75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 21. November 2024, Nr. 272
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €

Wo bleiben die Massen?

Krieg, Krise, Mobilisierung: Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz endet mit Podiumsdiskussion
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der abendlichen Podiumsdiskussion

Die abschließende Podiumsdiskussion steht diesmal unter dem Motto »Kämpfen in der Krise. Der Krieg und die soziale Frage«. Stefan Huth, Chefredakteur von junge Welt, diskutiert mit Melina Deymann, Redakteurin der Wochenzeitung Unsere Zeit, Thilo Nicklas, stellvertretender Vorsitzender des IG-BAU-Bezirksverbandes Köln–Bonn, Christin Bernhold vom Bündnis »Bildung ohne Bundeswehr« und Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke.

Huth leitet die Runde mit einer Frage zur Rolle der Gewerkschaften vor dem Hintergrund des Krieges ein. Melina Deymann sagt, dass die Gewerkschaften kein »Hauptproblem« seien, aber vieles sei problematisch – etwa die Einbindung der Massen in die imperialistische Strategie. Eine Aufgabe sei das Aufbrechen der gedanklichen Trennung von Rüstungsausgaben und sozialen Ausgaben. Das müsse immer wieder betont werden. Man müsse verhindern, dass das Geld in einen der größten Rüstungsetats der Welt gesteckt wird.

Thilo Nicklas berichtet davon, wie die IG BAU in Köln bei Aktionen »Stahl für Brücken statt für Waffen« gefordert habe. Man positioniere sich ganz eindeutig gegen das »Zwei-Prozent-Ziel« bei den Rüstungsausgaben, gegen die 100 Milliarden »Sondervermögen« und gegen Waffenlieferungen. Aber das seien maximal leider immer nur einzelne Gewerkschaften, nie der DGB als Gesamtorganisation. Verdi etwa habe sich in Köln zurückgezogen, als klar war, dass die SDAJ in einem Bündnis mitarbeitet. Beim Antikriegstag am 1. September hätten in Köln immerhin 500 Menschen demonstriert. Wohnen und Preise beträfen alle, es sei unverständlich, warum sich etwa IG Metall und IG BCE aus solchen Aktionen heraushielten.

Christin Bernhold aus Hamburg beklagt die fehlende Basisarbeit im antiimperialistischen und antimilitaristischen Bereich. Antiimperialismus und Antimilitarismus seien lange in linken Strukturen »nicht so wahnsinnig populär« gewesen. Statt dessen sei sehr stark auf Antidiskriminierungspolitik gesetzt worden, wobei sich vor allem eine linksliberale Diversitätspolitik durchgesetzt habe. Dazu kämen »antideutsche« Einflüsse, etwa beim Hamburger »Bündnis gegen rechts«, von dessen Spitze aus immer wieder antimilitaristische Kräfte attackiert worden seien. In Hamburg demobilisiere die Linkspartei aktiv die Friedensbewegung, und zwar über die bürgerlichen Medien. Wenn solche Angriffe erfolgen, dürfe man sich nicht mehr wegducken, sondern müssen selber in den Angriff kommen. Es habe zuletzt Anzeichen gegeben, dass sich junge Leute wieder verstärkt für antimilitaristische Themen interessieren.

Sevim Dagdelen distanziert sich ausdrücklich von allen in ihrer Partei, die gegen das Programm verstoßen und Waffenlieferungen und Sanktionen befürworten. Die Waffenlieferungen von heute entsprächen den »Kriegskrediten von 1914«. Sie seien das Eintrittsticket in diesen Krieg. Man stehe vor einem dritten Weltkrieg. In der Ukraine werde ein Stellvertreterkrieg geführt. Der werde verknüpft mit einem »sozialen Krieg« nach innen. Sozialabbau und Krieg seien zwei Seiten derselben Medaille. 2022 habe es die größten Reallohnverluste gegeben, die es jemals in der Geschichte der Bundesrepublik gab. Auf der anderen Seite gebe es riesige Gewinne bei den Konzernen. Von der Regierung werde eine »brutale Umverteilungspolitik« in Szene gesetzt. Wenn die Gewerkschaftsspitzen das nicht thematisierten, dann bräuchten sie sich nicht zu wundern, wenn niemand zu ihren Demos komme. Wer sich nicht zum Kern des Problems äußere, verliere seine Glaubwürdigkeit. Das gelte für die Gewerkschaften und für die Partei Die Linke. Viele Menschen seien angesichts der Dauerbeschallung komplett desorientiert. In Kriegszeiten würden – auch das habe die Kampagne gegen Sahra Wagenknecht nach deren Rede vom 8. September gezeigt – keine Widerworte geduldet.

Melina Deymann will, dass über die Ursachen und Vorgeschichte des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine diskutiert wird. Der habe nicht damit begonnen, dass Russland am 24. Februar die Grenze überschritten habe. Sie verweist auf den NATO-Krieg gegen Serbien, die Ausdehnung der NATO nach Osten und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen. In einem breiteren Bündnis müsse man sich auf Mindestforderungen verständigen, und dazu gehöre die sofortige Beendigung dieses Wirtschaftskrieges.

Thilo Nicklas beklagt die Schwäche der gewerkschaftlichen Positionen. Viele Mitglieder hätten nicht den Mut, auf der Straße für ihre Interessen zu kämpfen. Wo bleiben die Massen, fragt er. Er könne nicht verstehen, warum in einer Stadt wie Köln, wo die Hälfte der Menschen einen Wohnberechtigungsschein beantragen könne, nur wenige Menschen zu Mietendemos kämen.

Bernhold sagt, dass man in Deutschland eine Fundamentalopposition neu aufbauen müsse. Die DGB-Spitze stehe im Lager der Bundesregierung, und das komme so in den Betrieben an. Man müsse auf einen politischen Antagonismus setzen, nicht nur in den Gewerkschaften. Wenn breite Bündnisse heißt, da solle jeder mitmachen, dann habe man schnell Bündnispartner wie jene Kampagnenorganisationen, die in ihren Aufrufen »Putin« für alles Übel in der Welt verantwortlich machten. Bernhold betont zum Abschluss, dass man auf die Vorgeschichte des Krieges verweisen könne, aber zugleich sagen können müsse, dass der Krieg in der Ukraine auch im Interesse der herrschenden Klasse Russlands geführt werde – ohne bei einer Position der Äquidistanz zu landen. Sie plädiert abschließend für eine »revolutionäre Realpolitik« in der Friedensfrage.

Sevim Dagdelen betont, dass die zentralen Auseinandersetzungen die Frage der Waffenlieferungen und der Wirtschaftskrieg seien. Da habe man als Linke doch Mehrheiten in der Bevölkerung. Warum könne man sich darauf nicht verständigen? Man könne nicht verlangen, dass jeder Demonstrant sattelfest in Imperialismustheorien sei. Über zwei Millionen Menschen würden von den Tafeln versorgt. Diese Menschen wüssten, warum das so sei. Eine wichtige Aufgabe sei es, »pseudolinke Argumentationen« zu entlarven, mit denen politisch gegen Russland mobilgemacht werde. Eine Folge der Sanktionen seien Hungerkrisen im globalen Süden. Es stehe nun die nächste Waffenstellerkonferenz in Ramstein an, und es sei zu befürchten, dass es da grünes Licht für die »Leopard«-Lieferungen gebe. Für Theoriediskussionen sei jetzt nicht die Zeit.

Der gemeinsame Gesang der Internationale bildet den traditionellen Schlusspunkt der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz, die erstmals von mehr als 3.000 Menschen besucht wurde. (np)

Abonnieren Sie den Konferenz-Newsletter