»Verwundbarkeit des Kapitals aufzeigen«
Von Simon ZeiseDie NATO zieht von einem Krieg in den nächsten. Welche wirtschaftlichen Triebkräfte führen zu den verschärften Rivalitäten?
Es gibt eine systemische und internationale Perspektive. Das schwache Wachstum im Westen nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007/2008 hat zusammen mit dem Aufstieg Chinas zu Spannungen in der Weltwirtschaft geführt. Ein Zeichen für die Schwäche ist beispielsweise, dass der Anteil der produzierten Güter sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der EU stark zurückgegangen ist, und dies zusammen mit dem Wachstum Chinas, dem Hauptproduzenten der Welt. Es gibt einen wichtigen Zusammenhang, der oft unterschätzt wird. Das Augenmerk bei den NATO-Kriegen wird hauptsächlich darauf gelegt, dass sich der Westen Ressourcen aneignen und Marktanteile für Konzerne ausweiten kann. Aber der Rolle der Arbeit wird in diesem Prozess nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Wir wissen zum Beispiel, dass der sogenannte Krieg gegen den Terror 60 Millionen Menschen auf der Welt aus ihren Heimatländern vertrieben hat. Man muss sich fragen: Ist das nur das Nebenprodukt dieser Kriege, oder war es eines der Hauptziele?
Wie sichern sich westliche Monopole ihre Profite?
Die NATO-Interventionen haben die Einflusssphäre westlicher Konzerne ausgeweitet. Sie erheben Anspruch auf die Ausbeutung günstiger Arbeitskräfte. Sogar Zwangsarbeit wird ihnen ermöglicht. Entweder gelingt es ihnen im Ausland durch Auslagerung von Konzerngliederungen oder im Westen durch die Einwanderung von Arbeitsmigranten. Ich habe einige Nachforschungen über den Angriff der NATO 2011 in Libyen angestellt. Wenn wir uns die Auswirkungen des Krieges ansehen, sehen wir, dass die neokoloniale Ausbeutung, die auf den Krieg folgte, eine wachsende Zahl von Menschen dazu gebracht hat, Libyen zu verlassen, das zuvor eines der wichtigsten Einwanderungsländer in Afrika war. Zudem zielt die Militarisierung der EU-Grenzen im Mittelmeer darauf ab, die Einwanderung zu stoppen. Die Menschen werden in Libyen festgehalten, und gleichzeitig wird ihnen keine andere Wahl gelassen, als über Netzwerke von Menschenhändlern nach Europa zu gelangen. Bei ihnen handelt es sich um die gleichen Menschen wie in den von der Europäischen Union finanzierten Institutionen libysche Migrationsbehörde und libysche Küstenwache. Die Europäische Union gibt Millionen für Technologien aus, mit denen sie Menschenrechtsverletzungen in Libyen finanziert. Aber Brüssel ist nicht bereit, Geld für die Integration von Einwanderern und Flüchtlingen auszugeben. Und diese Wirtschaftsform ist für den EU-Imperialismus funktional, weil sie die Gewinnung von Ressourcen und Arbeitskräften aus Libyen ermöglicht, deshalb wollen sie die Menschen dort halten. Sie wollen ihnen nicht erlauben, in ihre Heimat zurückzukehren oder einen anderen Platz zum Leben zu finden – auch nicht außerhalb Europas.
Spielen Konzerne und Regierungen die Arbeiter in der EU und die Migranten gegeneinander aus?
Es gibt keine Rivalität zwischen Beschäftigten in der EU und im globalen Süden. Die Bedingungen der Arbeiterklasse sind auf globaler Ebene eng miteinander verbunden. Der neoliberale Prozess der Verlagerung der Produktion ins Ausland hat einen Deregulierungstrend in Gang gesetzt, der in der Konkurrenz um Löhne und Arbeitsbedingungen mündet – im globalen Süden genauso wie in Westeuropa. Wir sehen, dass selbst in reichen Ländern, wie zum Beispiel Deutschland, die Zahl der Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit in Armut lebt, zunimmt, und auch die Beschäftigten in sogenannten Normalarbeitsverhältnissen mit deregulierten Arbeitszeiten usw. konfrontiert sind. Aber es ist auch klar, dass die Auswirkungen dieses Prozesses in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind und dass in westlichen Ländern etwa Gesetze erlassen werden, um Arbeiter daran zu hindern, gemeinsam zu kämpfen. Ich denke insbesondere, dass die Rolle der Einwanderungsbeschränkungen und der Rassismus gegen Migranten Teil dieser Strategie sind, weil sie die Organisierung der migrantischen Arbeiter erschweren. Barrieren gegen Flüchtlinge erzeugen eine Rivalität zwischen den Arbeitern und schwächen die Arbeiterbewegung.
Welche wirtschaftlichen Ursachen führen zur verschärften Ausbeutung in Europa? Wie bewerten Sie die europäische Währungsunion in diesem Zusammenhang?
Ich denke, wir müssen einordnen, welche Auswirkungen die Euro-Zone auf globaler und regionaler Ebene hat. Die Einführung des Euro hat den südlichen Mitgliedstaaten die Möglichkeit verbaut, die steigenden Arbeitskosten durch Abwertung der eigenen Währung auszugleichen und somit wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber der Euro senkte auch die Transaktionskosten und beseitigte Wechselkursunsicherheiten. Die Währungsunion beschleunigte die Internationalisierung von westeuropäischem Kapital und Kapitalflüssen in neue Mitgliedstaaten in Osteuropa und nach Asien. Der Euro hat also eine wichtige Rolle bei der Expansion des westeuropäischen Kapitals gespielt und auch bei der Vertreibung von Arbeitern in Osteuropa und im globalen Süden. Dadurch wurde die Einwanderung nach Westeuropa beschleunigt. Die Schuldenkrise und die Austeritätspolitik in Griechenland sind ein prägnantes Beispiel. Die Länder der EU-Peripherie wurden hart getroffen. Die Politik der Entwertung der Arbeitskraft, Arbeitskosten zu senken, indem Druck auf das Lohnniveau und Arbeitsbedingungen ausgeübt wurde, wurde in den südlichen EU-Staaten durchgesetzt, damit die westlichen Staaten ihren Wettbewerbsvorteil durchsetzen konnten – in der EU und auf dem Weltmarkt. Sie laden der Arbeiterklasse die Kosten auf.
Gibt es Formen der internationalen Zusammenarbeit zwischen Arbeitern und Gewerkschaftern für Frieden und soziale Rechte?
Ich denke, dass die Prozesse der Umstrukturierung, Einwanderung usw. wirklich zu einer Transformation der Arbeiterklasse in Europa und einem Prozess der Internationalisierung der Arbeiterklasse geführt haben, in dem ein großes Potential steckt. Wir sehen bereits neue Formen der Solidarität entstehen. Wie zum Beispiel internationale Kampagnen: »Make Amazon pay« etwa – verschiedene Gewerkschaften in Deutschland, Frankreich, den USA, Japan und Italien organisierten koordinierten Widerstand am weltweiten Schnäppchentag »Black Friday«. Ein weiteres Beispiel, das wir während des Gazakrieges im Mai gesehen haben, war die »Block the Boat«-Kampagne, in deren Zuge Aktivisten israelische Schiffe am Auslaufen in Häfen in den USA, in Südafrika und in Italien gehindert haben. Es sind internationale Aktionen, die die Verwundbarkeit des Kapitals aufzeigen. Selbst kleine Gruppen von organisierten Arbeitern können eine starke zerstörerische Kraft auf Lieferketten haben. Das konnte man gut in Italien beobachten. Dort waren es in den vergangenen 15 Jahren hauptsächlich Migranten, die gegen Kürzungen gekämpft haben. Sie arbeiten in Bereichen, wo ein hoher Ausbeutungsgrad herrscht, beispielsweise in der Logistik und in der Landwirtschaft. Sie konnten Lieferketten durch Streiks und Blockaden unterbrechen. Dadurch gelang es ihnen, echte Verbesserungen zu erzielen. Weil sie so effektiv waren, sind sie mit zunehmender Repression und Gewalt konfrontiert. Diese Art von Bewegungen sind in der Lage, die Rolle des Krieges in der Weltwirtschaft, die Bedeutung der verschärften Einwanderungspolitik gegen Migranten und des institutionellen Rassismus zu thematisieren. Leider haben sie keine Unterstützung von den etablierten Gewerkschaften erhalten, die oft eher an der Seite von multinationalen Konzernen stehen. Wir brauchen eine stärkere antirassistische, antiimperialistische und antikapitalistische Bewegung. Die Internationalisierung der Arbeiterklasse ermöglicht es uns, in Kämpfen solidarisch zu sein. Ich hoffe auf mehr solcher erfolgreicher Kämpfe in der Zukunft.
Zur Person: Lucia Pradella
Lucia Pradella lehrt Internationale Politische Ökonomie am Kings College in London. Sie studierte Philosophie, Sozialwissenschaften und Migrationswissenschaft an der Universität Venedig Ca’ Foscari und der Berliner Humboldt-Universität und arbeitete mit an der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). In ihrem Forschungsprogramm befasst sie sich mit der Globalisierung und dem Wandel von Arbeit und Armut in Europa. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Überwindung der Probleme des methodologischen Nationalismus und des Eurozentrismus. Lucia hat ausführlich zu den theoretischen und historischen Grundlagen der Internationalen Politischen Ökonomie, zur Gesellschaftstheorie und zum Verhältnis zwischen Kapitalismus und Imperialismus geforscht. Darüber hinaus hat sie sich mit zeitgenössischen Verarmungs- und Weltwirtschaftskrisen beschäftigt, mit einem Fokus auf »Working Poor« und Immigration in Westeuropa. Derzeit untersucht sie die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitsbeziehungen und -bedingungen in den metallverarbeitenden Sektoren in Großbritannien, Deutschland, Italien und Entwicklungsländern wie China. Sie ist Autorin für die britische Tageszeitung The Guardian und für das sozialistisch orientierte US-Magazin Jacobin.
Lucia Pradella referiert auf der XXVII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz zum Thema »Primat der Ökonomie: Hochrüstung und verschärfte Ausbeutung«. (jW)
Abonnieren Sie den Konferenz-Newsletter