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»Wir nutzen das Parlament als Tribüne«

Als Sozialistin in der türkischen Nationalversammlung und im konservativen Gaziantep. Ein Gespräch mit Sevda Karaca
Von Nick Brauns und Süheyla Kaplan
»Unsere Hoffnung liegt bei den Arbeitern, die sich auflehnen« (Istanbul, 1.5.2022)

Täuscht der Eindruck, dass der erneute Sieg von Recep Tayyip Erdoğan und seiner islamistisch-faschistischen AKP-MHP-Allianz bei den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai die Opposition in eine tiefe Depression gestürzt hat?

Nachdem in der Pandemie und nach dem Erdbeben das Unvermögen der AKP offensichtlich geworden ist, herrschte bei denjenigen, die ein nur auf Wahlen beschränktes Politikverständnis haben, der Irrglaube vor, diese Partei würde nun die Macht verlieren. Als Partei der Arbeit haben wir dagegen gewarnt, dass ein leerer Kochtopf alleine nicht zum Sturz der Regierung ausreicht. Denn die Wut großer Teile der Bevölkerung sollte nicht in einen nur auf die Stimmabgabe begrenzten Kampf kanalisiert werden. Doch in Anbetracht der ideologischen Hegemonie der bürgerlichen Politik und aller möglichen repressiven Instrumente der Regierung haben wir das Wahlergebnis als nicht so verheerend angesehen. Immerhin hat die Hälfte des Landes deutlich gemacht, dass sie Erdoğan nicht will. Zudem sind inzwischen auch Teile derjenigen, die für AKP-MHP gestimmt haben, unzufrieden. Für arme Menschen, die dieses Bündnis gewählt haben, weil sie von den Diskursen der Herrschenden beeinflusst oder ihre Existenzprobleme durch die Abhängigkeitsbeziehungen dieser bis in die lokale Ebene reichenden Macht gelindert wurden, waren die letzten Monate sehr lehrreich.

Sie haben also weiterhin Hoffnung auf einen Wandel?

Als sozialistische Partei können wir nicht auf Wahlurnen setzen. Unsere Hoffnung liegt bei den Arbeitern, die sich gegen diese miserable Ordnung auflehnen, den Eltern, die sich gegen die reaktionäre Erziehung wehren, den Kurden, die gegen Assimilation und Verleugnung Widerstand leisten, den Frauen, die sich ihre Rechte nicht nehmen lassen. Natürlich gibt es Hoffnung, und diese Hoffnung erhebt jeden Tag ihre Stimme im ganzen Land.

Gab es seit den Wahlen denn größeren Arbeiterwiderstand?

Vor allem in den letzten vier Monaten haben sich landesweit sehr wichtige Arbeitskämpfe ereignet; in diesem heißen Sommer waren wir Zeugen des Kampfes der Arbeiter und Werktätigen gegen Hungerlöhne. Die Bemühungen der gelben Gewerkschaften, diese Wut der Arbeiter zugunsten der Regierung zu kanalisieren, und die mafiösen Methoden, die sie zu diesem Zweck anwenden, sind nicht mehr so effektiv wie früher. Die Proteste von Studenten, denen das Recht auf Bildung genommen wurde und die zu Armut, Obdachlosigkeit und Hunger verurteilt sind, zeigen die Kampfbereitschaft der Jugend.

Für Sie als Sozialistin und Feministin ist es sicherlich eine besonders schwierige Situation in einem Parlament mit einer bis in die Opposition reichenden rechten Mehrheit aus nationalistischen, religiösen und faschistischen Parteien zu arbeiten?

Zunächst möchte ich betonen, dass ich keine Feministin bin. Ich bin einzig und allein Sozialistin. Denn ich denke, dass der Kampf für die Emanzipation der Frauen und die volle Gleichberechtigung nur mit einer ganzheitlichen Perspektive und einer sozialistischen politischen Strategie zur Veränderung der Gesellschaft möglich ist. Mit so einer Positionierung mag es schwierig erscheinen, sich in einem Parlament zu Wort zu melden, das von männlichen, konservativen und prokapitalistischen Persönlichkeiten dominiert wird. Allerdings haben wir von Anfang an nicht damit gerechnet, in diesem Parlament angesichts der zahlenmäßigen Stärke der AKP-MHP-Allianz eine verändernde Kraft zu sein. Es geht uns lediglich darum, unsere Stellung als Parlamentarier zu nutzen und als Sprachrohr für die Werktätigen und Unterdrückten aufzutreten. Das Parlament, dessen Hauptaufgabe die Gesetzgebung sein sollte, hat unter dem Ein-Mann-Regime seine Funktion weitgehend eingebüßt. Selbst die Rolle der Abgeordneten des regierenden Blocks beschränkt sich auf das Heben ihrer Hände. Wir versuchen, das Parlament als Tribüne zu nutzen, um die Forderungen großer Teile der Bevölkerung sichtbar zu machen, ihre Kämpfe zu unterstützen, die volksfeindliche Politik des herrschenden Blocks zu entlarven und ihr entgegenzutreten.

Obwohl sich die Türkei in einer schweren Wirtschaftskrise befindet, werden die sozialen Konflikte weiterhin von kulturellen und ethnischen Auseinandersetzungen überschattet. Wie kann dies durchbrochen werden, um etwa auch religiös-konservative Werktätige für eine klassenkämpferische Politik zu erreichen?

Auch in Europa sind die Rechten trotz Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheit mit der Thematik der Migrationspolitik auf dem Vormarsch. Es handelt sich hier also um ein weltweites Problem im Kapitalismus. In der Türkei wurden Fragen der Religion und der Nationalität in allen Regierungsperioden zur Verschleierung der Verhältnisse benutzt. Es ist notwendig, diese Hüllen zu zerreißen, um den Mitgliedern der Klasse, die Sie als nationalistisch oder konservativ bezeichnen, zu zeigen, was darunter verborgen ist. Die Sozialisten machen dies nicht, indem sie eine dieser Identitäten gegenüber der anderen bevorzugen; sie handeln, ohne eine von ihnen abzuwerten, indem sie die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede betonen.

Wie sind diesbezüglich Ihre Erfahrungen in Ihrem Wahlkreis Gaziantep?

Die AKP versucht, hier eine »Traumstadt« für sich und die Bosse zu schaffen. Dabei werden die Arbeiter unter unglaublichen Bedingungen ausgebeutet. Exportrekorden stehen »Rekorde« an Armut, Verschuldung, Arbeitslosigkeit und mangelnder Bildung gegenüber. Arbeiterfamilien machen drei Viertel der zwei Millionen Einwohner der Stadt aus. Jede dritte Person ist hier nicht versichert und arbeitet in prekären Verhältnissen. Kinderarbeit ist weit verbreitet.

Als ein Ort, an dem dschihadistische Banden offen ihr Unwesen treiben, gilt die Stadt auch als eine Hochburg des Konservatismus. Aber wenn man der Frage der Klassenausbeutung den Vorrang gibt und davon ausgehend die Hand ausstreckt, bleibt die Hand nicht leer: Als Partei der Arbeit sind wir so seit der Wahl zu einem Anlaufpunkt für die Armen, die Arbeiter, die Frauen und die Jugend mit ihren Problemen geworden.

Wehren sich die Arbeiter in Gaziantep gegen die geschilderten Ausbeutungsverhältnisse?

Hier fanden in nur vier Monaten ein Dutzend verschiedener Arbeiterproteste statt. Der sechs Tage andauernde Widerstand von 2.500 Arbeitern in der Fabrik von Şireci wurde vor allem dank der Einheit der Arbeiter und unserer Unterstützung ihres Kampfs gewonnen. Dies machte auch den Arbeitern in den Nachbarprovinzen Hoffnung. In Urfa kämpfen jetzt 500 Textilarbeiter für ihr Recht, einer Gewerkschaft beizutreten. Und sie sagen, dass der Widerstand von Şireci ihnen den Weg bereitet hat. In Antep trafen sich Arbeiter, denen Maschinen in den zu regelrechten Schlachthöfen umfunktionierten Fabriken der Başpınar Organized Industrial Zone Hände oder Arme abgerissen haben, mit unserer Partei. Nun kämpfen wir gemeinsam mit Gewerkschaften und Demokratiekräften gegen dieses System der Arbeitsmorde.

Der kürzliche Machtkampf zwischen dem Verfassungsgericht, das sich für die Freilassung des inhaftierten sozialistischen Abgeordneten Can Atalay aussprach, und dem von Erdoğan unterstützten Obersten Berufungsgerichtshof, der sich dem Urteil widersetzte, offenbart Machtkämpfe innerhalb des Staates. Was steckt dahinter?

Die Atalay-Frage ist zu einer Frage der Demokratie geworden, denn hier zeigt sich die despotische Willkür des Ein-Mann-Regimes. Einige meinen, es gehe um einen Machtkampf zwischen AKP und MHP, aber es ist derzeit nicht möglich, den genauen Konflikt zu erkennen. Deutlich ist jedoch, dass es Bestrebungen gibt, diese Situation für die Diskussion über eine neue Verfassung zu nutzen.

Welchen Nutzen hätte das für die Herrschenden, nachdem das Präsidialsystem schon in der geltenden Verfassung verankert ist?

Erdoğan ist beunruhigt, weil er die Wahl trotz aller Allianzen und politischen Ränkespiele nicht in der ersten Runde gewinnen konnte und die AKP gezwungen war, sich auf die MHP zu stützen. Darüber hinaus ist selbst die derzeitige, von uns als antidemokratisch bezeichnete Verfassung aus dem Putsch vom 12. September 1980 der Regierung zu eng geworden. Sie will Regelungen ändern, die ihr als Hindernisse für die Ausplünderung der natürlichen Ressourcen des Landes, von Bergbaugebieten, Wäldern, landwirtschaftlichen Flächen und Wasservorräten durch Kapitalverbände erscheinen und zu Bezugspunkten für Widerstand werden können.

Erdoğan stellt sich angesichts des israelischen Krieges gegen Gaza als wortgewaltiger Unterstützter der Palästinenser dar. Wie ehrlich ist das?

Wir haben Erdoğans Tränen von Anfang an als Krokodilstränen bezeichnet, denn er weint zwar öffentlich, aber hinter verschlossenen Türken unterstützt er weiterhin Israel. Es geht ihm darum, die religiös empfindsamen Bürger zu beruhigen. Doch es ist unehrlich, von Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu sprechen, während sich die türkischen Handelsbeziehungen mit Israel mehr als verzehnfacht haben und alle Arten von bilateralen Abkommen weiter ausgebaut wurden. Die AKP frisst mit den Wölfen und heult mit den Hirten.

Sevda Karaca Demir gehört dem Generalvorstand der marxistisch orientierten Partei der Arbeit (Emek Partisi – EMEP) in der Türkei an. Die Journalistin arbeitet als Kolumnistin für die sozialistische Tageszeitung Evrensel sowie als Redakteurin für deren Frauenmagazin Ekmek ve Gül (Brot und Rosen), um das sich ein landesweites Solidaritätsnetzwerk für werktätige Frauen gebildet hat. Karaca ist Mitbegründerin des Fernsehsenders Hayat TV, dessen Koordinationskreis sie angehört. Sie hat verschiedene Veröffentlichungen über Marxismus und Frauenbefreiung verfasst.

Bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 zog Karaca für die südostanatolische Provinz Gaziantep auf der Liste der Grünen Linkspartei, die sich inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) unbenannt hat, in die Große Nationalversammlung der Türkei ein

Auf der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz wird Sevda Karaca zum Thema »Die Systemfrage beantworten: Sozialismus als Alternative« sprechen

jungewelt.de/rlk

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