Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Sa. / So., 21. / 22. Dezember 2024, Nr. 298
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025

Zeit des Erwachens

Der Dokumentarfilm »Die große Lüge« über den politischen Feldzug gegen Jeremy Corbyn ist ein Lehrstück und Kampffanal für die Linke in der Krise
Von Susann Witt-Stahl
Einst Hoffnungsträger der Arbeiterklasse: Jeremy Corbyn (Filmstill »The Big Lie«)

Das Triumphgeheul war ohrenbetäubend nach Jeremy Corbyns historischer Niederlage bei der Parlamentswahl 2019. »Die Bestie ist erschlagen«, jubelte Joe Glasman, ein fanatischer Zionist. Er ist Propagandist eines der »drei Bataillone«, wie der Labour-Linke Moshé Machover die Anti-Corbyn-Allianz nennt, die gesiegt hatten: »Die Israel-Lobbyisten lieferten mit Antisemitismusvorwürfen die ideologische Munition.« Die Labour-Rechte, die den Parteiapparat und die Parlamentsfraktion kontrolliert, habe von innen Sabotage betrieben. Aber das mächtigste Bataillon, so Machover weiter, sei das britische Establishment, das die geballte Feuerkraft seines Mediensturmgeschützes entfaltet hatte.

»Corbyns Antiimperialismus, seine Ablehnung der NATO und des Einsatzes von Atomwaffen und seine Solidarität mit den Palästinensern – dieser Bruch mit dem überparteilichen Konsens in der britischen Außenpolitik hat die herrschende Klasse in helle Panik versetzt«, erklärt Andrew Murray im Gespräch mit jW, warum das Establishment der Labour-Linken ein Waterloo bereitet hat. Murray war Corbyns Berater, bis zum Sturz durch Keir Starmer 2020. Neben dem Schattenminister Christopher Williamson, Jackie Walker sowie Vertretern von Jewish Voice for Labour gehört er zu den Köpfen der Partei-Linken und ihrer Graswurzelbewegung Momentum, die das Scheitern des Projekts Corbyn in dem Dokumentarfilm »Oh, Jeremy Corbyn. Die große Lüge« (Originaltitel: »The Big Lie«) analysiert haben – am Sonntag findet in Berlin die Weltpremiere statt.

»Ich dokumentiere seit fast 50 Jahren die Entwicklungen in der britischen Arbeiterbewegung und wollte erforschen, was geschehen ist, als ein Sozialist nahe daran war, Premierminister zu werden«, sagt Christopher Reeves vom Produktionskollektiv Platform Films. »Wir wollen der Linken auch warnend vor Augen führen, wie teuflisch weit das Establishment geht, wenn an seiner Macht gerüttelt wird«, ergänzt sein Kollege Norman Thomas.

Zur Aufarbeitung gehört auch eine schonungslose Kritik an gravierenden Irrtümern des eigenen Lagers: Ein sehr großer Fehler sei Corbyns profillose »Brexit«-Politik gewesen, die die bereits getroffene Entscheidung in Frage stellte und letztlich ein Versuch war, die Umsetzung des EU-Austritts zu behindern, meint Murray. Verhängnisvoll sei aber auch der Glaube gewesen, dass man die falschen Antisemitismusvorwürfe loswerden könne, indem man sich entschuldigt, statt diese entschieden zurückzuweisen, betont Reeves. Corbyn habe den Verleumdern »zu sehr nachgegeben und zugelassen, dass viele seiner treuesten Anhänger geopfert wurden«, findet Graham Bash von Jewish Voice for Labour, der nach 53 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei geworfen wurde. »Und so verlangten die angreifenden Hyänen nach immer mehr rohem Fleisch«, beschreibt Moshé Machover eine fatale Konsequenz von Corbyns Appeasementpolitik. Erheblich mitverantwortlich sei die Führung von Momentum, die Jackie Walker und andere propalästinensische Linke abservierte und sich letztlich als »Trojanisches Pferd der Zionisten« erwiesen habe, meint Machover und macht damit deutlich: Die Geschichte der Zerstörung des Corbyn-Projekts ist auch eine Geschichte von Verrat, Täuschung und mangelnder Entschlossenheit.

Dass diese Schwächen maßgeblich den Aufbau einer schlagkräftigen Massenbasis verhindert haben – die einzige Waffe der Arbeiterklasse, mit der die tollwütigen Angriffe der britischen Eliten hätten abgewehrt werden können –, ist eine bittere Erkenntnis, die alle am »Die große Lüge«-Filmprojekt Mitwirkenden teilen. Und so ist es der korrumpierten Labour-Rechten unter Starmer gelungen, die Partei im Ukraine-Krieg »vollständig auf die Seite des autoritären Imperialismus zu manövrieren und jede Form der Zusammenarbeit ihrer Abgeordneten mit der Friedensbewegung zu unterbinden«, nennt Murray eine katastrophale Folge – auch ein tadelnder Eintrag ins Klassenbuch aller Linken in Die Linke hierzulande, die noch von einer solidarischen Verständigung mit den hegemonialen und zunehmend rabiat agierenden NATO-Opportunisten in ihrer Partei träumen.

Das Platform-Film-Kollektiv und seine Mitstreiter begreifen »Die große Lüge« vor allem als Lehrstück. »Es geht darum, die Wahrheit gegen die Macht auszusprechen«, sagt Bash. Der Film soll auch einen Beitrag dazu leisten, dass die Arbeiterklasse wieder lernt, die eigenen Muskeln zu spüren. Dabei besinnt sich Reeves auf die großen Stärken des Ex-Labour-Führers und erinnert daran, dass die Corbyn-Ära auch eine Zeit des Erwachens zum Widerstand der vielen gegen die Tyrannei der wenigen war: »Auf seinen Kundgebungen rief Jeremy den Massen immer wieder zu: ›Nicht vor mir haben sie Angst, sondern vor euch‹ – er hatte recht.«

Welturaufführung: So., 15.1., 14 Uhr, Babylon (Rosa-Luxemburg-Platz), Berlin. Tickets (12 Euro, erm. 8 Euro): 0 30/53 63 55-37, jungewelt-shop.de

Hintergrund: Medienphalanx gegen Corbyn

Gleich nach seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden 2015 holte die westliche Presse zum propagandistischen Vernichtungsschlag gegen Jeremy Corbyn aus. Zunächst mit »Red Scare« (Roter Angst) und Verschwörungsthesen: »Der Quasikommunist« (Politico) Corbyn wurde von der BBC-»Newsnight« in einer Fotomontage als ewiger Handlanger der Sowjets und von Foreign Policy als Stalinistenfreund dargestellt. The Times und andere britische Leitmedien wiederum skandalisierten eine »trotzkistische Infiltration« von Labour unter Corbyn. Vorher hatte der Telegraph ihm bereits »umfangreiche Verbindungen zu Terroristen« bescheinigt. The Sun und andere Boulevardmedien behaupteten, der Labour-Chef habe heimlich eine islamistisch-bolschewistische Allianz mit »dschihadistischen Genossen« geschmiedet.

Als Corbyn bei der Parlamentswahl 2017 dennoch ein hervorragendes Ergebnis erzielte, wurde auf eine zunehmend erfolgreiche Strategie des progressiven Neoliberalismus gesetzt: Die Presse instrumentalisierte den Wertekanon von Antifaschisten und Emanzipationsbewegungen, verkehrte ihn und brachte ihn ideologisch gegen den Labour-Chef in Stellung: Der Guardian bezichtigte Corbyn, »den Rassismus gegen Juden« zu ignorieren. Die Taz sekundierte mit der Würdigung von jüdischen Stimmen vom rechten Labour-Flügel, die ihn als »antisemitischen Rassisten« beschimpften, und Publizisten, die der Partei unter seiner Führung die Duldung von Holocaustleugnern unterstellten. Die Rufmordkampagne auf die Spitze trieb wenige Tage vor der Unterhauswahl 2019 die Daily Mail, als sie Corbyn als »schlimmsten Antisemiten auf dem Planeten« und »größte Bedrohung für die Juden auf der Welt« bezeichnete. (sws)

Abonnieren Sie den Konferenz-Newsletter