegen die Egoismen, mit denen wir wahrscheinlich auch nach einer Revolution zu kämpfen hätten. (Beifall)

Christian Geissler: Was macht man – wie wir es doch alle erlebt haben –, wenn zwar massenhafte Spontaneität da ist, aber die Panzer aufziehen? Ich habe das miterlebt. Die Kräfte des Spontanen waren zwar da, die Kräfte des Wissens waren auch da – die wurden aber eingekreist und zusammengeschossen. Das berührt die Bewaffnungsfrage, die in meinem Leben auch eine wichtige Rolle gespielt hat. (Beifall)

Mag Wompel: Das ist natürlich ein starkes Argument, fast schon ein Totschlagargument – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber ich hoffe sehr, daß dieser Zeitpunkt weit entfernt ist und versuche, die Zeit bis dahin zu nutzen, Selbstbewußtsein in die Köpfe hineinzutragen, mehr Anspruchsdenken an das Leben selbst und an das Leben miteinander, an eine andere, bessere Welt. Und widerständig zu werden. Denn das, was wir brauchen, auch für einen globalen Kampf, das ist Verweigerung, das ist Zivilcourage, das ist Widerstand, und den kann jeder nur da leisten, wo er lebt, wo er arbeitet, jeder an seinem Ort. Das kann aber wirklich international und solidarisch vernetzen. (Beifall)

Arnold Schölzel: Juan, ich glaube, das leitet über zur kubanischen Situation. Welche Rolle spielt die Waffe in der Hand für ein Land wie Kuba? Und die Organisation und das Streben nach dem guten Leben?

Juan Carlos Frómeta: Unsere Erfahrung ist folgende: Wir haben die Revolution verteidigt, weil das Volk sich darauf vorbereitet hat. Das Volk ist militärisch, politisch, kulturell, auf allen Gebieten darauf vorbereitet, diese Revolution zu verteidigen. Deshalb sind wir ein Symbol für die Verteidigung, ein Symbol des Widerstands. Die Revolution hat sich verantwortlich gefühlt. Sie hat dazu beigetragen, das Volk vorzubereiten, vorzubereiten, die Revolution zu verteidigen. Auch in der Gegenwart, auch jetzt, wo es am schwierigsten ist. In den 15 Jahren seit dem Verschwinden der Sowjetunion, nach dem Fall der Mauer, ist die kubanische Revolution erhalten geblieben. Denn es handelte sich um einen authentischen Prozeß. Unsere Revolution, die 1959 siegte, wurde nicht durch Panzer geschaffen, sondern war Ergebnis eines mehr als 100jährigen Kampfes. Und das kubanische Volk hat sie stets in diesen 46 Jahren verteidigt, denn wir waren darauf vorbereitet, militärisch aber auch in politischer, kultureller, sportlicher, musikalischer Hinsicht, in jeder Hinsicht waren wir vorbereitet, sie zu verteidigen. Und wir sind Optimisten, wir glauben, daß die Alternative für Kuba der Sozialismus ist, und wir werden weiter dafür kämpfen, was auch immer es kosten möge. Kuba ist mehr denn je darauf vorbereitet, seine Revolution zu verteidigen. (Beifall)

2004 war eines der schwierigsten Jahre für das Land. Die Bush-Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen gegen das revolutionäre Kuba beschlossen. Es gab außerdem zwei Hurrikans, die Millionenschäden angerichtet haben. Es gab Probleme in der Energiewirtschaft, die auch das Land, die Wirtschaft des Landes beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen haben. Und trotz all dieser Rückschläge gelang es uns, diese in Fortschritte umzuwandeln. In den Vereinten Nationen wurde eine Resolution gegen die US-Blockade angenommen. Kubas Wirtschaft ist um fünf Prozent angewachsen. Heute morgen habe ich bereits gesagt, daß mehr als 200 soziale Projekte entwickelt wurden, um eine bessere Lebensqualität für die gesamte kubanische Bevölkerung, für die Kinder, für die Jugendlichen, für die Alten zu schaffen. Während in der übrigen Welt genau das Gegenteil davon passiert. Es ist uns gelungen, uns weiter zu stärken. Der Dezember war für uns ein guter Monat. Es wurden sehr positive Handelsverträge mit China angenommen. Es wurde ein Abkommen mit Venezuela geschlossen, ein Symbol für die Integration Lateinamerikas, etwas, was sehr wichtig ist für alle Kubaner. Fidel Castro hatte vor anderthalb Monaten einen Unfall, jetzt ist er aber wieder auf den Beinen. Unser Comandante konnte, auf den eigenen Beinen stehend, wieder an der Nationalversammlung teilnehmen. Ein Zeichen dafür, daß er wieder intakt, daß er wieder gesund ist. (Beifall)

Arnold Schölzel: Heute mittag hat Hans Heinz Holz nach dem Referat von Iván Morales gesagt, es herrschten andere Bedingungen in Lateinamerika als in Westeuropa, in den industrialisierten Ländern überhaupt, aber man könne von dort sehr viel lernen. Er fügte hinzu, man könne lernen, daß es einer Strategie bedarf und, das war seine Schlußfolgerung, einer Partei, die diese Strategie umsetzt. Bleiben wir zunächst bei der Strategie. In England fanden vor dem letzten Irak-Krieg mit die größten Demonstrationen gegen den Krieg statt. Wie war es möglich, das zu organisieren? Es kam für viele Menschen überraschend, was sich da nicht nur einmal, sondern mehrmals auf dem Trafalgar Square in London abgespielt hat. Wie ist das gelungen?

Jude Abbott: Ich glaube, die große Demonstration gegen den Irak-Krieg auf dem Trafalgar Square vor zwei Jahren ist ein Beispiel dafür, wie viele unterschiedliche Bewegungen und lokaler Widerstand zusammenkommen können. Die Organisation fand auf verschiedenen unteren Ebenen statt.

Ich selbst war allerdings anderthalb Meilen davon entfernt, es waren zu viele Leute da. Ich habe nicht einen der Redner hören können. Diese Demonstration war sicher die erste ihrer Art seit über 20 Jahren, seit dem Streik der Bergleute. Es war ein phantastisches Gefühl der Stärke – schon deswegen, weil so viele Menschen da waren. Man hatte den Eindruck, selbst wenn Tony Blair nicht ein einziges Wort hören würde von dem, was dort gesagt wurde, würden die Leute danach mit diesem phantastischen Gefühl der Stärke in ihre Städte, Dörfer zurückgehen. (Beifall)

Arnold Schölzel: Vorhin sagte jemand, Lateinamerika, da ist ein frischer Wind. Und Uruguay wurde erwähnt, Venezuela, Brasilien, und wir haben sehr eindrucksvolle Berichte gehört, was die Bewegung zum Sozialismus in Bolivien konkret gemacht hat. Welchen Hintergrund gibt es dafür, daß gerade in Lateinamerika auf übernationaler Ebene dieser Rückhalt da ist, um den Vorwärtsschub in einzelnen Ländern zu ermöglichen?

Iván Morales: Kämpfe werden in der ganzen Welt geführt. Sie entstehen auf natürlichem Wege – so wie in Bolivien der Kampf der Kokabauern. Sie wehren sich gegen die Vertreibung von ihren Pflanzungen und aus ihren Wohnorten, wofür Millionen Dollar ausgegeben werden. Die Kokabauern sind zur Vorhut der nationalen Bauernbewegung geworden.

Es wird sich immer mehr Widerstand nicht nur auf unserem Kontinent, sondern in der ganzen Welt entwickeln. Wir brauchen dabei aber die Solidarität mit unserem Kampf. Im Wettbewerb mit der EU, mit Japan und China haben die USA nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt Lateinamerika wieder zum Hinterhof für ihre Wirtschaftspolitik gemacht. Sie wollen unsere natürlichen Reichtümer, selbst die Süßwasserreserven, für sich selbst sichern. Sie wollen also die Möglicheit, alle natürlichen Ressourcen Lateinamerikas für sich zu verwenden, um die unipolare Welt, die sie selbst geschaffen haben, zu stützen. Aber Lateinamerika wehrt sich gegen ALCA, die gesamtamerikanische Freihandelszone, und versucht auch Druck auf Nordamerika auszuüben. Und dazu braucht man natürlich eine Organisation, die über das Nationale hinausgeht, die international wird und weltweit Unterstützung findet. (Beifall)

Arnold Schölzel: Angela Davis, ein zentraler Punkt Ihrer Rede war das, was Sie als »wichtigste Herausforderung« bezeichnet haben: Wie bauen wir eine globale Bewegung auf, um die Hegemonie des US-Imperialismus zu brechen? Sie haben sehr viele Beispiele für Bewegungen genannt, die an ganz verschiedenen Punkten begonnen haben. Wie kann es weitergehen mit dem Zusammenschluß dieser Bewegungen? Wie kann es dazu kommen, um das zu wiederholen, daß Millionen Menschen nein sagen?

Angela Davis: Am 15. Februar vor zwei Jahren fanden in den USA riesige Demonstrationen statt, gleichzeitig mit Demonstrationen in Europa und anderen Teilen der Welt. Ich selbst habe in New York gesprochen – die meisten Demonstranten waren nicht einmal bis zum Kundgebungsort gekommen. Da war mindestens eine Million Menschen auf den Beinen: In San Francisco, Los Angeles, Philadelphia oder Chicago.

Es ist heute gar nicht mehr so schwer, Menschen zu mobilisieren, längst nicht so schwer, wie es mal war. Die Mobilisierung läuft heute vielfach über das Internet. Aber dann kommt es darauf an, diese Bewegung am Laufen zu halten. Es geht ja nicht primär darum, Organisationen zu entwickeln, auch wenn die innerhalb der Bewegung eine wichtige Rolle spielen. Bewegungen sind hoffentlich immer viel größer als die dazu gehörenden Organisationen.

Ich glaube, wir müssen uns heute überlegen, wie wir Gemeinschaft entwickeln. Wenn jemand nach einer Demonstration voller Begeisterung über die Solidarität, über das Gemeinschaftsgefühl ist, geht er erst einmal alleine nach Hause. Und wenn er dann erfährt, daß George Bush als Präsident wiedergewählt wurde, verfällt er womöglich in Depressionen, weil das Gefühl der Gemeinschaft nicht mehr da ist.
Es geht also darum, Organisationen oder auch eine Art Kultur zu entwickeln, in der die Menschen dieses Gemeinschaftsgefühl haben. Es müssen neue, öffentliche Formen der Debatte entwickelt werden.
Ich glaube, genau das ist die Herausforderung: Wie schaffen wir das? Wie schaffen wir das in einer Gesellschaft, in der alles sehr schnell geht? Diese Schnellebigkeit macht es schwierig, den Menschen bewußt zu machen, wie man eine Bewegung entwickelt. Dazu braucht man Jahre, und das Fernsehen wird nicht oft darüber berichten. Man muß also lernen, auch ohne die offizielle Anerkennung zu leben.

Ich arbeite in der Bewegung gegen die Gefängnisindustrie mit. In San Francisco haben wir eine Strategie entworfen. Wir organisierten also eine Konferenz, zu der wir 400, 500 Leute erwarteten. Es kamen über 3 500! Es war phantastisch zu sehen, wie sich diese Kampagne entwickelte: in der Arbeiterbewegung oder auch unter den Studenten. Künstler schrieben Lieder, es gab Theaterstücke, es wurden Kunstwerke zu diesem Thema geschaffen.

Das alles entwickelte sich relativ schnell. Aber ich glaube, wir müssen Mittel finden, diese Bewegung langfristig am Leben zu erhalten. Wir dürfen nicht zu ungeduldig sein. Wir dürfen nicht erwarten, morgen schon Ergebnisse auf dem Tisch zu haben.

Arnold Schölzel: Von unten anfangen, eine Strategie haben. Nicht nur das ist ein Punkt, über den sehr schnell Kontroversen ausbrechen. Die Geister scheiden sich auch sehr schnell, wenn es um bewaffneten Widerstand geht. Wo Krieg ist, gibt es auch bewaffneten Widerstand: Wir erleben es, Angela Davis hat es gesagt, innerhalb und außerhalb des Irak. Aber es beginnt eben sehr, sehr tief im Bewußtsein, in dem was Christian Geissler »Umstellung« genannt hat – das Entfernen des Bewußtseins, wenn man so will. Das ist ein weiter Weg bis zur Bewegung und zum Sich-Erheben.

Christian Geissler: Was ich heute morgen gesagt habe von der Umstellung des Menschen und von dem verkauften Kopf widerspricht natürlich dem, was ich hier jetzt erlebe. Die Köpfe sind nicht verkauft, die Köpfe wollen sich selbst, die Köpfe wollen uns, die Köpfe wollen unser Selbstbewußtsein – alles da. Bei mir ist nur der Verdacht, und das ist das, was ich den »Dunkelmann« nannte, daß wir eingekreist sind, während wir hoffen. Diese Erfahrung ist zum Kotzen, und ich möchte die auch gar nicht weiter verbreiten. Aber es gibt Anhaltspunkte für mich dafür, daß wir, die wir Bescheid wissen über die internationale Klassenlage, während wir wissen, eingekreist sind.

Arnold Schölzel: Mag Wompel, deine Analyse war im Grunde ähnlich. Wir haben noch keine Vorstellung, wenn ich das zusammenfassen darf, wie weit bestimmte Besetzungsinhalte des Bewußtseins, Leistung war das Stichwort, Lohnarbeit, verbreitet sind. Wo soll man da bohren?

Mag Wompel: Zunächst eine persönliche Anmerkung: Ich muß einfach einmal loswerden, wie stolz ich bin, zusammen mit Angela Davis auf einem Podium zu sitzen. (Beifall) Angela hat mir aus dem Herzen gesprochen, als sie betonte, daß man Massendemonstrationen nicht mit Bewegung verwechseln dürfe. Die Großdemonstration gegen Sozialraub am 1. November 2003 hat gezeigt, daß Demonstrationen eine wichtige Funktion haben. Aber trotzdem darf man nicht vergessen, daß sie noch lange keine Bewegung darstellen. Was wir jedoch brauchen, ist eine breite Bewegung des Alltagswiderstandes, ist Alltagsverweigerung gegen alle diese Zumutungen. (Beifall)

Im Rahmen meiner Möglichkeiten versuche ich auch, in diese Richtung zu wirken. Seit Jahrzehnten bin ich in meiner Betriebsräte-Arbeit, bei Seminaren, bei Vorträgen immer froh, wenn ich ganz kleine Anhaltspunkte für Veränderung sehe. Und es macht mich immer stolz, wenn jemand aufhört, von sich als »der kleine Mann« zu sprechen – damit fängt es für mich schon an.

Arnold Schölzel: Juan, Sie haben dieses Thema auch angesprochen. Sie haben gesagt, entscheiden wird der Kampf der Ideen, entscheiden wird endlich der Kampf der Werte. Was ist in dieser Hinsicht in Kuba am wichtigsten?

Juan Carlos Frómeta: Ich glaube, gegenwärtig ist es für uns sehr wichtig, Ideen zu säen. Das haben wir auch von José Martí gelernt. Die weltweiten Probleme lassen sich nicht mit Krieg, mit Gewalt lösen: Gewalt bringt immer mehr Gewalt hervor. Die Lösung der Probleme unserer Welt besteht darin, daß wir den Dialog führen, daß wir zur Verständigung kommen, daß wir uns gegenseitig achten – auch wenn der andere anders denkt oder andere Alternativen anstrebt. Wir sind darauf vorbereitet. Wir meinen aber auch, daß die kubanische Revolution 46 Jahre lang nicht nur für das kubanische Volk, sondern auch für alle anderen Völker der Welt gehandelt hat. (Beifall) In diesem Sinne könnten wir viele Ideen beitragen. Man muß sich immer wieder fragen, was man tun kann unter schlechtesten ökonomischen Bedingungen. Man kann alles tun, wenn man den Willen dazu hat. In Haiti wurde im vergangenen Jahr der Präsident durch einen Militärputsch hinweggefegt, es bestand die Gefahr einer Invasion. Dann gab es eine Naturkatastrophe, bei der Tausende Haitianer ihre Wohnungen verloren. Was taten die Industrieländer? Sie haben wenig Hilfe geschickt. Aber Kuba hat trotz seiner schwierigen Situation 400 Ärzte geschickt, die dort noch längere Zeit arbeiten werden. Welches Land der Welt außer Kuba bringt es fertig, so viele Ärzte zu entsenden, die nicht in den Hauptstädten der unterentwickelten Länder, sondern dort eingesetzt werden, wo sie das Leben der Bauern teilen?

Wie schafft Kuba das? Insgesamt mehr als 23 000 kubanische Ärzte sind in Afrika, in Mittelamerika oder Venezuela tätig. Das ist so, weil die Revolution, die 1959 siegte, Ideen gesät hat, weil sie Bewußtsein gesät hat, weil sie die Leute gelehrt hat, über die Welt von morgen nachzudenken. Und nicht nur an sich selbst zu denken, sondern daran zu denken, daß wir das Wenige, das wir haben, mit anderen Völkern teilen. Ich glaube, dies ist eines der großen Dinge, die wir in Kuba gelernt haben: das Meine gehört nicht nur mir. Der Kampf ist nicht nur mein Kampf. Alles, was ich habe, das Wenige was ich habe, gehört auch anderen. Mein Sieg ist auch der Sieg der anderen. Und deshalb werden wir nicht nachlassen in unserem Kampf und Internationalisten bleiben. Wie Fidel sagte: Internationalist zu sein bedeutet, unsere Schuld gegenüber der Welt abtragen.

In schwierigen Momenten hat auch Kuba sehr viel Solidarität erfahren, wofür wir immer dankbar sein werden. Und trotz aller Schwierigkeiten werden wir immer anderen Völkern der Welt helfen. (Beifall)

Mag Wompel: Ich habe eine zweite persönliche Anmerkung zu machen. Ich weiß, daß sie etwas kritisch ist, aber ich bin davon überzeugt, daß wir nur dann vorankommen, wenn wir auch unsere bisherigen Fehler und Probleme offen ansprechen. Ich hoffe, daß es richtig verstanden wird, weil ich sehr solidarisch mit Kuba bin. Ich war mehrfach da, habe Betriebe besucht und mit Stadtteilgruppen gesprochen. Gerade deswegen liegt es mir am Herzen, kubanischen Genossen einen gutgemeinten solidarischen Rat zu geben (den ich übrigens auch schon dem Bruder von Fidel Castro bei einer internationalen Gewerkschaftskonferenz in Havanna gegeben habe): meines Erachtens besteht das beste Stärkungsmittel des Widerstandes der kubanischen Revolution darin, beispielhaft die Menschenrechte einzuhalten, auf Meinungsfreiheit zu achten und die Menschenwürde hochzuhalten. Wenn zum Beispiel Kinder frei im Internet surfen könnten, würden sie von selbst merken, wie stark die Errungenschaften der kubanischen Revolution sind und vielleicht mit 300facher Kraft für sie kämpfen. Wie gesagt, ich hoffe, das wird als solidarischer Hinweis verstanden und nicht als eine Anklage – ich weiß, in welchem Raum ich das sage. (Beifall)

Juan Carlos Frómeta: Ich nehme den Ratschlag an. Die Revolution hat uns gelehrt, auch Vertretern anderer Standpunkte zuzuhören. Kuba ist ein Land, das in den letzten 46 Jahren seiner Revolution viel getan hat für die Menschenrechte, nicht nur des kubanischen Volkes, sondern auch anderer Völker. (Beifall)

Und für uns ist auch Lesenkönnen ein Menschenrecht. Wie viele Menschen in der Welt wissen, wie man das Wort Menschenrechte schreibt? Daran müßte man auch denken. Kuba hat in den 46 Jahren seiner Revolution in verschiedener Hinsicht viel erreicht: Ökonomisch, politisch, finanziell, militärisch. Ich kann dir z.B. sagen, daß Kuba, das nur wenige Millionen Einwohner hat, bei der letzten Olympiade den 11. Platz erreichte. Auf dem Gebiet des Gesundheitswesens haben wir im vergangenen Jahr bei der Säuglingssterblichkeit den Wert 5,8 [Zahl der im 1. Lebensjahr gestorbenen Kinder auf 1 000 Lebendgeburten – d. Red.] erreicht. Wir sind ein Land, in dem alle zur Universität gehen können, ein Land, in dem Beschäftigung geschaffen werden konnte. Viele Kubaner erhalten Stipendien während ihres Studiums. Und während heute in vielen Ländern neoliberale Politik betrieben wird, ist es uns gelungen, das Gesundheitswesen auf der Kreisebene zu verankern und so allen bessere Behandlungsmöglichkeiten zu bieten: In den Polikliniken werden von Hausärzten Behandlungen angeboten, die es früher nur in Krankenhäusern gab. Und das alles geschieht unter den schwierigen Bedingungen, unter denen das Land heute lebt. Es ließen sich viele weitere Beispiele dafür anführen, was Kuba verglichen mit anderen Staaten auf dem Gebiet der Menschenrechte getan hat. Etwa die kubanischen Ärzte, die heute in der ganzen Welt im Einsatz sind. Seit bereits mehr als 15 Jahren finden Alphabetisierungskampagnen mit kubanischer Hilfe statt, etwa in Venezuela. Wir haben also immer dafür gekämpft, die Menschenrechte in Kuba zu verbessern und sind stets auch für die Verbesserung der Menschenrechte in anderen Ländern eingetreten. Und ich möchte die Anwesenheit von Angela Davis hier nutzen, um auf etwas Wichtiges hinzuweisen. Seit fünf Jahren gibt es die Internationale Schule der Medizin in Havanna. Nach dem Hurrikan Mitch, der im Oktober 1998 in verschiedenen mittelamerikanischen Ländern starke Schäden angerichtet hat, konnten mehr als 6 000 Studenten aus Mittelamerika, aus Afrika und auch aus den USA, aus den ärmsten Gebieten, nach Kuba kommen, um dort kostenlos zu studieren. Diese Kosten übernimmt der kubanische Staat. (Beifall)

Auch die Internationale Sportschule, wo Tausende Jugendliche aus lateinamerikanischen und anderen Ländern kostenlos studieren, besteht nach wie vor in Kuba. Und so könnten wir Tausende weitere Beispiele dafür anführen, was auf dem Gebiet der Menschenrechte getan wurde, nicht nur in Kuba selbst, sondern in den verschiedensten Ländern weltweit.

Angela Davis: Ich möchte nur noch etwas hinzufügen zu den Errungenschaften, die Sie gerade genannt haben: In den USA gibt es viele arme Jugendliche, die aus rassistischen Gründen benachteiligt sind und die nie in der Lage wären, auf ein College zu gehen. Wir haben Studenten aus den USA, die von der kubanischen Regierung unterstützt worden sind, die an der Internationalen Schule Medizin studieren, dazu ausgebildet werden, Ärzte zu sein. Sie werden in die USA zurückkommen und dann dort in Bezirken praktizieren, in denen die USA-Regierung keine medizinischen Dienstleistungen zur Verfügung stellt. So profitieren sogar wir von den Errungenschaften der kubanischen Revolution.

Arnold Schölzel: Iván Morales, Sie haben geschildert, warum Menschen sich in Bolivien erhoben haben. Ich erinnere an das Stichwort »Wasserkrieg«. Aber Sie haben es auch in einen größeren Kontext gestellt: Es war nicht einfach Widerstand gegen das Unrecht, gegen den Versuch, Menschen das Recht auf Leben zu nehmen. Es steht mehr hinter Ihrer Bewegung und hinter anderen. Es geht um ein anderes Verhältnis zur Gesellschaft, zur Natur, sagten Sie. Welche Rolle spielen solche Ideen, der Kampf auch um Menschenrechte in Ihrer Bewegung?

Iván Morales: Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich zu den Menschenrechten in Kuba sagen, daß Kuba zweifellos ein Beispiel für ein Land ist, in dem die Mehrzahl der Einwohner eine unbeschreibliche menschliche Entwicklung erreicht hat. Wenn die ökonomische Blockade durch die USA überwunden werden könnte, dann wären diese Errungenschaften noch weitaus größer. (Beifall)

Nun müssen wir uns bewußt sein – und das sind auch ideologische Überzeugungen der Bewegung, die ich vertrete, der Bewegung zum Sozialismus –, das die Haltung des Menschen zur Natur nicht perfekt ist. Deshalb wird es uns auch nicht gelingen, perfekte Gesellschaften zu errichten. Alle, die wir hier sind, haben wir unsere schlechten und unsere guten Seiten. Es geht darum, ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen den Menschen wie auch zwischen dem Menschen und der Natur. Angesichts der Fortschritte auf unserem Planeten werden wir in 200 Jahren sicherlich über Naturschätze verfügen, um allen, die leben, die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen. Hierfür kämpft die Bewegung zum Sozialismus: Sie verteidigt die Umwelt, den Planeten Erde. Unser Kampf muß ausgewogen sein, der Kampf um soziale Errungenschaften muß in ausgewogener Beziehung zu diesem Kampf um die Erhaltung der Natur stehen. (Beifall)

Arnold Schölzel: Allan Whalley, mit Chumbawamba stehen Sie für eine Band, die Politik und Kunst, Politik und Musik in einer besonderen Weise verbindet. Was ist für Sie das Motiv zu versuchen, mit der Kunst Menschen zu Widerstand zu bringen?

Allan Whalley: Eine ähnliche Frage wurde Angela vorhin gestellt. Natürlich könnten wir einfach nur schöne Popmusik machen. Es sind aber zwei Dinge passiert. Das eine war etwas Persönliches, was viele hier wahrscheinlich ähnlich erlebt haben: Sie sind wachgeworden, haben die Zeitung gelesen, Fernsehen gesehen. Und plötzlich ist man wütend darüber, was in der Welt geschieht. Oder ich bin auf die Straße gegangen, habe jemanden betteln sehen, weil er nicht genug verdiente, um leben zu können – und ich hatte das Gefühl, daß ich als Künstler darüber schreiben muß. Das war das erste. Und dann gibt es noch eine zweite Ebene, und die betrifft, wie Angela bereits sagte, die Rolle, die die Kultur dabei spielen muß, Ideen zu verbreiten, Ideen international bekannt zu machen. Viele Jahre hindurch haben wir Popmusik gemacht, bei der viele junge Leute einfach nur Spaß hatten und rumgehopst sind. Und ich glaube, da hat es sich ganz natürlich ergeben, daß wir junge Menschen auch politisieren wollten. So ist das mit uns passiert.

Jude Abbott: Ich kann dem nur zustimmen. Wenn wir von einer Bewegung und vom Widerstand usw. sprechen, dann ist das so, als ob wir etwas in Kategorien einordnen wollten und sagen würden: Tanzen, Musik, Singen ist in der einen Kiste und Widerstand in der anderen. Ich glaube, man kann das nicht so trennen. Man kann nicht sagen, jetzt habe ich Spaß und zu einem anderen Zeitpunkt kämpfe ich. Ich glaube, diese beiden Dinge sind etwas, was einfach zusammengehört. Das ist wirklich das Wichtige an der Sache. (Beifall)

Arnold Schölzel: Christian Geissler, was ist es denn, was die Kunst denen, die politisch werden wollen, sagen kann. Du hast heute morgen sehr viele zum Nachdenken gebracht. Vieles von dem, was heute hier passiert ist, hat das schon etwas widerlegt. Wie ist das mit der Kunst und der Bewegung?

Christian Geissler: Das, was ich unter Kunst verstehe, ist eine Arbeit der Konzentration und der Schönheit. Und das gehört zusammen in jedem Kampf. Es ist auch ein Kampf, ein Wort und einen Wortrhythmus und eine Wortmusik zu schreiben. Also kann man es durchaus vergleichen mit dem, was allen bevorsteht, die konzentriert arbeiten und kämpfen und zu Schönheit kommen wollen: daß auch aus der Kunst ihnen was zukommt. Wenn sie denn gut gearbeitet ist – es gibt ja viel Schlamperei und viel Faulheit. Heute morgen war es mir ein bißchen peinlich, Ihnen oder Euch das zuzumuten: Es war ein konzentrierter Text, den ich für richtig halte. Aber der ist nicht einfach. Und das Einfache ist manchmal das nicht Wichtige. Ich habe versucht, es genau zu machen, und das nenne ich künstlerisch arbeiten.

Das hat jetzt nichts mit der Frage zu tun, die Arnold mir gestellt hat. Aber mir liegt etwas auf der Zunge, seit ich dem Genossen aus Kuba zugehört hatte. Also, die Kraft von Kuba ist zum ersten die Kraft des Volkes, die revolutionäre Kraft des Volkes. Die Geschichte dieser Kraft, die Geschichte aus 40 Jahren ist überhaupt nicht wegzudenken von der Solidarität der Sowjetunion, der Kraft der Sowjetunion. (Beifall) Wir dürfen uns doch nicht vormachen, daß wenn wir nur das Gute wollen und massenhaft das Richtige, nämlich die Befreiung, wollen, daß es egal ist, ob es eine Kraft gibt, die uns hilft oder nicht. Das ist doch auch ein materialistischer Gedankengang. Wir werden doch nicht frei, weil wir gute Menschen sind. Und das weiß ich noch genau, das weiß der Genosse Frómeta – der hat übrigens in Kiew studiert. Jedenfalls will ich überhaupt keine Propaganda machen für irgendwas. Aber ich will sagen, wir sollen materialistisch einschätzen, wie es zum Kampf nicht nur, sondern zum Sieg kommt. Und wie es zum Duchhalten kommt. Und Kuba hat auch durchgehalten über die Solidarität mit der Sowjetunion bzw. durch die Solidarität sowohl der Sowjetunion als auch der DDR mit Kuba. (Beifall) Und zwar Jahr für Jahr. Und das sage ich wirklich nicht, um die Kraft des einzelnen Kubaners oder der einzelnen Kubanerin, der kämpfenden, zu schmälern, überhaupt nicht. Ich sage es nur, damit wir die Sache realistisch sehen. (Beifall)

Arnold Schölzel: Ein bißchen kommen wir immer wieder auf das Grundproblem zurück, auf diesen Faden, wie wir es vorhin genannt haben, der Rosa-Luxemburg-Konferenzen, den weltumspannenden Krieg und den Widerstand dagegen. Christian Geissler sagt, ohne eine materielle Kraft gibt es keinen Widerstand. Dazu gehört aber auch Kunst, gearbeitete Kunst. Also es bedarf mehr als der Hoffnung. Aber Hoffnung, denke ich, ist sehr entscheidend, damit Widerstand anfängt. Angela Davis, Sie haben das vorhin besonders unterstrichen: Ohne diese Hoffnung würden die Menschen nicht auf die Straße gehen, z.B. auch nicht gegen Todesstrafe, gegen das, was Sie den industriellen Gefängniskomplex nennen, arbeiten. Wie kommen wir von der Hoffnung zum Widerstand?

Angela Davis: Das ist die entscheidende Frage. Ich möchte hinzufügen, daß wir auch mehr Phantasie brauchen, und ich glaube, daß Kunst eine wichtige Rolle spielt bei der Entwicklung der Phantasie und dabei die Menschen dazu zu bringen, daß sie über die gegenwärtige Situation hinausdenken, daß sie sich eine andere Welt vorstellen. Das ist eine der größten Herausforderungen. Natürlich reicht es nicht aus, wenn wir uns eine andere Welt nur vorstellen, dadurch wird sie noch nicht anders. Aber ohne diese Hoffnung, ohne diese Vorstellungskraft haben wir kein Ziel, das wir anstreben können. Wie entwickeln wir Kraft? Das geht zurück auf die Fragen, die wir während der vergangenen anderthalb Stunden diskutiert haben. Es tut mir leid, daß ich nicht die Möglichkeit hatte, alle Beiträge zu hören. Ich habe Kalifornien nach meiner letzten Unterrichtsstunde verlassen, und ich habe es nicht geschafft, rechtzeitig zu Beginn der Konferenz hier zu sein. Ich bin erst am Nachmittag hier angekommen, freue mich aber sehr, daß ich noch teilnehmen konnte. Wie entwickeln wir Stärke? Wir entwickeln organisatorische Stärke, wir entwickeln Mut, der auch materielle Dimensionen hat. Und wir entwickeln Verbindungen zwischen Organisationen, wir entwickeln ein Gefühl der Solidarität, daß uns mit denen verbindet, die im globalen Süden leben und kämpfen und arbeiten.

Es gibt da eine marxistische Arbeit zum Warenfetischismus, die wirklich hierher paßt. Wir tragen die Produkte, die von jungen Mädchen in Ländern wie Indonesien, Korea, überall in Asien, Lateinamerika hergestellt wurden. Wir tragen ihre Stärke, ihre Arbeit, ihre Tränen auf unserer Haut. Das stellt unsere Verbindung zu diesen jungen Mädchen her, unsere Verbindung zu dieser weltweiten Arbeitskraft. Die Herausforderung besteht darin, diese Beziehung auf eine andere Grundlage zu stellen. Die Annahme zu unterlaufen, daß wir diese Beziehung nur aus der Sicht der Verbraucher sehen können. Und es geht meiner Meinung nach darum, Organisationen zu entwickeln, die entsprechende Verbindungen haben, so daß Aktivisten der Arbeiterbewegung sich einschalten in die Arbeitskämpfe in Indonesien, speziell auch angesichts der furchtbaren Katastrophe dort. Wir haben jetzt diese enorme Geschwindigkeit des Informationsaustausches und die Möglichkeiten des globalen Kapitalismus, die moderne Technik zu verwenden. Wir sollten das auch tun. Wir sollten enge, feste Beziehungen aufbauen zwischen dem globalen Süden und dem Norden. Die Arbeiterbewegung muß sich auch dieser Herausforderung stellen. Wie viele Mitglieder von Gewerkschaften, von Arbeiterorganisationen treten ein für die Rechte jener jungen Mädchen und Frauen, die dazu gezwungen sind, für transnationale Unternehmen zu arbeiten? Nike ist das beste Beispiel, es ist aber nur eines von vielen. Und diese Unternehmen tragen die Verantwortung dafür, daß die Arbeitskräfte in ihren eigenen Ländern zerstört werden. Ich kenne mich mit der gegenwärtigen Situation in Deutschland nicht so gut aus, bin also nicht sicher, inwieweit die hiesige Arbeiterbewegung gegenwärtig diese globale Solidarität entwickelt. Wenn das getan wird, dann sollte man sich hier noch wesentlich stärker engagieren. Und es wäre gut, wenn wir in den USA mehr darüber hörten, weil es uns vielleicht inspirieren könnte. Aber wenn es Anstrengungen in dieser Richtung gibt, dann kann ich nur sagen, es sind noch sehr viel mehr Anstrengungen dieser Art nötig.

Arnold Schölzel: Ich wollte hinzufügen, daß das, was Angela Davis zum Schluß gesagt hat, etwas sehr Entscheidendes ist – wenn nämlich diese Kraft der Hoffnung zu einer Kraft des Wissens wird, des Wissens, daß eine Alternative möglich ist. Ich glaube, ich darf das, was Sie gesagt haben, so interpretieren. Ich glaube, dieser Tag heute hat Beispiele dessen gezeigt, was auf der Welt existiert an Versuchen, über Alternativen zu dem grauenhaften Zustand, in dem sich diese Welt befindet, nachzudenken (...).

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