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Eine Option für die Armen

Zu den politischen Veränderungen in Lateinamerika hat auch die Theologie der Befreiung beigetragen
Von Michael Ramminger
Viele Sozialprojekte in Lateinamerika werden von Christen getragen. Hier ein Obdachlosenasyl in Sao Paulo (Brasilien)
Bolivien hat die Erdölindustrie verstaatlicht, in Nicaragua regieren wieder die Sandinisten und Venezuela ist gar auf dem Weg zum »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«: Große Teile Lateinamerikas sind nicht mehr bereit, sich dem Diktat der US-amerikanischen oder einheimischen Konzerne sowie ihrer politischen Sachwalter zu beugen. Zu dieser Entwicklung hat auch die in den 70er Jahren entstandene Theologie der Befreiung beigetragen, über deren Einfluß der brasilianische Theologe Alberto Moreira auf der XII. Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar in Berlin berichten wird.
Millionen Christinnen und Christen haben sich in Lateinamerika in Befreiungsbewegungen und im Kampf gegen Militärdiktaturen engagiert. Sie haben dort nicht nur Gott erfahren, sondern auch strategische Erfahrungen gesammelt, so daß die Theologie der Befreiung zum theoretischen Ausdruck vielfältigen praktisch-politischen Engagements wurde. Die lateinamerikanische Bischofskonferenz brachte das 1968 in Medellín (Kolumbien) auf den Begriff »Option für die Armen« – d.h. die Welt sollte aus der Perspektive der Ausgebeuteten analysiert werden.
In Argentinien, Brasilien, Chile, Nicaragua, Guatemala und El Salvador entwickelte sich in der Folge die »befreiende Kirche« oder die »Kirche des Volkes«, es entstanden »Basisgemeinden«. Theoretische Haupteinsicht der damit verbundenen Theologie war, daß man nicht vom christlichen Gott reden sollte, wenn man dem Elend des Volkes den Rücken kehrt. Sie hatte deshalb zwei Hauptanliegen: Die ideologische Stärkung der in den Befreiungskämpfen engagierten Christinnen und Christen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Kirche, die in den meisten Ländern Teil der Mittelschichten und der Oligarchien war.
Obwohl die Theologie der Befreiung von vielen Bischöfen der »Dritten Welt« unterstützt wurde, war sie vor allem unter Papst Johannes Paul II. und seinem damaligen Chef der Glaubenskongregation, Josef Kardinal Ratzinger, massiver Verfolgung ausgesetzt (wie z. B. der Franziskaner Leonardo Boff oder Ernesto Cardenal, Priester und Kulturminister im sandinistischen Nicaragua). Als später viele Befreiungsbewegungen scheiterten oder Militärdiktaturen durch sozialdemokratische oder andere Befriedungsprojekte ersetzt wurden, gerieten auch die Basisgemeinden in Krisen.
In den 90er Jahren kam es zu einer Renaissance der »Kirche der Armen« und der Befreiungstheologie. Inzwischen hatten sich nämlich auch in Afrika und Asien ähnliche Bewegungen gebildet, die theoretischen Ansätze hatten sich ausgefächert. Vor allem die Frage der Volksgruppenzugehörigkeit, der kulturellen Identität, der feministischen Theologie und der Ökologie traten nun zu den Themen ökonomische Ausbeutung und Unterdrückung hinzu. Allerdings hatte sich einiges geändert: Während es noch eine deutlich marxistische und sozialistische Linie gab, wäre sie heute wohl präziser als »antikapitalistisch« zu bezeichnen.
Bis heute hat sich die Theologie der Befreiung nicht von der Verfolgung durch Kirche und Militärdiktaturen erholt. In vielen Volksbewegungen und Parteien Lateinamerikas, in Afrika und Asien aber sind Christinnen und Christen ein selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil des Widerstandes gegen den neoliberalen Kapitalismus.
Michael Ramminger ist promovierter Theologe und arbeitet am Institut für Theologie und Politik in Münster

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