Gegründet 1947 Sa. / So., 18. / 19. Januar 2025, Nr. 15
Die junge Welt wird von 3005GenossInnen herausgegeben
Aktuell
07.01.2025 19:30 Uhr
Gemeinsam vorm Livestream
Rosa-Luxemburg-Konferenz ausverkauft. jW-Leser laden ein
Nick Brauns
Die 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz (RLK), die am 11. Januar 2025 in Berlin-Wilhelmsruh stattfinden wird, ist bereits ausverkauft. Zu der ganztägigen Veranstaltung, die die Tageszeitung junge Welt mit Unterstützung von über 30 Organisationen, Gruppen und Medien ausrichtet, werden über 3.000 Teilnehmer erwartet.
Nur wenige Restkarten sind gegebenenfalls noch an der Tageskasse zu bekommen. Aber keine Sorge: Wer es verpasst hat, sich rechtzeitig ein Ticket zu sichern oder die Reise nach Berlin nicht antreten will, kann die Beiträge der internationalen Referenten zum Konferenzthema »Das letzte Gefecht – Wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?«, die abschließende Podiumsdiskussion »Kriegstüchtig? Nie wieder! Wie stoppen wir die Aufrüstung in Deutschland?« sowie das Kulturprogramm auch am heimischen Bildschirm oder auf dem Handy mitverfolgen.
Doch so wie die RLK in Berlin für viele eine wichtige Gelegenheit ist, sich alljährlich mit Gleichgesinnten, Freunden und Genossen auszutauschen, so bietet auch der Livestream eine Möglichkeit zum gemeinsamen Verfolgen der Konferenz in der WG, der kommunistischen Parteigruppe oder einem linken Jugendzentrum. In Nürnberg und Würzburg etwa laden Initiativen von jW-Lesern zum Public Viewing auf der Leinwand ein. Dazu gibt es Infotische, Raum für Austausch und Diskussionen sowie Snacks und Getränke.
Der Livestream über jungewelt.de in allen vier Konferenzsprachen – Deutsch, Englisch, Spanisch und Türkisch – ist kostenlos. Da er dennoch wie die ganze Konferenz viel Geld kostet, sind Spenden sehr erwünscht.
06.01.2025 19:30 Uhr
Unter Feuer
Die »Zeitenwende« kommt einem Frontalangriff auf die Arbeiterklasse gleich
Ulrike Eifler
Traditionell bildet die Podiumsdiskussion den Abschluss der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Kriegstüchtig? Nie wieder! Wie stoppen wir die Aufrüstung in Deutschland?«. Wie in den Jahren zuvor haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt vorab vorzustellen. (jW)
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat den öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik verändert. Olaf Scholz leitete daraus eine neue Kriegsgefahr für Europa ab. Die Bundesregierung spricht seitdem von einer »Zeitenwende« und arbeitet unter Hochdruck an den Vorbereitungen eines Krieges gegen Russland: 100 Milliarden Euro Sondervermögen, Wehrpflichtdebatte, Militarisierung des Gesundheitswesens, Stationierung von Mittelstreckenraketen und ein Bundesverteidigungsminister, der ohne jede Zurückhaltung von der neuen Kriegstüchtigkeit Deutschlands spricht. Hinzu kommen Veteranentage, freiwillige Heimatschutzregimenter, Rheinmetall-Werbung in Fußballstadien, Pizzakartons in Tarnfleckfarben und kriegsverharmlosende Animationsfilme im öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehen – all das soll militärisches Denken im Alltag verankern.
Gleichzeitig durchdringt die »Zeitenwende« die Arbeitswelt: Das Lehrpersonal wird dazu verpflichtet, Soldaten in den Unterricht einzuladen. Medienschaffende müssen ihre Arbeit in einem politischen Meinungskorridor verrichten, der sich mehr und mehr verengt. Hochschullehrer werden mittels politischen Listen diszipliniert, wenn sie sich mit ihren protestierenden Studierenden solidarisieren. Pflegekräfte werden auf Katastrophenschutzseminare geschickt, während die Stationen auch ohne diese Seminare schon unterbesetzt sind. Lokführer müssen den Transport der Panzer in die Ukraine sicherstellen. Und die Mitarbeiter in den Jobcentern und Arbeitsagenturen müssen auf der Grundlage einer neuen Kooperation zwischen Verteidigungsministerium und Bundesagentur Arbeitsuchende in die Bundeswehr vermitteln. Im Zuge dieser Entwicklung wird die militaristische Durchdringung der Gesellschaft auf allen Ebenen zu einem Frontalangriff auf die arbeitenden Klassen.
Tarifpolitik unter Druck
Dabei erleben wir, wie sehr die gewerkschaftliche Tarifpolitik unter Druck gerät. Bereits in den ersten Monaten des Ukraine-Krieges hat sich gezeigt, dass der inflationsbedingte Kaufkraftverlust tarifpolitisch nur schwer auszugleichen war. Denn während der Anstieg der Löhne 2022 nahezu unverändert blieb, vervielfachte sich der Anstieg der Preise. Nach Angaben des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) verharrten die Tariflöhne 2024 auf dem Stand von 2016. Gleichzeitig verursachen Inflation, Deindustrialisierung und Sozialabbau ein Klima des Verzichts, das fatale Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat, weil es Rückenwind für die Forderungen der »Arbeitgeber« ist.
Es zeichnet sich bereits jetzt ab, wie sehr Militarisierung und Sozialabbau Hand in Hand gehen. Ein Panzer kostet mehrere Millionen Euro. Jeder Schuss 13.000 Euro. Und ein einziger Schuss aus dem neuen Panzerabwehrsystem »Mells« liegt bei 100.000 Euro. Natürlich sagt die Bundesregierung auch, woher diese Unsummen kommen sollen. So heißt es in der »Nationalen Sicherheitsstrategie«: »Angesichts der erheblichen aktuellen Herausforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushaltes insgesamt zu bewältigen.« Keine zusätzlichen Schulden also, dafür Umverteilung innerhalb des Haushaltes. Damit wird die Sicherheitsstrategie zur Grundlage für eine forcierte gesellschaftliche Debatte über nationale Prioritäten, an deren Ende die Kürzung sozialer Leistungen stehen muss, um die Sicherheit nicht zu gefährden. Die militärpolitische »Zeitenwende« zieht zwangsläufig eine sozialpolitische »Zeitenwende« nach sich, stellte der Armutsforscher Christoph Butterwegge jüngst fest.
Dieser Strategie folgend, kündigt Friedrich Merz bereits die »Agenda 2030« an, während Christian Lindner die notwendigen »Brutalitäten in den Sozialsystemen« fordert. Dass dabei sogar auf die Referenz des ehemaligen Propagandaministers unter Hitler, Joseph Goebbels, zurückgegriffen wird, um die Notwendigkeit von Sozialabbau zu begründen, ist eine neue Qualität in der deutschen Debatte. Von Goebbels stammt das Zitat »Kanonen statt Butter«.
Dem Klimakollaps näher
Gewerkschaften ging es nie »nur« um die Verbesserung der Arbeits-, sondern immer auch um die Verbesserung der Lebensbedingungen. Es ist daher auch für die Welt der Arbeit relevant, dass Aufrüstung und Krieg die ökologische Zerstörung beschleunigen. Beim Abfeuern von Geschossen und Marschflugkörpern und beim Einsatz von Militärflugzeugen, Panzern, Kampfjets oder Militärschiffen werden enorme CO2-Emissionen freigesetzt. Allein der F-35-Kampfjet stößt pro Stunde mehr CO2 aus, als ein Deutscher im Jahr verursacht. Werden solche Emissionsquellen nicht abgeschaltet, lässt sich die Erderhitzung nicht stoppen.
Die britischen Wissenschaftler Linsey Cottrell und Stuart Parkinson schätzen den CO2-Fußabdruck der deutschen Waffenhersteller auf mehr als 3,4 Millionen Tonnen im Jahr; für den gesamten deutschen Militärsektor kommen sie, die Bundeswehr eingeschlossen, auf 4,5 Millionen Tonnen. Das entspricht dem CO2-Ausstoß von etwa einer Million Autos im Jahr. Und der niederländische Klimaforscher Lennard de Klerk errechnete, dass im Ukraine-Krieg allein im ersten Jahr 120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente ausgestoßen wurden. Mit jedem Euro, den die Bundesregierung für die Aufrüstung der Bundeswehr genehmigt, mit jeder Waffenlieferung in die Ukraine oder nach Israel treibt sie die negative Klimabilanz in die Höhe. Mehr Sicherheit bedeutet in Wahrheit mehr Unsicherheit.
Auf Druck der USA hat der Krieg in der Ukraine eine »Gaswende« in Europa beschleunigt, die gerade in Deutschland die Industrie unter Druck setzt und Tausende Arbeitsplätze gefährdet. Die Sanktionspolitik gegen Russland löste den großen europäischen Markt von billigem Pipelinegas aus Russland und band ihn an das US-amerikanische, dreckige und teure Frackinggas. Ein Schritt, der innerhalb nur weniger Monate die Position der europäischen Industrie schwächte und die der USA stärkte. Flankiert wird diese Entwicklung von der gezielten Strategie der USA, die europäische Industrie insbesondere in den Bereichen Autobatterien, Windräder, Solarzellen und Halbleiter abzuwerben. Niedrige Energiepreise und ein umfangreiches Förderprogramm mit üppigen Subventionen – der »Inflation Reduction Act« – schaffen dafür die Bedingungen. Es bräuchte gerade jetzt Investitionen in den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur und den ökologischen Umbau der Industrie, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Unternehmernahe und gewerkschaftsnahe Institute kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass dafür in den nächsten zehn Jahren insgesamt 600 Milliarden Euro notwendig wären. Der Grad der öffentlichen Investitionen in Energie, Verkehr, Glasfasernetze, Wohnungsbau und Infrastruktur bestimmt also die Zukunft des Kontinents und der Menschen, die auf ihm leben. Der Industrieumbau wird scheitern, wenn geostrategische Interessen die Haushaltspolitik dominieren.
Angriff auf die Mitbestimmung
Die aktiven Kriegsvorbereitungen der Bundesregierung haben grundlegende Auswirkungen auf Demokratie und Mitbestimmung. Der Chef des Bundeswehr-Verbandes, André Wüstner, forderte bereits »eine Kriegswirtschaft« und damit eine Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter das Primat der Außenpolitik. Dass das auch Auswirkungen auf elementare Grundrechte haben dürfte, machte er deutlich, indem er die Anwendung von Notstandsparagraphen und den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren in Betracht zog. Dabei handelt es sich nicht etwa um unverbindliche Äußerungen eines einzelnen. Vielmehr macht die Bundesregierung Nägel mit Köpfen. »Heimatschutzregimenter« trainieren nicht nur den Schutz der kritischen Infrastruktur, sondern auch den Einsatz gegen Demonstrationen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung am 4. September 2024 den Entwurf eines »Artikelgesetzes zur Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft« beschlossen, das unter anderem die Anwendung des sogenannten Arbeitssicherstellungsgesetzes erleichtern soll. Im Falle eines Spannungsfalles können Beschäftigte, deren Tätigkeit der Versorgung der Bundeswehr oder der verbündeten Streitkräfte dient, aber auch Beschäftigte in Betrieben, die Militärausrüstung oder die entsprechenden Dienstleistungen erbringen, sowie Beschäftigte in Forschungsbereichen, soweit sie militärisch forschen, zur Sicherstellung ihrer Arbeitsleistung verpflichtet werden. Weiterhin heißt es: »Durch Artikel 10 werden die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der freien Wahl des Arbeitsplatzes und des Schutzes vor Arbeitszwang eingeschränkt.«
Alles in allem bleibt also festzuhalten: Die arbeitenden Klassen haben in dieser »Zeitenwende« nichts zu gewinnen und alles zu verlieren.
06.01.2025 19:30 Uhr
Tyrannei des Westens
Herrschaftssicherung: Die USA und ihre Verbündeten setzen auf Konfrontation statt Verständigung
Petra Erler
Es ist Krieg in der Ukraine, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Russland trägt die Schuld, zur Waffe gegriffen zu haben. Völkerrechtswidrig. Die Kriegsursachen allerdings schuf der kollektive Westen unter Führung der USA. Deren Bestreben, nach dem Ende des Kalten Krieges als einzige Supermacht die Welt zu beherrschen, ließ keinen Raum für eine Partnerschaft auf Augenhöhe oder gar für die Beachtung legitimer russischer Sicherheitsinteressen. Das brach und bricht sich mit dem Selbstverständnis der USA als »unverzichtbarer« Weltenlenker. Die Welt, so die Annahme, muss nach dem Bild und den Herrschaftsvorstellungen der USA gestaltet werden. Das ist die »regelbasierte Ordnung«. Darin hat die souveräne Gleichheit aller Staaten keinen Platz, ist Diplomatie immer nur die zweitbeste Lösung. Unter hegemonialer Fuchtel herrschen ein Freund-Feind-Bild, der Glaube an Auflagenpolitik und Bestrafung. Rigide Sanktionspolitiken, Regime-Change und militärische Lösungen für politische Konflikte sind der Markenkern der US-Politik seit den 1990er Jahren.
Sie ist extrem rückwärtsgerichtet, zerstörerisch für die USA und die Welt. Gleichzeitig ist sie das deutlichste Anzeichen dafür, dass der selbsternannte Hegemon längst die Blüte seiner Herrschaftsjahre hinter sich gelassen hat und sich gegen den Machtverfall stemmt.
Das ist allerdings nicht die Erzählung, die in den USA und in den Ländern dominiert, die sich mit dem Platz der USA am Kopf der Tafel arrangierten und in einer Mischung aus Dankbarkeit, Demut und Widerborstigkeit zumindest zur rechten und linken Seite des Herrschers plaziert sein wollen, wie eines Königs Narr.
Russland im Visier
Nach den friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa und dem Ende der Sowjetunion dominierte dieses Arrangement unter den Reformkräften. Umgekehrt betrachtete sich der gesamte Westen als Sieger der Geschichte, der nunmehr die verdiente Ernte einbrachte. Nur in Russland ging alles schief, was nur schiefgehen konnte.
Wer die Gründe dafür begreifen will, sollte ein langes Memorandum aus dem Jahr 1994 lesen. Verfasst hat es der damalige US-Botschaftsrat Wayne Merry in Moskau. Es kostete ihn die Karriere. Mehr als 30 Jahre wurden seine Einschätzungen in den Archiven begraben. Schließlich wurden sie freigeklagt.¹
Unter dem Titel »Wem gehört Russland überhaupt? Auf dem Weg zu einer Politik des wohlwollenden Respekts« sezierte Merry die russische Gesellschaft, russische politische Interessen und Zwänge sowie die Wirkungen einer US-Politik, die unbekümmert von den Realitäten ihrem Mantra folgte, so als wäre Russland das Land der US-Amerikaner. Dem Verfasser war wohl bewusst, dass er sich mit seinen Überlegungen und Einschätzungen gegen die vorherrschende außenpolitische US-Doktrin stellte, aber er sah es als seine Pflicht an, vor russischen Fehlentwicklungen und einer tiefen Zerrüttung der US-Russland-Beziehung zu warnen. Merry, der über eine große analytische Klarsicht verfügte, glaubte an die Veränderbarkeit eines Tyrannen durch Einsicht und menschliche Rührung. Seit Schillers »Bürgschaft« spukt die wundersame Bekehrung eines Despoten in unseren Köpfen herum, allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz.
Denn das erklärte US-Bestreben, als einzige Supermacht die Welt so lange wie möglich zu regieren, ist ohne Tyrannei nicht zu verwirklichen. Man mag sie in hehre Worte fassen, die Ordnung als »regelbasiert« deklarieren, von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten reden, aber die Probe aufs Exempel ist immer, was in der Realität angerichtet wird: Geht es den dominierten Völkern besser? Gibt es weniger Leiden und Ungerechtigkeit auf der Welt? Ist eines der großen Probleme, die die Menschheit heute heimsuchen, gelöst oder auch nur einer Lösung näher?
Hat China, wie der Papst 2024 meinte, ein größeres Potential für Verständnis und Dialog als etablierte Demokratien? Ist es nicht tatsächlich so, dass unter dem Banner eines globalen »Demokratiebringers« Tyrannei betrieben wird, die kein anderes Ziel kennt, als sich selbst zu erhalten? Koste es, was es wolle.
Russland, China und eine immer größere werdende Anzahl von Völkern widersetzen sich seit nunmehr Jahrzehnten dem hegemonialen Treiben der USA und ihrer Gefolgschaft. Das macht sie in unseren Augen zu Aggressoren, zu Gegnern, die geschwächt, wenn nicht gar vernichtet werden müssen. Auf die eine oder andere Art und Weise. Denn in der tyrannischen Logik wird ein Tyrann allenfalls von einem anderen Tyrannen ersetzt, der dann womöglich noch schlimmer agiert. Er erblickt immer nur sich selbst im Spiegel. Alternative Formen des gesellschaftlichen Miteinanders sind ihm völlig fremd.
Keine Verhandlungen
So betrachtet, ist der aktuelle Stellvertreterkrieg in der Ukraine ein Lehrstück sich entblößender Tyrannei. Zu keinem Zeitpunkt dieses Krieges spielte das tatsächliche Schicksal der Ukraine eine Rolle. Wäre dem so gewesen, hätte der völkerrechtlichen Verurteilung von Russland eine umgehende Friedensinitiative des Westens folgen müssen. Statt dessen wurden frühe russisch-ukrainische Verhandlungen um Frieden unterminiert, denn der Westen brauchte diesen Krieg, in der Annahme, daraus ein zweites Afghanistan für Russland machen zu können. Daher fehlt auch jedes Mitgefühl für die ukrainischen Opfer dieses Krieges. Zwar ringt man die Hände, aber befeuert gleichzeitig das Schlachten. Die Zahl der ukrainischen Opfer, die angeblich allenfalls in die Zehntausende gehen, wird wie eine geheime Kommandosache behandelt, während eine allein der Phantasie entsprungene Zahl russischer toter bzw. verwundeter Soldaten zum bejubelten Beleg dafür genommen wird, dass Russland sich dem eigenen Untergang entgegenkämpft.
Um Russland »zu ruinieren«, wurden und werden Sanktionen mit kriegsähnlicher Wirkung ausgetüftelt, die tatsächlich wie ein Bumerang auf die westlichen Wirtschaften zurückschlagen und das ganze globale Gefüge erschüttern.
Wie sich der Westen zu diesem Krieg stellt, demonstriert dem russischen Bären nur eines: Die Jagd auf ihn ist eröffnet.
Der Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Europa und gleichzeitig auch militärischer NATO-Befehlshaber, General Christopher G. Cavoli, war sich der Folgen dieser Politik im Sommer 2024 wohl bewusst, als er über die Zeit nach dem Ukraine-Krieg sprach: Er sprach nicht über die verheerte Ukraine. Er sprach über ein militärisch herangezüchtetes und nun auch kampferprobtes Russland, stärker denn je, vollends von der Feindschaft des Westens überzeugt, direkt an der NATO-Grenze gelegen und furchtbar wütend.
Wie soll unter solchen Umständen Dialog und Verständigung gelingen? Auf der Agenda der NATO hat das keinen Platz. Noch ist die Ukraine, deren Überleben finanziell und militärisch allein vom Westen noch halbwegs gesichert wird, nicht völlig ausgeblutet. Es gibt noch eine vom Krieg ausgesparte Generation, die der 18- bis 24jährigen. Es gibt noch kampftaugliche Männer, die in EU-Staaten Zuflucht suchten, also ein letztes Aufgebot. Denn noch immer muss um den Sieg gekämpft werden, der wie eine Fata Morgana am Horizont erscheint.
Umgekehrt spielt diese Strategie, die von Anfang an verfehlt war, Russland direkt in die Hände. Wer die militärische Entscheidung sucht, wird sie bekommen, warnte der russische Präsident im Sommer 2022.
Anderthalb Jahre später liegt recht klar auf der Hand, dass Russland in diesem Krieg militärisch überlegen ist. Was kann der Westen noch aufbieten, um die unvermeidliche Niederlage abzuwenden? Im konventionellen Bereich nicht mehr viel. Keine der westlichen »Wunderwaffen« führte zum Wunder, und der Stellvertreterkrieger, die Ukraine, ist am Verbluten.
Wer unter diesen Bedingungen auf die Stimme der Vernunft, der Verständigung und der Humanität wartet, wartet vergebens. Denn die NATO hat längst ihre Rückfallposition entwickelt: Fällt die Ukraine, was sie nicht soll, niemals wird, aber man weiß ja nie, lauert die russische Aggression auf die NATO. Schon in wenigen Jahren. Kriegstüchtigkeit ist der einzige Weg, eine russische Aggression entweder abzuschrecken, ihr zuvorzukommen oder sie erfolgreich abzuwehren.
Die Erfindung des wiederauflebenden russischen Imperialismus und das Dogma von der Aggressivität Russlands als naturhaftes Phänomen des Landes spiegeln letztlich nur den tyrannischen westlichen Traum, der über Jahrhunderte mit eisernen Besen über den Globus fegte. Bis die USA als einziges Imperium mit globalen Sicherheitsinteressen nach dem Zweiten Weltkrieg übrigblieben. Mit dem ganzen amerikanischen Kontinent als erklärtem »Hinterhof«, einem dauerhaften Fuß in Europa und weltweiter militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Präsenz.
Nächster Krieg gegen China
Wie schön würde es erst, wenn sich der US-geführte Westen nach Belieben auf der großen eurasischen Landmasse tummeln könnte. Man denke allein an die Rohstoffe, die dem russischen Bären natürlich und also ganz unverdient zufielen. Ist der Bär erst erledigt, ist auch die erzwungene Schonzeit für den Tiger vorbei. Die US-Armee bereite sich auf den Krieg mit China vor, titelte die New York Times am 29. Oktober 2024. Das muss geübt werden, zu Land, zu Wasser und in der Luft, denn es wäre nicht auszudenken, wenn China auf dem eigenen Kontinent dominant werden würde. Wäre das mit dem Fall Roms vergleichbar, fragte die New York Times. Die Antwort folgte auf dem Fuß. Das sei die richtige Sicht auf die Dinge.
In einer solchen Betrachtung der Welt gibt es aktuell niemanden von Bedeutung im Westen, geschweige denn in der EU, der für einen Dreierbund à la Schiller plädiert oder für ein Bündnis aller Völker und den Weg der Mäßigung oder Konfliktentschärfung für möglich oder gar wünschenswert hält. Aus tyrannischer Sicht ist eine solche Alternative regelrecht Ketzerei, die entweder großer Dummheit oder Heimtücke entspringt. Tyrannen lieben es allenfalls, wenn ihnen der eigens bei Hofe gehaltene Narr ab und an den Spiegel vorhält. Nicht, um sich darin zu erkennen, sondern um das Bewusstsein ihrer Macht zu genießen. Bis diese in Scherben fällt.
Die offene Frage heute lautet, ob sich das US-Imperium unblutig geschlagen geben wird, oder ob es die Welt lieber mit sich in den Untergang reißt. In dieser Hinsicht stellt sich an Deutschland und im weiteren Sinn an die EU die Frage, wie wir unsere Zukunft sehen wollen: als einen mühsamen Prozess des Aushandelns eines Modus vivendi, der den Frieden in sich trägt, oder als mutmaßliche Plattform und Drehscheiben eines Krieges, bei dem am Ende kein Stein mehr auf dem anderen bleibt?
Der Filmemacher Eran Torbiner spürt dem Erbe der jüdischen antizionistischen Linken nach. Am Wochenende stellt er in Berlin sein Schaffen vor
Susann Witt-Stahl
Eran Torbiner hielt am 59. Jahrestag der Befreiung von der Hitlerdiktatur 2004 einen historischen Moment mit seiner Kamera fest. Jüdische Spanienkämpfer und deren Familien waren in einem Ehrenhain bei Beth Schemesch im Bezirk Jerusalem zusammengekommen, auch um der vielen gefallenen Kameraden zu gedenken. »Es war nicht unsere Schuld, dass wir nicht gewonnen haben«, erinnerte David Ostrovsky, einer der ehemaligen Interbrigadisten, an den durch die Anerkennung des Franco-Regimes begangenen Verrat liberaler Demokratien in Europa – der sich für sie als verheerend erwiesen hatte.
Torbiner begibt sich in seinen Dokumentarfilmen auf die Spur der jüdischen Linken, die als »bolschewistische Weltverschwörer« verfolgt und ermordet, später in Israel stigmatisiert und unterdrückt wurden und nach 1989 größtenteils im Abgrund des Vergessens verschwunden sind – nicht obwohl, sondern weil sie ihre universalistische Weltanschauung hochhielten und die Emanzipation aller Menschen verwirklichen wollten: Kommunisten, Sozialisten, die sich weigerten, die arabische Bevölkerung zu töten, zu vertreiben oder zu berauben. »Für uns war ein Arbeiter ein Arbeiter, egal, ob er Jude oder Araber war« – solche Besinnung auf das Wesentliche, nämlich die Klassenfrage, wie sie von Yaakov Chen, Mitglied der Kommunistischen Partei, in Torbiners Doku »Madrid before Hanita« (2006) zu vernehmen ist, darf heute fast schon als sensationelle (Wieder-)Entdeckung gefeiert werden. Auch die Erkenntnis der durch Hitler bewiesenen und im Filmtitel apostrophierten Dringlichkeit nicht des Aufbaus eines zionistischen Staates (für den die Siedlung Hanita zum Symbol wurde), sondern einer sozialistischen Gesellschaft – die einzige Möglichkeit, mit der brutalsten Form bürgerlicher Herrschaft auch den Antisemitismus zu beseitigen. »In Spanien konnten wir zum ersten Mal mit dem Gewehr in der Hand gegen den internationalen und deutschen Faschismus kämpfen«, erklärt Kurt Goldstein die besondere Motivation der deutschen Kommunisten unter den jüdischen Interbrigadisten (aus Palästina kamen 300, insgesamt waren es 7.000). Ebenso wie die Hunderttausenden von Juden in der Roten Armee widerlegten sie die heute hartnäckig wie nie verbreitete Behauptung, dass nur der Judenstaat den vom frühen Zionisten Max Nordau propagierten wehrhaften »Muskeljuden« hervorbringen könne.
Dass Torbiners Gesamtwerk vor allem als Hommage an von Zionisten verächtlich gemachte »Nervenjuden«, Anti- und Nichtzionisten, die Uzis und Merkavas nicht als Argument anerkennen wollen, zu begreifen ist, zeigt sein Film über die Sozialistische Organisation in Israel. Die unter dem Namen ihres Organs Matzpen bekanntgewordene Gruppe junger Marxisten aus dem studentischen Milieu, der auch Palästinenser angehörten, demontierten in den 1960er- und 1970er-Jahren mit ihrer Anklage des Zionismus als koloniales Projekt den Gründungsmythos Israels (»Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land«): »Wer Matzpen nicht hasste, war kein Patriot«, blickte Akiva Orr, damals ein führender Kopf der Organisation, in Torbiners Film von 2003 auf bewegte Zeiten zurück.
»Es ist barbarisch, unmenschlich. Sie wollen keinen Frieden bringen, nur Krieg, Krieg, Krieg«, erklärte Michael Veinappel – ein 2007 in Jerusalem verstorbener namhafter Bundist in Israel –, in Torbiners Film »Bunda’im« (2012), warum er »das Verhalten aller israelischen Regierungen, von rechts bis links« als existenzgefährdend für das »gesamte jüdische Volk« betrachtete. Der Bund als internationale sozialistische Bewegung war aus dem 1897 in Vilnius gegründeten Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund von Polen und Russland hervorgegangen, seine Milizen waren 1943 am Aufstand im Warschauer Ghetto gegen die Nazis beteiligt.
»Ich habe immer Angst, dass die alten Aktivisten sterben könnten, bevor sie ihre Geschichte mit mir geteilt haben«, sagt Eran Torbiner im Gespräch mit jW. »Diese Genossen sind von einer Aura umgeben – ihnen gilt meine Neugier, mein Respekt und meine Empathie.« Das alles atmen Torbiners Filme, die mit einer enormen menschlichen Wärme und Einfühlung in die Atmosphären ihrer jüdischen Welten von gestern erzählen. Ganz ohne Kitsch und Nostalgie, vielmehr durchwirkt von dem Imperativ, dass morgen alles ganz anders sein muss – der nicht zuletzt seit dem Siegeszug des Kahanismus in Israel, der zionistischen Erscheinungsform des Faschismus, und dem Gaza-Massaker unwiderruflich ein kategorischer ist. Die Rettung des unterdrückten Erbes der jüdischen Sozialisten und Kommunisten bedeutet nicht weniger als die Rettung der Welt. Daher muss es bis zum letzten verteidigt werden – heute auch und besonders gegen die hegemoniale normalisierte Deutschlinke, die es als »roten Antisemitismus« verfemt, weil sie die antifaschistische Bewältigung der Vergangenheit für ihren Kniefall vor der »Staatsräson« des NATO-gestützten Imperialismus der Berliner Republik aufgegeben hat.
03.01.2025 19:30 Uhr
»Die imperiale Kolonialgeschichte hinterfragen«
Die weiße Vorherrschaft brechen. Ein Gespräch mit Jennifer Black und Mumia Abu-Jamal
Jürgen Heiser
Am 11. Januar werden Sie auf der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz den Beitrag von Mumia Abu-Jamal einleiten und einen Tag später Ihr gemeinsam herausgegebenes Buch»Beneath the Mountain« mit Stimmen aus dem US-Gefängnissystem auf einer Lesung in Berlin vorstellen.Wie entstand die Idee dazu?
J. B.: Bei mir war es der Kontakt zu vielen inhaftierten Radikalen, darunter viele junge Männer, die durch die Erfahrung ihrer eigenen Inhaftierung politisiert worden waren, und die Erkenntnis, wie schwierig es ist, im Gefängnis etwas zu recherchieren. Die Knastbibliotheken sind furchtbar, und Gefangene haben keinen Zugang zum Internet. Daraus und aus vielen Gesprächen mit Mumia im Laufe der Jahre entstand die Idee.
Mumia Abu-Jamal, Sie als Autor und politischer Gefangener im 43. Jahr der Haft, wie sehen Sie die Rolle des inhaftierten Intellektuellen?
M. A.-J.: Es ist die gleiche Rolle wie die des nicht inhaftierten Intellektuellen: Man muss die richtigen Fragen stellen und Antworten finden. Und man muss die imperiale Kolonialgeschichte hinterfragen, wo immer man sie sieht. Einige der freiesten Köpfe der USA sitzen hinter Gittern. Und einige der am meisten in ihrem Denken Gefangenen sind sogenannte freie Menschen in Amerika. Wer Lügen über die Geschichte unterworfen ist, ist nicht frei.
Welche Bedeutung hat das Buch für Sie?
M. A.-J.: Dr. Black hat wirklich einen Treffer gelandet, als sie dieses Projekt initiierte. Es bietet tiefgründige Informationen von Menschen, die Gefängnis und Gefangenschaft erlebt und gegen diese Strukturen gekämpft haben: Nat Turner, George Jackson, klassische Leitfiguren wie Malcolm X. Das Buch enthält 30 Briefe, Essays und Botschaften von einer Vielzahl von Menschen aus allen wichtigen Bewegungen, die alle mit ihrer eigenen Stimme sprechen. John Browns Brief an seine Frau beschreibt das große Übel der USA, das wir nie vergessen dürfen und weiterhin bekämpfen müssen – die Sklaverei. Dies war buchstäblich sein letzter Brief in seinem Leben. Er stand kurz vor der Hinrichtung durch die Regierung wegen des Überfalls auf das Armeewaffenlager von Harpers Ferry, West Virginia, seinem Fanal zur Einleitung der Sklavenbefreiung.
Über Malcolm X können wir nicht sprechen, ohne an seine enorme Selbstveränderung zu denken, als er lernte, die Welt neu zu sehen. Er verinnerlichte, was er lernte, und die Dinge wurden ein Teil von ihm, an denen er wuchs und immer weiter wuchs, solange er lebte. Wir lesen im Buch von Menschen, die im Gefängnis »unter dem Berg« schreiben. Darunter ein Beitrag von Elijah Mohammed von der Nation of Islam (NOI). Mir ist die Frage wichtig: Was hat Malcolm Little zu Malcolm X und dann zu El Hajj Malik el-Shabazz werden lassen? Die Antwort lautet: Was ihn verwandelte, war etwas Mächtiges und doch so Einfaches – Geschichtsbewusstsein. Von Elijah Muhammad lernte Malcolm einen Grundsatz, den er sein ganzes Leben lang und in seinen Schriften wiederholte: »Von all unseren Studien ist es die Geschichte, die am besten geeignet ist, unsere Forschung zu belohnen.« Malcolm verstand, dass er ohne Elijah Muhammad und die Lehren der NOI über die Geschichte der Gefangenschaft und der Herrschaft, der Sklaverei und der Depression in den USA weiter der verbitterte und unwissende junge Häftling geblieben wäre, für den es keinen Ausweg gab.
Diese Erfahrung veränderte ihn, machte ihn zu einem neuen Menschen. Das machte ihn zu dem Malcolm, an den wir uns erinnern. Dem die Schwarzen zuhörten, wenn er zu ihnen sprach. Sie wussten, dass er im Knast gesessen hatte und deshalb genau wusste, wie ihr Leben im schlimmsten Fall aussah. Das Geschichtsbewusstsein, das er sich in der NOI angeeignet hatte, veränderte ihn. Das ist der Grund, warum das Wissen um Geschichte so brisant ist. Warum es so gefährlich ist.
Warum sprechen die Vertreter weißer Vorherrschaft wohl davon, dass wir die Geschichte zerstören müssen? Darin zeigt sich ihre Schwäche, denn sie ahnen, dass das gefährlichste Thema der amerikanischen Geschichte die Geschichte selbst ist. Dieses Buch enthält in jedem Essay eine Lektion über die Geschichte der radikalen und revolutionären Bewegungen, die die Hegemonie der weißen Vorherrschaft, des Kapitalismus und des Imperialismus in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus anfochten.
Wenn junge Menschen diese Lektionen lernen, werden sie sich verändern, so wie Malcolm sich verändert hat, denn sie werden die USA nie wieder auf die gleiche Weise betrachten. In der Highschool lernt man keine Geschichte, sondern Lügen. Wir lernen Lügen in der Grundschule und in der Mittelschule. Und dann beginnen wir, uns die Wahrheit zu erarbeiten. Wir lesen die Originaltexte aus sozialpolitischen Bewegungen, die Wahrheiten enthalten, von denen dieses Land erschüttert wurde.
Warum war es wichtig, Nat Turner einzubeziehen?
M. A.-J.: Unterdrückte Menschen finden Hoffnungsschimmer, wo immer es sie gibt, und manchmal dort, wo sie am wenigsten zu erwarten sind. Nat Turners Hoffnungsschimmer war, dass er im Gegensatz zu den meisten Sklaven lesen konnte. Er las die Bibel und sah darin eine grundlegende Revolution der Verhältnisse, unter denen er lebte. Als er anfing, dies anderen Menschen mitzuteilen, waren sie von seiner Vision berührt und bewegt von seinem Glauben an die mögliche Schaffung einer neuen Welt. Aber möglich wird sie nur, wenn wir dafür kämpfen.
Nat Turner ist deshalb wichtig, weil er einen der bedeutendsten Sklavenaufstände in der Geschichte der USA anführte. Seine Rebellion hat den ganzen Süden, ja das ganze Land erschüttert. Denn dieses Land beruhte auf den von der Sklaverei hervorgebrachten wirtschaftlichen Errungenschaften und dem damit erzeugten Kapital. Jede Sklavenrebellion bedrohte deshalb das Fundament der Vereinigten Staaten.
Warum ist dieses Buch für ein internationales Publikum relevant?
J. B.: Ich bin davon überzeugt, dass revolutionäre Solidarität keine Grenzen kennt. Die weltweite Solidarität, die Mumia erfahren hat, ist inspirierend und bewegend. Ich habe sie persönlich erlebt, als ich 1995 nach London reiste, kurz nachdem der Gouverneur von Pennsylvania einen Hinrichtungsbefehl gegen Mumia unterzeichnet hatte. Ich war erstaunt über die Solidaritätsbekundungen und die Unterstützung für Mumia. Die Unterdrückung durch den Staat, die wir in den USA erleben, mag sich aus spezifischen Gründen unserer Geschichte entwickelt haben, aber sie ist etwas, das Unterdrückte auf der ganzen Welt nachempfinden können.
Was bedeutet das Buch für Sie persönlich?
J. B.: Es ist ein guter Schritt in eine interessante Richtung. Wir wollten ein Handbuch für unabhängige Lernende bereitstellen, einschließlich Menschen im Gefängnis, die keinen Zugang zu Universitäten und dem Internet haben, um die Grundzüge der gegen Gefängnisse gerichteten Stimmung in den USA nachzuvollziehen. Wir haben erkannt, dass die politischen Stimmen von eingesperrten Menschen der Welt etwas Wichtiges zu vermitteln haben. Sie lehren uns, wie wichtig der Prozess der Politisierung und Organisierung ist und wie wichtig es ist, die Kräfte zu erkennen und zu artikulieren, die uns verbinden. Sie lehren uns etwas über Solidarität und revolutionäre Liebe und über die lange Tradition des Kampfes vor uns, von der wir ein Teil sind. Sie lehren uns, stolz zu sein auf die Menschen, die es verstehen, zu kämpfen und zu lieben, auf die Revolutionäre, die uns vorausgingen, und dass wir niemals vergessen dürfen, Teil einer stolzen Tradition zu sein.
Wie sind Sie zur Solidaritätsarbeit für Mumia gekommen?
J. B.: In Pennsylvania begann die Solidaritätsarbeit Anfang der 1990er Jahre. Mein Vater, der 1921 in Berlin geboren wurde, dort aufwuchs, aber mit 18 Jahren wegging, besuchte 1991 Berlin. Wo er auch hinkam, fragten deutsche Genossen und Linke ihn: »Du kommst aus Pennsylvania – was tust du da für Mumia Abu-Jamal?« Er antwortete: »Wer ist Mumia Abu-Jamal?«
Als mein Vater in die Staaten zurückkehrte, wollte er das unbedingt herausfinden, und er war erschüttert und schockiert, als er erfuhr, dass Mumia nur 33 Meilen (ca. 53 Kilometer, jW) von seinem Wohnort entfernt inhaftiert war. Zu dieser Zeit saß Mumia seit neun Jahren mit einem Todesurteil im Gefängnis von Huntington im Todestrakt.
Wir informierten uns über den Fall und nahmen Kontakt zum Komitee »International Concerned Friends and Family of Mumia Abu-Jamal« in Philadelphia und dem Quixote Center sowie zu Leuten von Pacifica Radio in Kalifornien auf. Wir fanden heraus, warum Mumia so wichtig war, und begannen einfach zu organisieren. Schon bald wurde daraus eine Welle der Organisierung im ganzen Land und auf der ganzen Welt. Aber wir waren verwundert darüber, dass viele von uns in Pennsylvania erst durch eine Reise nach Deutschland von Mumia Abu-Jamal erfuhren.
Mumia, hier erinnern sich noch viele daran, wie uns seit 1989 Ihre handgeschriebenen Beiträge zuerst per Luftpost und später per Fax erreichten. Warum wurden Ihre Geschichte und Ihr Fall gerade in Deutschland aufgegriffen?
M. A.-J.: Was in den USA passiert, hat viel mit dem zu tun, was in Deutschland passiert, und sei es nur durch eine emotionale Bindung. Menschen, deren Vorfahren aus Deutschland kamen, fanden in Nordamerika eine neue Heimat. Eine der großen Bevölkerungsgruppen in den USA sind mit 44 Millionen die Deutschamerikaner. Die meisten Deutschen lernen in der Schule zumindest etwas Englisch, so dass sie einen Zugang zu den Vereinigten Staaten haben. Der eigentliche Knackpunkt ist jedoch: Wo haben die Deutschen ihre Lektion der »Isolierung der Rassen« gelernt, die seit den 1930er Jahren in Deutschland um sich griff? Sie studierten die US-amerikanische Geschichte und das US-Recht. Sie kamen hierher und studierten vor Ort, wie in den USA mit den afrikanischen und indigenen Sklaven umgegangen wurde. Genau wie die weißen Rassisten in Südafrika von den Reservaten für Indigene in den USA lernten und ihre »Bantustans« schufen.
Die Deutschen lernten aus der rassistischen Geschichte der USA und der Rassentrennung. Wie bei der Apartheid in Südafrika entwickelte sich daraus auch die Diskriminierung und Isolierung der Juden in Deutschland. Die USA sind ein großer Lehrmeister, im Guten wie im Schlechten.
Darüber schreibt sehr brillant der Kameruner Achille Mbembe in »Necropolitics«. Er beschreibt, wie das Volk der Herero in Südwestafrika von den Deutschen kolonisiert wurde. Etwa 50.000 Menschen fielen einem Völkermord zum Opfer, weil sie sich gegen die koloniale Gewalt und den Raub ihrer Arbeitskraft wehrten. Sie wurden in Konzentrationslager gesteckt und abgeschlachtet. Und das geschah bereits eine Generation vor dem Aufstieg der Nazis.
Deutschland und die USA sind durch ihre Kolonialgeschichte geprägt. Wie Frantz Fanon sagte, ist der Kolonialismus an sich ein Akt der Gewalt eines Volkes gegen ein anderes Volk. Praktiziert in der Illusion eines gütigen Akts, geht es jedoch tatsächlich um Ausbeutung. Grundlage ist der gute alte amerikanische Kapitalismus und der deutsche Kapitalismus, es geht um den Raub menschlicher Arbeitskraft, um Profit zu machen. Und das geht nicht ohne Terror. Wie viele Menschen erinnern sich noch an das Volk der Herero im südlichen Afrika, das zu Zehntausenden abgeschlachtet wurde, weil es ein afrikanisches Volk in Afrika war?
Die Konferenz steht in diesem Jahr unter dem Motto »Das letzte Gefecht – wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?« Was heißt das für Sie?
M. A.-J.: Wir betrachten dieses Thema aus einer einzigartigen historischen Perspektive, denn vor Jahrzehnten, vielleicht vor 50 Jahren, haben Leute es noch nicht so drastisch gesehen. Ich spreche vom Ökozid, der Zerstörung der Umwelt, in der wir leben. Politiker sagen, die globale Erwärmung sei ein Schwindel. Das erstaunt mich, denn es ist bewiesen, dass einige der zerstörerischsten Stürme in der aufgezeichneten Geschichte der Menschheit Teile der USA trafen. Wir haben erst vor einigen Monaten gesehen, wie dieser große Sturm durch Florida zog, bis nach Georgia vordrang und Berggemeinden in North Carolina zerstörte. Die meisten der Menschen dort haben für Trump gestimmt und ihm geglaubt, als er sagte, die globale Erwärmung sei nicht real.
Was bedeutet die Wahl Donald Trumps für die Zukunft?
M. A.-J.: Widerstand erzeugt Gegenreaktionen. Dies ist eine folgenreiche Zeit. Um zu wachsen und zu überleben, braucht die Trump-Bewegung eine wenig gebildete Bevölkerung. Also treiben sie die Leute zur Hetze an, und Propagandanetzwerke füttern sie mit Lügen. Ich finde es verblüffend, dass ein verurteilter Verbrecher bald Präsident der Vereinigten Staaten sein wird – eigentlich Grund genug für Konservative, nicht mehr darauf zu beharren, dass Gefangene nicht wählen dürfen. Jeder im Gefängnis sollte wählen dürfen.
Und wenn wir im Kampf gegen den Faschismus nicht scheitern wollen, brauchen wir jetzt konsequenten Widerstand auf allen Ebenen und aus allen Teilen der US-amerikanischen Bevölkerung.
03.01.2025 19:30 Uhr
Was tun? Anpacken!
Die junge Welt freut sich über Unterstützung bei der Ausrichtung der Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar
jW-Aktionsbüro
Die 30. Internationale Rosa-Luxemburg Konferenz steht kurz bevor. Ein Höhepunkt wird die Manifestation »Für eine Welt der Solidarität! Unblock Cuba! Free Palestine!«, zu der Solidelegationen aus verschiedenen europäischen Ländern sowie Gäste aus Kuba und Palästina vor Ort sein werden. Sie haben die Möglichkeit, die Manifestation mitzugestalten, in dem Sie ein thematisch passendes Transparent zur Konferenz mitbringen (bis zur Konferenz ist natürlich noch genug Zeit, um eines zu bemalen). Geben Sie es bitte am Eingang bei der Sicherheitskontrolle ab, damit wir es zur Manifestation an der Bühne bereithalten können.
Jährlich findet die Konferenz mit der Unterstützung freiwilliger Helfer statt. Die Belegschaft der jW könnte diese Großveranstaltung auch gar nicht alleine stemmen. Wenn auch Sie uns bei der Durchführung helfen möchten, freuen wir uns riesig. Melden Sie sich bitte unter aktionsbuero@jungewelt.de und wir besprechen gemeinsam, wo Sie – ganz nach ihren Möglichkeiten – mit anpacken können. Fragen Sie gerne auch Ihre liebsten und fleißigsten Genossinnen und Freunde und melden sich gleich als Gruppe bei uns.
Wie das im Kapitalismus leider so ist, kostet eine Großveranstaltung Jahr für Jahr mehr Geld. Auch finanziell wäre die Konferenz für unseren kleinen Verlag nicht zu stemmen, wenn wir nicht das Glück hätten, über eine solidarische Leser- und Besucherschaft zu verfügen, die große Spendenbereitschaft zeigt. Bitte helfen Sie uns auch in diesem Jahr, den wirtschaftlichen Verlust, der durch die Konferenz entsteht, zu minimieren.
Nicht jeder wird am 11. Januar die Möglichkeit haben, nach Berlin zu fahren, um die Konferenz vor Ort mitzuerleben. Daher bieten wir auch in diesem Jahr einen kostenlosen Livestream auf jungewelt.de an. Sollten Sie zu denjenigen gehören, die die Rosa-Luxemburg-Konferenz von zu Hause aus verfolgen, bitten wir Sie um eine Spende, denn auch der Stream verursacht hohe Kosten. Dafür gibt es auch ein kleines Dankeschön: Ab einem Spendenbetrag von 40 Euro erhalten Sie von uns gerne einen der beliebten Kühlschrankmagneten mit dem aktuellen Konferenzmotiv (dafür bitte Name und Adresse im Verwendungszweck angeben).
01.01.2025 19:30 Uhr
Ruf nach Frieden
Ohne das Schweigen der Waffen keine Entwicklung. Der Krieg ist der größte Feind des Fortschritts
Yücel Demirer
Wir dokumentieren im folgenden drei der Kolumnen, die der Politikwissenschaftler Yücel Demirer wöchentlich in der linken türkischen Tageszeitung Evrensel (Universal) veröffentlicht. Yücel Demirer wird als Redner an der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025 in Berlin teilnehmen. (jW)
Im Juni dieses Jahres veröffentlichte das Institut für Wirtschaft und Frieden einen Bericht, der den Zustand der Menschheit in Bezug auf Frieden und Sicherheit für das Jahr 2024 skizziert. Der Bericht warnt davor, dass sich die Welt an einem Scheideweg befindet und dass ohne gemeinsame Anstrengungen die Zahl der großen bewaffneten Konflikte weiter zunehmen wird. Dem Bericht zufolge nehmen Kriege im 21. Jahrhundert nicht nur zu, sondern wandeln sich auch aufgrund der Fortschritte in der Militärtechnologie und der wachsenden geopolitischen Rivalitäten. Anhaltende Konflikte, die kaum Aussicht auf Befriedung haben, sind im Gegensatz zu traditionellen Kriegen eine direkte Folge dieses Wandels.
Der Bericht präsentiert düstere Zahlen: 2024 ist das fünfte Jahr in Folge, in dem sich die Friedenslage weltweit verschlechtert hat. Derzeit gibt es international 56 aktive bewaffnete Konflikte, die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese Konflikte haben sich zunehmend internationalisiert: 92 Länder sind in Streitigkeiten jenseits ihrer Grenzen verwickelt. Außerdem erhöht die Zunahme kleinerer Konflikte die Wahrscheinlichkeit größerer Kriege in der Zukunft. Die bewaffneten Auseinandersetzungen in Äthiopien, der Ukraine und im Gazastreifen, die 2019 als kleinere Konflikte eingestuft wurden, werden jetzt als Beispiele dafür angeführt, wie solche Situationen dramatisch eskalieren können.
Unter den 163 Ländern, die im Global Peace Index erfasst sind, belegt die Türkei in diesem Jahr Platz 139. Der Index misst den Frieden und die Sicherheit innerhalb eines Landes anhand von Faktoren wie der Anzahl der Polizei- und Militärangehörigen, der Mordrate, der Gefängnispopulation, der zivilen Bewaffnung, der politischen Instabilität, der anhaltenden internen und externen Konflikte, der Beziehungen zu den Nachbarländern, des Waffenhandels und des Militarisierungsgrads.
Die ständige Plazierung der Türkei am unteren Ende der Rangliste spiegelt anhaltende Konflikte und Sicherheitsprobleme, Spannungen mit Nachbarländern, steigende Inhaftierungsraten, zunehmende zivile Bewaffnung und einen wachsenden Waffenhandel wider.
Die Daten zeigen, dass die Auswirkungen von Krieg und Frieden auf das Leben der normalen Bürger viel direkter sind, als gemeinhin angenommen wird. Krieg und die damit einhergehende Unsicherheit gehen über die Fernsehbilder von fernen Konflikten hinaus und durchdringen unser tägliches Leben.
Die steigende Zahl von Morden an Frauen, die zunehmende Bewaffnung der Zivilbevölkerung, der Bau immer größerer Gefängnisse und die Gewalt gegen Tiere sind allesamt Auswüchse der »Kriegsmentalität«. Die Gewalt, der wir täglich begegnen, ist eng mit den Kriegen verbunden, von denen wir annehmen, dass sie weit von uns entfernt seien. Trotz der Behauptungen derjenigen, die wirtschaftlich oder politisch vom Krieg profitieren, breiten sich die vielfältigen Auswirkungen von Konflikten schnell auf weitere Gebiete aus und betreffen auch diejenigen, die fern der Frontlinien leben. Gewalt und Unsicherheit wirken sich auch auf das Leben von Arbeitern, Frauen, Kindern und Tieren aus. Regierungen, die den Krieg zur Konsolidierung ihrer Macht nutzen, greifen auf Unterdrückung und Gewalt zurück, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, die in einem solchen Umfeld entstehen.
Militärische Lösungen gehen an den eigentlichen Ursachen von Konflikten vorbei. Probleme wie Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung, die vielen Konflikten zugrunde liegen, verschärfen sich in Kriegszeiten. Die Eskalation der Gewalt verschärft die bestehenden Probleme und vergrößert das Leid der Armen. Die »Sprache der Gewalt« löst weder die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die diesen Konflikten zugrunde liegen, noch ermöglicht sie eine Lösung, sondern verursacht statt dessen unermessliches Leid und zerstört Leben.
In Kriegszeiten wird das Leben der Arbeiter immer unerträglicher. Unter der Herrschaft von Regierungen, die vor dem Hintergrund von Sicherheitspolitiken handeln, werden die Grundrechte und -freiheiten verletzt. Der Ausnahmezustand wird heraufbeschworen, um die ungleiche Verteilung von Ressourcen zu rechtfertigen. Der freie Informationsfluss wird beschnitten, und Korruption und Bestechung breiten sich aus.
Armutsbeschleuniger
Für die Arbeiter, deren Leben im Schatten des Krieges unerträglich geworden ist, hat der Frieden eine immense Bedeutung. Heute leben etwa zwei Milliarden Menschen in einer von Gewalt geprägten Umgebung. Konflikte und Kriege verschärfen die Armut, die Ungleichheit und den Mangel an Solidarität.
Nur in einem dauerhaften Frieden können die Grundlagen für eine hoffnungsvolle Zukunft geschaffen werden – gesicherte Existenzgrundlagen, robuste Institutionen und gesunde soziale Beziehungen, die Wohlbefinden und Glück fördern. Frieden schafft ein stabiles und sicheres Umfeld, das den Gesellschaften ermöglicht, sich auf wirtschaftliche Entwicklung, sozialen Fortschritt und Wohlstand zu konzentrieren. Frieden verhindert den Verlust von Menschenleben, die Vertreibung von Menschen und die Zerstörung von Infrastruktur und Ressourcen und schützt den materiellen Wohlstand, der von den Arbeiterinnen und Arbeitern produziert wird. In Friedenszeiten können die Regierungen Ressourcen zur Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens und anderer sozialer Dienste bereitstellen. Darüber hinaus erleichtert der Frieden die internationale Zusammenarbeit, den Austausch von Ideen und gemeinsame Anstrengungen zur Bewältigung globaler Probleme wie Klimawandel und Armut.
Politiker, denen das Wohlergehen der Arbeiterinnen und Arbeiter am Herzen liegt, wissen, dass Gesellschaften nur in einem friedlichen Umfeld widerstandsfähiger gegen Schocks, Katastrophen und Störungen werden können. Probleme und Meinungsverschiedenheiten können wirksam bewältigt werden, und es kann das notwendige Maß an Vertrauen, Zusammenarbeit und Integration erreicht werden, um sich an die unvermeidlichen Veränderungen anzupassen, die die Dynamik des Lebens mit sich bringt. Aus diesem Grund betonen die Sozialisten den Kampf für den Frieden. Selbst in den dunkelsten Momenten der chauvinistischen und rassistischen Unterdrückung weigern sie sich, den Ruf nach Frieden aufzugeben.
(1. September 2024)
Wer ist der wahre Terrorist?
Auf den Bombenanschlag am Taksim-Platz¹ folgte rasch eine weitverbreitete Kriegspropaganda, die in Luftangriffen auf den Nordirak und Syrien gipfelte. Von höchster Stelle wurden Überlegungen zu einer Bodenoperation geäußert.
In den Medien des Erdoğan-Regimes wurden die politischen Rechtfertigungen für einen Krieg debattiert. Mittels einer Bodenoperation sollte versucht werden, den Zusammenbruch des »offiziellen Narrativs« über den Taksim-Anschlag zu kaschieren. Die Diskussionen drehten sich um die Frage, ob die USA und Russland, die den syrischen Luftraum kontrollieren, ihre Zustimmung gegeben hatten, sowie um den möglichen Inhalt und die Ergebnisse von Verhandlungen mit diesen Ländern.
Die Regierung nutzt regelmäßig die regionale Instabilität für innenpolitische Manöver. Selbst wenn ihr die Zustimmung globaler Mächte fehlt, versucht sie, die Innenpolitik durch die Schaffung einer künstlichen Kriegsagenda zu beeinflussen. Die »nationalistische Rhetorik« hat einen großen Einfluss auf die politische Atmosphäre in der Türkei. Vor dem Hintergrund der Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt durch die Sicherheitskräfte und der enormen juristischen Repression fällt es der Antikriegsopposition schwer, über eine politische Analyse hinauszugehen. Diese Unfähigkeit, die kriegsorientierte Regierung herauszufordern, führt zu einer Situation, in der sich sogar der Oppositionsblock »Altılı Masa«² mit der Regierung verbündet.
Jedes politische Manöver ist in die Wahrnehmung historischer Abläufe eingebettet. Neue Kriege werden mit alten Kriegen gerechtfertigt. Die narrative Handlungskette vom Taksim-Anschlag bis zu den Luftangriffen und von den Luftangriffen bis zur Aussicht auf eine Bodenoperation beruht auf einer »historischen Erzählung«. Bekanntlich ist Geschichtsschreibung nicht nur die Weitergabe von Informationen aus der Vergangenheit, sondern spiegelt auch die Dynamik der Gegenwart wider. In der Türkei wird das »offizielle Narrativ« zu kontroversen und konfliktträchtigen Themen wie der Kurdenfrage, insbesondere unter einem repressiven Regime, von den aktuellen Erfordernissen der staatlichen Strategie geprägt, wobei die historische Kohärenz gewahrt bleibt. Dieser Ansatz verknüpft den »alten anderen« mit dem heutigen »Feind« und verankert die Vorstellung einer raschen und gewaltsamen Beseitigung des »anderen« als »Notwendigkeit« im öffentlichen Bewusstsein.
Wissenschaft am Gängelband
Die ständige Erneuerung des offiziellen Narrativs, das als die »einzige Wahrheit« präsentiert wird, ist für die Aufrechterhaltung seiner Wirksamkeit von entscheidender Bedeutung. In diesem Erneuerungsprozess spielt die kooptierte akademische Welt eine zentrale Rolle. Durch die Sperrung von Archivbeständen und die Verhinderung alternativer Perspektiven in der akademischen Forschung werden Beiträge zu »alternativen Erzählungen« von Historikern und Sozialwissenschaftlern blockiert. Forscher, die Mut zeigen, werden durch rigide akademische Beförderungskriterien ins Abseits gestellt, als »Verräter« gebrandmarkt und, wenn sie nicht nachgeben, von den Universitäten verwiesen.
Eine umfassende Antwort auf die historische Erzählung, die durch offizielle Interventionen geprägt ist und durch die Massenmedien verbreitet wird, erfordert Geduld und Kreativität. Diese Antwort muss ideologische und politische Analysen einbeziehen sowie die sozialen Dimensionen des Krieges. Sie muss auch die Bilder des menschlichen Leidens, das der Krieg verursacht, in die Öffentlichkeit bringen. Ein solcher Ansatz ist nicht nur notwendig, sondern im Rahmen der verfügbaren Mittel auch zwingend erforderlich. Gegenüber Erzählungen, die sich auf Befehlshaber, Helden und nationale Interessen konzentrieren, muss der Schwerpunkt auf die Tragödien des Krieges, die Verarmung der Arbeiter, die Verschwendung von Mitteln und die Zerstörung der Umwelt gelegt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Öffentlichkeit mit konkreten Bildern von den Verwüstungen des Krieges und detaillierten Informationen über dessen Folgen zu versorgen. Die Betonung der Brüderlichkeit der Völker angesichts der »Gefühllosigkeit«, die die Kriegsrhetorik transportiert, ist besonders wichtig.
Es gibt viele Menschen, die den Krieg ablehnen, der die Lebensgrundlagen der Menschen vernichtet, die Demokratie zerstört und das tägliche Leben unerträglich macht. In diesem Kampf können Fotos, die die negativen Auswirkungen der Kriegspolitik auf den einzelnen beleuchten, auch die Dynamik des Widerstands gegen die Kriegspolitik sichtbar machen. Um dem Narrativ von der »Unvermeidbarkeit des Krieges« und der zerstörerischen Dynamik der »Kriegskultur« etwas entgegenzusetzen, muss eine Sprache gefunden werden, die die »vergessenen Opfer« der Kriegspolitik ans Licht bringt. Dazu gehört auch die Infragestellung von »Einzelwahrheiten« wie dem Narrativ der »Operation Klauenschwert«³.
Die Frage, die bei jeder Gelegenheit mutig gestellt werden muss, bleibt: Was ist Terror, und wer ist der wahre Terrorist?
(26. Oktober 2022)
Die Karte der Unterdrückung
Die Media and Law Studies Association⁴ hat kürzlich ihren Jahresbericht 2024 veröffentlicht, der sich auf die Wahrung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und den Zugang zu Informationen konzentriert. Der Bericht enthält Daten aus 614 Anhörungen in 281 Verfahren mit 1.856 Angeklagten zwischen dem 1. September 2023 und dem 20. Juli 2024. Dem Bericht zufolge waren 46,31 Prozent der Angeklagten Aktivisten, 20,25 Prozent Studenten und 19,71 Prozent Journalisten.
Unter den 187 Personen, die wegen »Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung« angeklagt wurden, waren 64,2 Prozent Journalisten. Ebenso waren 34,6 Prozent der 162 Angeklagten, die der »Verbreitung terroristischer Propaganda« beschuldigt wurden, Journalisten. Von den 101 Personen, die wegen »Beleidigung eines Amtsträgers« angeklagt waren, waren 37,6 Prozent Pressevertreter. Von den 63 Personen, die wegen »Beleidigung des Präsidenten« angeklagt waren, waren 24 Prozent ebenfalls Journalisten.
In 107 von der Vereinigung beobachteten Verfahren mit 230 Angeklagten traten Präsident Erdoğan und seine Familie, hochrangige Bürokraten, Mitglieder der Justiz, lokale Verwaltungsbeamte und Polizeibeamte als Kläger auf. Von den Angeklagten in diesen Fällen waren 116 Journalisten.
Die Unterdrückung geht heute jedoch weit über Journalisten hinaus. Auch Arbeiter, Frauen, arbeitslose Lehrer und zahllose andere sind davon betroffen. Das stetig größer werdende Ausmaß und die Intensität machen eine umfassende Betrachtung der Auswirkungen der Unterdrückung erforderlich.
Ein genauerer Blick auf die Unterdrückung unter dem Erdoğan-Regime offenbart ein kalkuliertes Bemühen, Legitimität zu schaffen, noch bevor repressive Maßnahmen beginnen. Strategische Spaltungen der Gesellschaft in Kategorien wie »reines/tugendhaftes Volk« vs. »korrupte Eliten«, »Patrioten« vs. »Terroristen« und »einheimisch/national« vs. »vom Ausland unterstützt« werden gezielt vorgenommen und je nach Akteur in Anschlag gebracht. Es werden Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass repressive Agenden zumindest teilweise von der Öffentlichkeit unterstützt werden, und es werden entsprechende Narrative entwickelt. Unter Ausnutzung ungelöster soziopolitischer und kultureller Probleme aus der Geschichte der Türkei werden Unterdrückungspraktiken durch pauschale Verallgemeinerungen und schamlose Stigmatisierungen erleichtert.
Bei der Umsetzung einer repressiven Maßnahme wird zunächst eine angeblich dringende gesellschaftliche Bedrohung festgestellt. Dann wird eine »verantwortliche« und »gefährliche« Gruppe definiert, und ihre Handlungen werden als Rechtfertigung für die Unterdrückung angeführt.
Dieser Prozess ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Dann wird eine Gruppe erfunden und konstruiert, die diese repressive Politik unterstützt. So wird beispielsweise ein Bürger, der sich für den Schutz des Wassers oder des Waldes in seinem Dorf einsetzt, gegen seinen Nachbarn ausgespielt, dem ein Job als Wachmann in einem bald zu bauenden Wärmekraftwerk versprochen wird. Frauen, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter und ein Ende der Gewalt einsetzen, werden mit Müttern konfrontiert, die ihre Kinder zu Hause aufziehen. Diejenigen, die gegen die Vergabe öffentlicher Aufträge an Vertraute protestieren, werden von Subunternehmern der begünstigten Firmen bekämpft. Eine Mutter, die ihr Kind in einer städtischen Kindertagesstätte lässt, um einen Mindestlohn zu verdienen, wird mit der Behauptung erschreckt, dass den Kindern dort LGBTQ+-Werte aufgezwungen werden. Jemand, der sich bewusst ernährt, wird gegen einen Wachmann aus einem anderen Viertel mit anderen Ernährungs- oder Sozialgewohnheiten ausgespielt.
Wie wird die Unterstützung der Unterdrückung durch einen Teil der Gesellschaft hergestellt?
»Dog Whistle Politics«
Der Begriff »Dog Whistle Politics«, benannt nach Pfeifen, die nur Hunde hören können, wird von Politikwissenschaftlern seit Jahren verwendet. Er beschreibt, wie scheinbar normale oder harmlose Äußerungen von Politikern insgeheim Botschaften vermitteln, die bei bestimmten Teilen der Gesellschaft Angst oder ein Gefühl der diskriminierenden Überlegenheit hervorrufen, um deren Stimmen zu sichern.
Es gibt zahlreiche Beispiele für politische Manöver, die Ängste und Befürchtungen der Öffentlichkeit ausnutzen, um die Arbeiterklasse zu spalten und Wahlen zu gewinnen. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan sprach während seines Wahlkampfs 1980 von »Wohlfahrtsköniginnen, die Cadillacs fahren«, und »Steakfressern, die Lebensmittelmarken nutzen«, um zu implizieren, dass schwarze Amerikaner das Sozialsystem ausnutzen, und appellierte damit an rassistische Gefühle. Donald Trumps Slogan »Make America Great Again« warb in ähnlicher Weise um Wählerstimmen, indem er die Sehnsucht nach einer weißeren, angelsächsischeren Vergangenheit weckte.
Eine genauere Betrachtung der aktuellen Karte der Unterdrückung in der Türkei offenbart eine Strategie, bei der Angst und die Ausnutzung von Gefühlen eingesetzt werden, um Unterstützung für jede Unterdrückungsagenda zu sichern. Diese Unterstützung wird dann eingesetzt, um die Unterdrückung zu legitimieren. In einem übermäßig polarisierten gesellschaftlichen Umfeld werden diese Prozesse durch Brüche innerhalb der Gesellschaft und kontrollierte Informationsflüsse über staatlich ausgerichtete Medien umgesetzt.
Daher ist eine detaillierte Kartierung aller Fälle von Unterdrückung unter Erdoğans Regime notwendig, um die gesellschaftliche Dynamik zu beleuchten, die die Unterdrückung ermöglicht, und um zu verstehen, wie ihre Legitimationsmechanismen funktionieren. Nur mit einer solchen Methode können wir begreifen, wie die Regierung emotionale, kulturelle und soziale Narrative für pragmatische Zwecke ausnutzt. Indem wir die jeweiligen Mechanismen der »Dog Whistle Politics« aufdecken, bei denen die Befürworter einbezogen und die Gegner ausgeschlossen werden, können wir dazu beitragen, den Widerstand gegen die Unterdrückung zu stärken.
(1. Dezember 2024)
Anmerkungen:
1 Bombenanschlag in Istanbul vom 13. November 2022, bei dem sechs Menschen starben und in dessen Folge die Regierung eine absolute Nachrichtensperre verhängte und den Zugang zu den sozialen Medien, allen voran Twitter, blockierte. Die Regierung beschuldigte die PKK und die YPG, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Die PKK wies die Vorwürfe zurück.
2 Eine Allianz aus sechs kemalistischen, liberalen bis konservativen Parteien, die sich ursprünglich zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 zusammengeschlossen haben.
3 Name der Militäroffensive der türkischen Armee gegen kurdische Kräfte in Syrien und im Irak im Anschluss an den Bombenanschlag vom 13. November 2022.
4 2017 gegründete Menschenrechtsorganisation, die sich für die Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit einsetzt. www.mlsaturkey.com/en
27.12.2024 19:30 Uhr
Gemeinsam statt einsam
Die Rosa-Luxemburg-Konferenz ist ein kollektiver Genuss – und das selbst aus der Ferne
RLK-Vorbereitungskollektiv
Eine gute Nachricht zuerst: Noch gibt es Tickets für 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025! Bislang haben rund 2.650 Menschen ihr Kommen angekündigt; wenn Sie kurzentschlossen ebenfalls im Saal am politischen Jahresauftakt der Linken im deutschsprachigen Raum teilnehmen möchten, können Sie noch Tickets im jW-Shop kaufen. Unser Berliner Ladengeschäft in der Torstr. 6 wird ab Donnerstag, den 2. Januar, wieder regulär für Sie geöffnet sein. Allerdings kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht garantiert werden, dass es Anfang des neuen Jahres noch Tickets geben wird – zögern Sie also nicht, wenn Sie gerne persönlich teilnehmen möchten!
Selbst dann, wenn Sie kein Ticket mehr bekommen sollten oder aus anderen Gründen nicht persönlich nach Berlin reisen können oder wollen, ist eine Teilnahme an der Konferenz möglich – über unseren kostenlosen Livestream. Wir senden am 11. Januar sämtliche Inhalte der Konferenz von 10 bis 20 Uhr über jungewelt.de. Unsere Kooperationspartner aus unterschiedlichen Ländern, darunter Morning Star aus Großbritannien, Arbeijderen (Dänemark) oder Cuba Información, unterstützen dies, indem sie unseren Stream verlinken oder ihn direkt auf ihren Webseiten spiegeln. Unser Livestream wird in allen vier Konferenzsprachen – Deutsch, Englisch, Spanisch und Türkisch – zur Verfügung gestellt.
Der kollektive Aspekt der Veranstaltung, das Wiedersehen mit Freunden und Genossen aus verschiedenen Ländern, macht die Rosa-Luxemburg-Konferenz zu dem, was sie ist: zum jährlichen Highlight im politischen Kalender. Doch auch hier gibt es Möglichkeiten, das Zuschauen aus der Ferne zum gemeinsamen Erlebnis zu machen: Warum nicht in der Kneipe mit wohlgesinntem Wirt, im Jugendklub oder im Stadtteilzentrum einen Monitor aufstellen und zusammen mit anderen die Konferenz verfolgen? Wenn Sie selbst vorhaben, den Livestream öffentlich oder gemeinsam mit Freunden zu schauen, können Sie sich gerne unter kommunikation@jungewelt.de melden, damit wir andere darauf hinweisen können. Hinterher freuen wir uns übrigens immer sehr über Fotos von solchen Aktionen – Nachahmung ist ausdrücklich erwünscht!
Der Livestream ist für Sie zwar komplett kostenlos, für uns aber teuer. Denn um eine entsprechende Qualität zu erzielen, die das Zuschauen möglichst zum ruckelfreien Genuss macht, ist ein enormer technischer und personeller Aufwand nötig; auch die Synchronübersetzung in mehrere Sprachen kostet uns viel Geld. Das klappt nur mit Ihrer Hilfe: Unterstützen Sie uns mit einer Spende, wenn Sie den Stream sehen oder anderen dies ermöglichen möchten! Ab einem Betrag von 40 Euro senden wir Ihnen den Kühlschrankmagneten mit dem Motiv der Konferenz als Dankeschön und als eine Art symbolische Eintrittskarte zu. Geben Sie dazu bitte bei der Überweisung Ihren Namen und die Lieferadresse für die Zusendung an:
27.12.2024 19:30 Uhr
Unbeleuchtete Geschichte
Der israelische Filmemacher Eran Torbiner stellt sein Werk am Sonntag nach der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der jW-Maigalerie vor
jW-Maigalerie
Am 12. Januar 2025 wird zwar die Rosa-Luxemburg-Konferenz vorbei sein – die nächste wird erst wieder am 10. Januar 2026 stattfinden. Doch am Sonntag nach der Konferenz ist in Berlin traditionell immer viel los: Trotz einer großen Baustelle vor der Gedenkstätte der Sozialisten soll die Demonstration im Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Sonntag um 10 Uhr in Friedrichshain starten und zum Friedhof führen. Dort findet traditionell das Gedenken an die ermordeten Revolutionsführer statt. Wer sich nach dem Besuch auf dem Friedhof in Lichterfelde, wo auch die Demo endet, noch stärken möchte, hat dazu die Gelegenheit in der Maigalerie der Tageszeitung jungeWelt (Torstraße 6, 10119 Berlin): Dort wird um 14 Uhr die Veranstaltung »Kämpfer der Internationalen Brigaden, antizionistische Aktivisten und Kriegsdienstverweigerer – ein Treffen am Schneidetisch in Tel Aviv« mit Eran Torbiner und Susann Witt-Stahl, Chefredakteurin des Magazins Melodie&Rhythmus, stattfinden.
Torbiner ist israelischer Filmemacher, dessen erstes Dokumentationsprojekt der sozialistischen Organisation Matzpen galt, mit der er schon während seines Studiums der Politikwissenschaften in Tel Aviv in Kontakt kam. Der britische Regisseur Ken Loach inspirierte ihn zu seinem zweiten Film über jüdische Freiwillige in den internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Das filmische Schaffen Torbiners wird Gegenstand eines Gesprächs sein, weiterhin werden einige Ausschnitte aus seinem Werk gezeigt.
Sein zweites Projekt wird dann sicher auch eine Rolle spielen: das Archiv der Linken in Israel. Früher hatte die Kommunistische Partei Israels ihr Archiv in die UdSSR geschickt, um es vor dem Zugriff der Behörden zu schützen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging das Archiv an die Nationalbibliothek in Jerusalem und damit unter die Kontrolle des israelischen Staates. Darüber hinaus gibt es weitere Organisationen und Einzelpersonen, die Dokumente aus Jahrzehnten politischer Arbeit produziert haben. Diese zusammenzutragen und verfügbar zu halten, hat sich Torbiner zur Aufgabe gemacht.
Diese und weitere spannende Aspekte werden am 12. Januar 2025 in der jW-Maigalerie zur Sprache kommen. Wir freuen uns, wenn Sie an diesem Tag bei uns vorbeikommen – vielleicht, um das Wochenende mit Konferenz, Friedhofsbesuch und Demo bei einer spannenden Veranstaltung im Warmen ausklingen zu lassen!
26.12.2024 19:30 Uhr
»Ich bin nicht nur eins, ich bin vieles«
Über Burkina Faso, Sprachwitz und Wahlpopulismus. Ein Gespräch mit Ezé Wendtoin
Hagen Bonn
Sie haben meine Aufmerksamkeit erregt, als Sie sagten, die deutsche Sprache sei »witzig«. Vielen Dank, endlich hat das jemand bemerkt. Ich war 20 Jahre alt, als ich über bestimmte Wörter stolperte: Doppelhaushälfte und Holzeisenbahn. Aber auch Formulierungen wie »eingefleischter Vegetarier« finde ich klasse.
Donnerwetter! Es ist ein bisschen verrückt, dass Sie hier Oxymora wie »Doppelhaushälfte« benennen. Denn ausgerechnet die haben mir in den letzten Tagen schlaflose Nächte bereitet. Über diese Paradoxa und Wortspiele der deutschen Sprache schreibe ich gerade einen Songtext. Meine Songs »Ratzfatzlatzspatz«, »Ups-Salat« oder »Ruth Ding will Weile« sind durch meine Leidenschaft zur deutschen Sprache entstanden. Das Nachdenken und Grübeln über gewisse Wörter sind für mich wie ein Leiden, das letztendlich doch Freude schafft! So stieß ich gleich zu Beginn meines Masterstudiums in Dresden auf den Begriff »Wahlpflichtfach« und fragte mich, was jetzt? Habe ich nun die Wahl oder nicht?
Sie thematisieren oft die »politische Dimension des Schwarzseins in Deutschland«. In Ihrem Lied »Kein Mensch ist illegal« singen Sie:»Aus Senegal, Wuppertal oder Portugal / Scheißegal, kein Mensch ist illegal.«In Strophe zwei werden Sie dann deutlicher:»Über die Kriegsursachen sind wir gerne stumm / Aber wenn Menschen hierherkommen, meckern viele rum.«Das Thema Fluchtursachen wird oft vergessen, aber aktuell überschlagen sich die politischen Forderungen, Syrer nach Hause zu schicken. Wie ordnen Sie das ein?
Die massive Nutzung entmenschlichender Begriffe wie »illegale Einwanderer« oder »Asylbetrüger« ist in den letzten Jahren zur Normalität geworden. Das hat die Grausamkeit der Begriffe fast unsichtbar gemacht. Der deutsche Staat predigt Wasser und trinkt Wein: Migranten zu Sündenböcken zu machen und vor ihrem Leid und ihrem Recht auf Menschenwürde die Augen zu verschließen, ist heuchlerisch, ja rassistisch! Wie passt das zur Demokratie und vermeintlich europäischen Werten? Ich denke, dass sich aktuell manche Parteien von diesem Populismus erhoffen, rechte Wähler für sich zu gewinnen. Die Diskussion um Migration ist nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver von den echten Problemen – von der Ausbeutung bis zu den globalen Ungerechtigkeiten, die Menschen zur Flucht treiben. Gleichzeitig wird die Spaltung im Land vorangetrieben: Kürzungen in der Jugendarbeit, Bildung und Kultur. Ich finde das ziemlich absurd.
ZuIhremHerkunftsland. Die Sicherheitslage in Burkina Faso war in den vergangenen Jahren recht fragil. Islamistische Gruppen sind im Norden aktiv, und das Militär hat erst kürzlich wieder die Regierung aufgelöst. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Klar, es schmerzt mich sehr, dass die allgemeine Lage im »Motherland« eine echte Herausforderung darstellt. Durch Gespräche mit Verwandten und Freunden ist meine Gesamteinschätzung so, dass die Menschen vor Ort mit den neuen Verantwortlichen eher Zuversicht und Hoffnung verbinden. Als jemand, der zwischen den Ländern, also als »inzwischen dazwischen« Lebender, lebt, ist es ein gutes Gefühl, vor Ort zu spüren, dass die Menschen optimistisch sind. Ich wünsche mir, dass eine Regierung frei von äußeren imperialistischen Einflüssen und unter Wahrung der Rechte und Interessen der Bevölkerung das Land entwickeln und stabilisieren kann.
Viele achten Sie wegen Ihrer musikalischen Vielfalt – westafrikanische Rhythmen, Rap und Afrobeats. Wie verträgt sich das kalte Berlin damit? Vermissen Sie bei Konzerten den Passatwind »Harmattan« und die hohen Temperaturen nicht?
Wenn Sie so fragen, muss ich darauf aufmerksam machen, dass sich die klimatischen Bedingungen der Region konstant zuspitzen, also verschlechtern. Von dieser Klimakrise vor Ort sind freilich alle Menschen und besonders die Kleinbauern betroffen. Dass der globale Süden mit Überhitzung und Naturkatastrophen zu kämpfen hat, ist Folge der kolonialen und imperialistischen Vorherrschaft des weißen Nordens. Und klar, dieser Klimarassismus ist eine Fluchtursache!
Zur Musik. Ich bin nicht nur eins, ich bin vieles: in Sprachen, Gedanken, Geschmäckern oder Musik. Ich möchte mich nicht in eine Kiste sperren lassen. Ich cancle mich nicht, wenn ich gewisse Klischees erfülle. In einem entstehenden Text heißt es: »Meine Zunge behalte ich nicht in meiner Tasche. Ich bin ein Mensch freier Gedanken und keine Maultasche.«
13.12.2024 19:30 Uhr
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Liebe Leserinnen und Leser!
Beschenken Sie sich in diesem Jahr doch mal selbst und schreiben der Weihnachtsfrau die untenstehenden drei Wünsche auf den Zettel. Vielleicht sind Sie aber auch schon wunschlos glücklich, kennen dafür aber jemanden, der sich über den einen oder anderen der genannten Artikel unterm Weihnachtsbaum freuen würde? Dann erfüllen Sie doch diesen Wunsch! Bitte beachten Sie dabei, dass Ihre Bestellung bis spätestens zum kommenden Mittwoch, den 18. Dezember, bei uns eingetroffen sein muss, damit das Geschenk auch bis zum 24. Dezember bei Ihnen ankommt.
»Der Bandera-Komplex«. Dieses Buch, das auf Grundlage einer internationalen Konferenz von junge Welt und Melodie & Rhythmus mit Faschismusexperten zustande kam, war im Nu ausverkauft. Jetzt liegt die zweite Auflage vor, und auch die wird wohl kaum bis zur Rosa-Luxemburg-Konferenz reichen. Besorgen Sie sich dieses Buch, in das auch Gespräche mit den Referenten sowie jW-Artikel, die im Zeitraum von 2022 bis 2024 zum Bandera-Komplex erschienen sind, aufgenommen wurden. Bestellen können Sie das Buch in Ihrer Buchhandlung oder auf jungewelt-shop.de/Witt-Stahl-Hg-Der-Bandera-Komplex. Preis: 23,90 Euro (hier finden Sie auch noch andere spannende jW-Bücher!)
junge Welt-Abo. Als marxistisch orientierte Tageszeitung beschäftigt sich die jungeWelt mit Fragen, auf die es ankommt: Wer rüstet auf und warum? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Mit einem Abo der jW erhalten Sie Antworten auf Fragen, die andere gar nicht erst stellen. Alle Möglichkeiten des Bezugs finden Sie auf jungewelt.de/abo. Als Geschenk eignet sich besonders ein Aktionsabo. Der oder die Beschenkte erhält entweder 75 Ausgaben der gedruckten jW für 75 Euro oder für drei Monate den Zugang zur aktuellen jW-Ausgabe im Netz und den Zugriff auf unser bis 1997 zurückreichendes Onlinearchiv für nur 18 Euro. Beide Aktionsabos laufen automatisch aus, müssen also nicht abbestellt werden.
RLK-Ticket. Für viele Leserinnen und Leser ist die Rosa-Luxemburg-Konferenz ein fester Termin im Kalender. Auch in diesem Jahr haben wir wieder ein hochkarätiges Programm zusammengestellt. Das Motto der diesjährigen Konferenz lautet: »Das letzte Gefecht – Wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?« Das ganze Programm finden Sie auf jungewelt.de/rlk. Darüber hinaus ist die RLK ein Ort, an dem Sie sich mit anderen Aktiven der Friedens- und Arbeiterbewegung bekannt machen und vernetzen können. Bestellen können Sie auf jungewelt-shop.de/tickets. Wenn Sie das Ticket zu Weihnachten verschenken wollen, muss Ihre Bestellung bis zum kommenden Mittwoch, den 18. Dezember, bei uns eingegangen sein. Bestellbar bleibt das Ticket noch bis zum Freitag, den 3. Januar 2025 (damit wir es Ihnen noch rechtzeitig vor der Konferenz zuschicken können). Danach sind nur noch verbindliche Reservierungen möglich – falls die Veranstaltung dann nicht schon ausverkauft ist. Das Normalticket erhalten Sie für 39 Euro, mit dem Soliticket für 59 Euro helfen Sie mit, die Sozialtickets für 24 Euro zu finanzieren.
13.12.2024 19:30 Uhr
RLK 2025: Mit Spenden die junge Welt entlasten
Verlag, Redaktion und Genossenschaft junge Welt
Der Kartenvorverkauf für die 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025 läuft ausgesprochen gut. Die Veranstaltung finanziert sich allerdings nur zum Teil über die Eintrittskarten. Neben Standgebühren und den Beiträgen der Unterstützer sind es vor allem Spenden, die darüber entscheiden, wie hoch der fehlende Restbetrag ist. Der wird von Verlag und Genossenschaft der jungen Welt übernommen. Deshalb hilft auch Ihre Spende bei der Finanzierung der Konferenz, entlastet die junge Welt und macht sie auch künftig möglich. Bitte notieren Sie auf Ihrem Überweisungsträger den Spendenzweck »RLK 2025«. Ab einer Spende von 40 Euro erhalten Sie als kleines Dankeschön den Kühlschrankmagneten mit dem aktuellen Konferenzlogo. Um Ihnen diesen zuschicken zu können, geben Sie bitte auch Namen und Adresse an.
06.12.2024 19:30 Uhr
Meinungsfreiheit kostet Geld. Ein Aufruf
Dietmar Koschmieder, Nick Brauns, Michael Sommer für Verlag, Redaktion und Genossenschaft der jungen Welt
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland legt großen Wert auf Pressefreiheit und garantiert jedem, seine Meinung frei äußern und sich aus allgemein zugänglichen Quellen frei informieren zu können. Liest sich gut auf Papier oder im Netz, allerdings sind Anspruch und Realität zwei Paar Stiefel. Denn um Meinungen, Analysen und Fakten tatsächlich wirkungsvoll nach außen vertreten zu können, braucht man ein Medium mit Reichweite. Wenn dort die Inhalte der Bundesregierung allerdings nicht passen, schränkt diese schon mal (wie im Fall junge Welt) die Pressefreiheit massiv ein.
Aber auch das Recht, Inhalte und Meinungen über Veranstaltungen verfügbar zu machen, wird stark beschränkt. Mit der Rosa-Luxemburg-Konferenz erreicht die junge Welt seit nunmehr fast 30 Jahren regelmäßig Tausende Interessierte. Die Durchführung so einer Veranstaltung war noch nie leicht, schon weil der Verfassungsschutz die Konferenz verleumdet und reaktionäre Kräfte versuchen, eine Raumvergabe an die junge Welt zu verhindern. Es kommt aber ein mittlerweile großes Problem hinzu: Für die Durchführung einer Raumveranstaltung mit drei- bis viertausend Teilnehmern muss Kapital in sechsstelliger Höhe zur Verfügung stehen. Ansonsten ist diese Option der Meinungsfreiheit nicht möglich.
Das war nicht immer so. Die Rosa-Luxemburg-Konferenzen fanden in den ersten Jahren an diversen Hochschulen und Universitäten statt. Da ein studentisches Gremium Mitveranstalter und Unterstützer war, konnten die Räumlichkeiten kostenfrei genutzt werden. Diese Option gibt es längst nicht mehr. Studierendenvertretungen wurde das gesamtpolitische Mandat genommen, mittlerweile verlangen auch Hochschulen hohe Nutzungsgebühren. Die junge Welt wurde dann (auch aus Platzgründen) in die Urania und später in das MOA-Konferenzhotel verlegt. Die Raumkosten stiegen von einigen tausend Euro auf einen mittleren fünfstelligen Betrag. Mit Corona explodierten zum einen die Raumkosten, zum anderen trauen sich Einrichtungen, die von öffentlichen Mitteln abhängig sind, immer weniger, politisch exponierten Veranstaltern Räume zur Verfügung zu stellen. Mittlerweile muss bei der Planung der Konferenz alleine für Raumnutzung und Ausstattung ein sechsstelliger Betrag berechnet werden, auch andere Kostenfaktoren sind explodiert. Benötigten wir zur Finanzierung der ersten Rosa-Luxemburg-Konferenz 1996 deutlich weniger als 5.000 Euro, brauchen wir für die 30. Konferenz 2025 mindestens 300.000 Euro. Ohne die Beiträge von über 30 Unterstützerorganisationen, aber vor allem ohne die Spenden von vielen Leserinnen und Lesern der Tageszeitung junge Welt und vielen Besucherinnen und Besuchern der Konferenz (vor Ort und vor den Bildschirmen) ist so eine Konferenz für uns nicht mehr finanzierbar. Trotzdem bleiben die Eintrittspreise von Verlag und Genossenschaft der jungen Welt bezuschusst, selbst in der Solipreiskategorie.
Der politische Stellenwert dieser Veranstaltung im europäischen Raum hat allerdings in den vergangenen 30 Jahren zugenommen. Die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz ist der Jahresauftakt linker Kräfte. Sie liefert Orientierung und Analyse, führt Menschen aller Altersschichten und unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammen, die Verhältnisse verändern wollen, und macht die Erkenntnis im Wortsinn hautnah erlebbar, dass sie dabei nicht alleine sind. Dass die Tageszeitung junge Welt neben der anstrengenden Arbeit, werktäglich eine gute Zeitung anzubieten, auch die Mühen einer solchen Konferenz auf sich nehmen kann, ist dem Umstand zu danken, dass sie über eine starke Basis von Abonnentinnen und Abonnenten verfügt. Damit aber die Zuschüsse, die der jW-Verlag und seine Genossenschaft auch diesmal zur Verfügung stellen, möglichst niedrig ausfallen, sind wir auf jede Spende angewiesen. Bitte nutzen Sie deshalb den Zahlungsträger, der der heutigen Ausgabe der jW beiliegt, oder überweisen Sie Ihre Spende online!
06.12.2024 19:30 Uhr
»Zionismus killt uns und macht uns zu Killern«
Über Versuche, unterdrückte sozialistische Alternativen in Israel zu retten. Ein Gespräch mit Eran Torbiner
Susann Witt-Stahl
Der Antizionismus zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr Filmschaffen und Ihr Archiv der Linken in Israel. Warum?
Die zionistische Linke wie etwa die Meretz-Partei ist in erster Linie nationalistisch. Es gibt rechte und linke Zionisten, aber das sind keine wirklichen Linken. Es gibt nur eine Linke, und die ist sozialistisch. Daher nenne ich mein Projekt auch nicht Archiv der radikalen Linken, sondern Archiv der Linken. Sozialisten waren von Anfang an in Palästina und haben immer für Gleichberechtigung gekämpft und dagegen, dass jemand Privilegien hat, zum Beispiel wegen seiner jüdischen Herkunft. Die Palestine Communist Party existiert seit 1919, Anhänger des 1897 in Wilna entstandenen sozialistischen Bundes kamen bereits Anfang der 1920er Jahre nach Palästina. 1951 gründeten sie die israelische Sektion des Bundes und ihre eigene Zeitung, Lebns-fragn.
Politisch sozialisiert wurden Sie aber in einer linkszionistischen Jugendbewegung.
Ja, in Haschomer Hatzair und Mapam – Vereinigte Arbeiterpartei. Mein Vater nahm mich schon zu 1.-Mai-Kundgebungen mit, als ich noch klein war. Während des ersten Libanon-Krieges 1982 diente er in der Armee, aber wenn er Fronturlaub hatte, ging er mit mir zu den Antikriegsdemos. Als ich 14 Jahre alt war, habe ich dann selbst Proteste organisiert. Zum Beispiel haben wir mit 20, 30 Jugendlichen Kundgebungen von Meir Kahane, dem Führer der faschistischen Kach-Partei, Vorgänger von Itamar Ben-Gvirs Otzma Jehudit, mit Sprechchören wie »Lo, lo, lo ya’avor, Hafashizem, lo ya’vor« (freie hebräische Übersetzung von »¡No Pasarán!«) gestört.
Hat Ihre Familie eine lange linke Tradition?
Ja. Mein Großvater väterlicherseits war Kommunist, und mein Vater war sozialistischer Zionist und auch schon bei Haschomer Hatzair. Ich bin 1971 in Bat Jam, einer Stadt am Meer südlich von Tel Aviv, geboren. Aber sie hatten ihre Wurzeln in Warschau; dort saß mein Großvater als junger Mann wegen seiner kommunistischen Aktivitäten ein Jahr im Gefängnis. Während des Zweiten Weltkriegs lebte die Familie in der Sowjetunion – dort kam auch mein Vater 1940 auf die Welt – und kehrte später nach Polen zurück. Als dort der Antisemitismus zunahm, wanderte sie 1957 nach Israel aus. Zunächst wählten mein Großvater und mein Vater die Kommunistische Partei, später Mapam. Die Schwester meiner Großmutter und andere ältere Familienmitglieder blieben ihr ganzes Leben lang Kommunisten. Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit mit ihnen verbracht.
Auch zur linkszionistischen Erziehung gehört der Militärdienst.
Meine Freunde rieten mir, zu verweigern. Aber ich meinte damals noch, es wäre besser, wenn auch Leute wie ich, die keine Rassisten und gegen die Okkupation sind, zur Armee gingen – als Gegengewicht zu den verdammten Faschisten. Ich war bei einer Fallschirmjägereinheit der Nahal-Bewegung, die die Arbeit im Kibbuz mit dem Militärdienst verbindet. Ich spreche ein bisschen Arabisch. Eines Tages musste ich zu einem Einsatz in Aqabat Jaber, einem Flüchtlingslager bei Jericho, und sollte übersetzen. Wir klopften morgens um fünf Uhr an die Haustür einer Familie, um den Vater mitzunehmen. Seine Kinder begangen zu weinen, und ich weinte mit ihnen und sagte meinem Offizier: »Es reicht – ich kann das nicht.« Der Kommandeur meines Zugs erklärte mir später im Stützpunkt, ich sei eine Schande für die israelische Armee, und er könne mich ins Gefängnis bringen. Statt dessen wurde ich zum Küchendienst eingeteilt und noch zu Einsätzen in den Libanon, aber nicht mehr in die besetzten Gebiete gegen Zivilisten geschickt. Ich habe später von ähnlichen Fällen gehört. Man wollte das Problem der Verweigerer in der Armee geräuschlos lösen, um zu vermeiden, dass aus einem Refusenik zehn Refuseniks werden.
Wie sind Sie schließlich Antizionist geworden?
Ich habe 1994 ein Politikwissenschaftsstudium mit Schwerpunkt Medien und Dokumentarfilm an der Universität Tel Aviv begonnen und erste Erfahrungen beim israelischen Fernsehen gesammelt – ich wollte Journalist werden. Ich trat in den Studentenverband von Chadasch ein und gründete die Organisation »Studenten für soziale Veränderung«, dort schloss ich auch meine ersten Freundschaften mit Palästinensern. Ich hatte schon früher bei Haschomer Hatzair von der Sozialistischen Organisation in Israel gehört, besser bekannt unter dem Namen ihres Organs Matzpen, dessen erste Ausgabe am 21. November 1962 erschienen war. Ebenso kannte ich aus Presseberichten Udi Adiv, der sich der Untergrundorganisation Rote Front von Maʼawak, einer Abspaltung von Matzpen, angeschlossen hatte, nach Syrien gegangen, 1972 vom israelischen Sicherheitsdienst Schabak (auch bekannt als Schin Bet, jW) verhaftet und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Als er 1985 vorzeitig freikam, gab es viele Schlagzeilen, wie »Der Verräter ist entlassen worden«. Mir hatten schon Freunde meines älteren Bruders, die sehr radikal waren, vom Antizionismus erzählt. Ich habe damals noch nicht verstanden, wie man Israeli und gleichzeitig gegen den Zionismus sein konnte. Nach israelischem Selbstverständnis ist jeder Zionist ein guter Mensch, der alten Damen über die Straße hilft. Erst als ich für eine Seminararbeit, die ich über Matzpen als leninistische Organisation schreiben wollte, Moshe Machover, Akiva Orr, Haim Hanegbi, Michel Warschawski, Leah Tsemel und andere ihrer Mitglieder traf, verstand ich, was Zionismus wirklich ist: eine Ideologie. Und diese Ideologie hat sich als die größte Katastrophe erwiesen – für die Juden, die Araber, die Israelis, vor allem für die Palästinenser. Zionismus killt uns und macht uns zu Killern. Er hat die jüdischen Israelis dazu gebracht, nur noch an sich selbst zu denken und in einem Getto zu leben.
Das bedeutet auch völlige Abschottung von den Palästinensern.
Die israelische Gesellschaft ist sehr rassistisch. Araber werden immer als bösartig oder als Abschaum und Idioten dargestellt, im Alltag sind sie nur die Leute, die unseren Müll entsorgen und unsere Teller spülen. Ein großes Problem ist, dass weit mehr als 90 Prozent der israelischen Juden kein Arabisch können. Viele israelische Soldaten würden das Massaker im Gazastreifen nicht mitmachen, wenn sie arabische Zeitungen lesen, die Kultur kennen und die Palästinenser als Menschen wahrnehmen würden. Aber sie betrachten die Bewohner des Gazastreifens nur als Terroristen, die angeblich alle am 7. Oktober beteiligt gewesen sind – wenn nicht als Angehörige der Hamas, so zumindest als deren Unterstützer. Das ist absolut verrückt!
Wie kam es dazu, dass Sie Ihren ersten Film über Matzpen gedreht haben?
1997 schrieb ich eine zweite Seminararbeit über die Bündnisse von Matzpen und der sozialistischen Linken in den seit dem 67er Krieg besetzten Gebieten. Matzpen arrangierte Treffen für mich in Ramallah mit dem Mitgründer der Volksfront zur Befreiung Palästinas und Gründer der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas, Nayef Hawatmeh, und anderen marxistischen Linken. Ich filmte auch die große Konferenz anlässlich des 35. Geburtstags von Matzpen an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Unter den Rednern waren Michael Warschawski, Jamal Zahalka, Vorsitzender der Balad-Partei, moderiert hat Daphna Baram vom Alternative Information Center, einer linken Grassroot-Organisation, die mit dem internationalen Friedenslager vernetzt ist. Erster Redner war Akiva Orr, ein Gründungsmitglied von Matzpen, der Israel 1964 verlassen, danach seinen Wohnsitz in London hatte und 1991 zurückgekehrt war. Er war sehr charismatisch und lebte, was er sagte. Seine Rede hat mich unglaublich bewegt und inspiriert – sie markiert einen Wendepunkt in meinem Leben. Ähnlich erging es mir, als ich im Jahr 2000 Moshe Machover in London traf – einen der letzten Überlebenden eines Israels, wie es sein könnte. Diese Leute haben vielen Menschen die Augen geöffnet, in Israel und auch in anderen Ländern.
Matzpen pflegte Kontakte zur APO in der BRD und zu Linksradikalen in Europa.
Ja. Akiva Orr war in Berlin geboren worden, emigrierte aber 1934 mit seinen Eltern nach Palästina. Er war mit dem Dichter Erich Fried befreundet, der in London sein Nachbar war und ihn mit Rudi Dutschke bekannt machte. 2005 hat er Erich Fried in seinem Buch »Enlightening Disillusionments« ein Kapitel gewidmet. Matzpen konnte zwar in Israel für seine Demonstrationen keine Massen mobilisieren, aber sie waren international sehr gut vernetzt und hatten namhafte Unterstützer wie Jean-Paul Sartre und Tariq Ali. Diese Leute schrieben regelmäßig Protestbriefe, wenn Mitglieder von Matzpen verhaftet wurden. Ehud Sprinzak, ein renommierter Extremismusforscher, den ich interviewt habe und der auch als Berater für den Schabak gearbeitet hat, sagte, dass die Regierung Matzpen als gefährlich betrachtete, weil die Mitglieder der Organisation aus dem Herzen der israelischen Gesellschaft kamen. Dass Sabre (in Israel geborene Juden, jW) wie Moshe Machover, der in der israelischen Armee gedient hatte und Mathematikprofessor an der Hebräischen Universität war, sich gegen den Zionismus aussprachen, löste einen Schock aus.
Wie ist es heute um die antizionistische Linke in Israel bestellt?
Sie ist sehr isoliert und kaum mehr existent. Von den einigen hundert Aktivisten, die es noch gibt, werden vermutlich nicht mehr viele Moshe Machover und Akiva Orr kennen. Sie werden Antizionismus eher allgemein mit sozialistischen Ansichten und Protesten gegen die Besatzung in Verbindung bringen. Ich fürchte, das ist im Ausland kaum anders.
Inwieweit kann sich diese Linke in Israel überhaupt noch frei artikulieren?
Die Polizei und die Öffentlichkeit tolerieren es gar nicht mehr, wenn auf Demonstrationen Palästina-Fahnen geschwenkt oder Slogans gegen das Massaker im Gazastreifen gerufen werden. Nicht nur antizionistische, sondern auch nichtzionistische Linke ernten aggressive Reaktionen und können verhaftet werden, sobald sie nur ein Plakat mit dem Wassermelonensymbol für Palästina hochhalten. Die Situation der palästinensischen Bürger Israels, selbst wenn sie keine Verbindung zur Linken haben, ist noch weitaus schlimmer. Sie können schon für Facebook-Posts im Gefängnis landen, sogar wenn sie nur Mitgefühl mit den Menschen in Gaza zeigen. Palästinensische Politiker und andere Bürger können jederzeit in den Straßen von Städten, wo Juden die Mehrheit bilden, etwa in Beer Scheva oder Tel Aviv, angegriffen werden. Auch der Kulturbetrieb ist von Repression betroffen: Zum Beispiel schloss die Polizei ein Kino, in dem eine Dokumentation über die Nakba in der Stadt Lyd aufgeführt werden sollte, ebenso einen Klub, der einen Film über das Flüchtlingslager Dschenin zeigen wollte.
Von um so größerer Bedeutung ist Ihr zweites Arbeitsfeld, das Archiv der Linken in Israel.
Ich habe es im Juli 2023 gegründet, um Sozialisten zusammenzubringen. Die Freunde von Matzpen, der Kommunistischen Partei, dem Bund etc. Viele Genossen sind schon alt, krank und in Vergessenheit geraten. Aber wir sind eine Gemeinschaft. Wir treffen uns auf Demonstrationen. Es ist eine goldene keyt, wie man auf jiddisch sagt. Das Archiv der Linken soll daran erinnern, dass es immer eine Alternative zum zionistischen Konsens gab, für alle Menschen vom Fluss bis zum Meer. Es soll Linken mit den dort versammelten historischen Fakten eine Waffe in die Hand geben. Was Sozialisten in den 1940ern, den 1960ern und 1970ern geschrieben haben, ist enorm wichtig für die Gegenwart. Sie wussten, wohin der Zionismus, die Nakba, die Besatzung und die Militäroperationen uns alle treiben. Nach dem 7. Oktober habe ich ein 1971 veröffentlichtes »Schwarzbuch Gaza« hochgeladen, über Greueltaten, Morde, Vergewaltigungen, die Israelis an Palästinensern bereits in den späten 60er Jahren begangen hatten – die hässlichsten Dinge, die Menschen einander antun können. Das bedeutet freilich nicht, dass diese Massaker die Massaker vom 7. Oktober rechtfertigen. Es zeigt aber, dass solche Brutalität nicht an die Herkunft gebunden ist. Heute ist die Verwendung des Wortes »Kontext« in Israel tabu, niemand will etwas vom Leben und Sterben der Menschen in Gaza vor dem 7. Oktober hören. Den Kontext zu kennen und zu verstehen, ist aber unabdingbar notwendig, damit so etwas nicht wieder geschehen kann.
Beim Zusammenbruch des Realsozialismus ist eine Menge des historischen Erbes der internationalen Linken verschüttet worden – war das in Israel auch so?
Früher hat die Kommunistische Partei jedes Jahr die Updates ihres Archivs in die UdSSR geschickt, weil sie damit rechnen musste, dass die israelischen Sicherheitsbehörden die Dokumente beschlagnahmen würden. Nach dem Kollaps der UdSSR hat die KP ihr Archiv verloren – es wurde einfach verkauft. Vor einigen Jahren wurde es zurückgegeben, heute ist es in der Nationalbibliothek in Jerusalem und damit unter Kontrolle des zionistischen Staates.
Und wie sind Sie an die zum Teil einzigartigen historischen Dokumente gelangt, die Sie im Archiv der Linken verwahren?
Viele der alten Genossen, mit denen ich gearbeitet habe, gaben mir Bücher, Broschüren und Plakate. Sie fürchteten, dass diese nach ihrem Tod auf dem Müll landen könnten. Eines Tages fand ich mich in meinem Zwei-Zimmer-Apartment mit zehn riesigen Kisten voller historischer Dokumente wieder. Es gibt natürlich noch mehr Material über die antizionistische Bewegung, aber verteilt auf viele Archive, und man bekommt nirgendwo die ganze Geschichte erzählt. Daher beschloss ich, die Webseite Documenting the Left aufzubauen, mit einem bisschen Material aus verschiedenen Jahrzehnten, zum Beispiel von John Bunzl, Felicia Langer etc., als Visitenkarte. Besonders wichtig sind mir die Videos von den Interviews mit Hunderten von Aktivisten, die ich in den vergangenen 27 Jahren gefilmt habe. So können israelische Linke in Tel Aviv oder auch in Berlin und in der ganzen Welt ihre politischen Vorfahren kennenlernen.
Dazu gehören auch die jüdischen Freiwilligen der Internationalen Brigaden im Spanischen Krieg, denen Sie Ihren zweiten Film »Madrid Before Hanita« gewidmet haben.
Die Kämpfer der Internationalen Brigaden in Spanien sind meine Helden. Ihnen war es gelungen, eine Volksfront aufzubauen, wie auch in Frankreich unter der Führung von Léon Blum. Ich gehe auf Demonstrationen und unterzeichne Petitionen etc., aber diese Leute waren bereit, ihr Leben zu opfern. Der letzte der jüdischen Freiwilligen starb 2012, und ich denke immer wieder: Wie konnte man es wagen, ihre Geschichte nicht früher zu erzählen?! Inspiriert wurde ich von Ken Loachs Spielfilm »Land and Freedom« – die zweite Offenbarung in meinem Leben. Nach dem Interview mit dem berühmten Spanien-Kämpfer und Journalisten Kurt Goldstein, das ich in Berlin geführt hatte, fühlte ich, dass ich einen Schatz geborgen hatte. Es war auch ein riesiges Privileg, David Ostrowski, Schmuel Segal und Dora Lewin zu begegnen. Schon bevor sie nach Spanien gingen, wussten sie, dass dort ein gigantisches Gemetzel im Gange war. Viele Kommunisten aus Palästina, die im Juli 1936 zur Volksolympiade – eine Gegenveranstaltung zu Hitlers Olympischen Spielen in Berlin – nach Barcelona gekommen waren, blieben, um gegen die Faschisten zu kämpfen; nicht wenige starben bereits kurz nachdem der Krieg begonnen hatte.
Apropos Faschismus: Heute sind die Kahanisten so mächtig wie nie zuvor in Israel. Wie gefährlich ist das für die Linke?
Dank Netanjahu, der Ben-Gvir zum Minister für Nationale Sicherheit ernannt hat, und der Apathie des Großteils der israelischen Bevölkerung kontrollieren die Kahanisten den Polizeiapparat. Jeder Beamte weiß sehr gut, was er zu tun hat, wenn er eine Karriere anstrebt. Ich bin mir sicher, dass die Polizei längst Listen mit den Namen von Linken hat und handeln wird, sobald sie den richtigen Zeitpunkt gekommen sieht. Außerdem war eine der ersten Maßnahmen, die Ben-Gvir veranlasst hat, die Herausgabe von Zehntausenden Waffenscheinen. Viele dürften an militante Rechte gegangen sein. Sie können jede Sekunde losschlagen.
29.11.2024 19:30 Uhr
junge Welt unbeliebt
Kampf für Aufklärung und Pressefreiheit geht weiter
Verlag, Redaktion und Genossenschaft
Insgesamt 98 neue Abobestellungen für die junge Welt haben unseren Verlag alleine in dieser Woche erreicht (siehe Graphik). Erfreulich viele davon (41) sind unbefristet, die klare Mehrheit der Neuabonnenten (32) hat sich für ein Printabo (und neun für ein Onlineabo) entschieden. Bei den in dieser Woche bestellten befristeten Aktionsabos (57) sieht es genau umgekehrt aus: 38 wollten die digitale Version für 18 Euro, für die gedruckte (75 Ausgaben für 75 Euro) entschieden sich »nur« 19 Leserinnen und Leser. Zunächst aber erst einmal ein herzliches Dankeschön an alle, die uns in dieser und in den vergangenen Wochen geholfen haben, Reichweite und Ökonomie der Tageszeitung junge Welt zu erweitern. Und natürlich Glückwunsch zur Entscheidung, die notwendige tägliche Gegeninformation und Aufklärung zu nutzen – und dafür auch etwas zu bezahlen. Denn damit sich die junge Welt diese journalistische Arbeit leisten kann und damit auch eine möglichst hohe Reichweite erzielt, braucht es dringend zusätzliche bezahlte Abonnements. »Nährboden« nennt das die Bundesregierung nicht ganz zu Unrecht, den sie allerdings der jungen Welt am liebsten entziehen möchte – wegen der dort veröffentlichten Fakten und vertretenen Gesinnung. Jedes jW-Abo ist allerdings ein schlagender Beleg dafür, dass ihr das nicht gelingt. Denn die jW kann man falten – aber nicht knicken!
So unbeliebt wie die junge Welt ist in Berliner Regierungskreisen (egal wie die sich heute oder morgen zusammensetzen) auch die von der jW organisierte Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz. Zeitung wie Konferenz würden Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess nehmen, wird uns tatsächlich vorgehalten. Genau das können wir allerdings nur bestätigen. Wenn sie uns dann aber auch noch zu viel »Reichweite« und »Wirkmächtigkeit« vorwerfen, möchten wir dem energisch widersprechen. Da ist noch gewaltig Luft nach oben! Nicht nur bei den Abonnements, auch bei der Zahl der Konferenzbesucher! Am 11. Januar 2025 werden maximal 3.000 Menschen vor Ort in den Berliner Wilhelm-Studios sein können – wem es bis dahin nicht mehr gelungen sein sollte, eine Eintrittskarte zu ergattern, darf die Konferenz gerne auch kostenlos zu Hause (oder mit Freunden) live vor dem Bildschirm mitverfolgen – gemeinsam mit voraussichtlich weiteren 20.000 Zuschauerinnen und Zuschauern. In diesen Tagen konnten wir den Medienkanal Cubainformación als Streamingpartner gewinnen, der den Konferenzstream in spanischer Sprache weltweit verfügbar machen wird. Auch im kommenden Jahr wird der Kampf gegen Hochrüstung, Krieg und faschistische Tendenzen wie die Kraft der internationalen Solidarität im Mittelpunkt stehen – obschon unlängst ein deutsches Gericht behauptete, wir würden mit der Konferenz in Wirklichkeit aktiv die »Errichtung einer Einparteiendiktatur« vorbereiten, alles andere sei Tarnung. Aber: Wir lassen uns nicht knicken! In diesen Tagen haben wir den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Gesinnungsurteil des Berliner Verwaltungsgerichts beim Oberverwaltungsgericht eingereicht. Wenn die Unterstützung so großartig bleibt wie bisher, kann der Kampf auch dank Ihrer Hilfe weitergehen!
22.11.2024 19:30 Uhr
Gemeinsam handeln!
Wie Leserinnen und Leser für die Rosa-Luxemburg-Konferenz werben
Aktion & Kommunikation
Im Aktionsbüro werden fleißig Aktionspakete gepackt, die bereits mehrere Dutzende aktive Leserinnen und Leser bestellt haben: Mit Programmflyern, Plakaten und Aufklebern soll überall im deutschsprachigen Raum auf die nächste Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025 in Berlin hingewiesen werden. Dort werden dann einige tausend Menschen vor Ort zusammenkommen (bitte rasch Karten bestellen, voraussichtlich wird es an der Tageskasse keine mehr geben!), es sollen aber mindestens weitere 20.000 Menschen über den Livestream vor den Bildschirmen erreicht werden. Und darüber hinaus wollen wir, dass Hunderttausende von dieser mutmachenden Konferenz erfahren, auf der sich Linke aus der ganzen Welt in Berlin treffen.
Dazu werben wir Anfang Dezember und Anfang Januar besonders intensiv vor allem in Berlin, Hamburg und Leipzig, aber auch überregional im ganzen deutschsprachigen Raum über Zeitungsanzeigen, Postings im Internet und durch die Verteilung von Werbematerial. Dabei können Sie, liebe Leserinnen und Leser, mitwirken, den Effekt deutlich zu verstärken, indem Sie das Material, das Sie über unsere Aktionspakete bestellen können, in Ihrer Region in Schulen, Kneipen, Einkaufsstraßen und sonstigen Treffpunkten aufhängen bzw. verteilen. Ob am schwarzen Brett in der Uni, am Anschlag der Gemeinde oder im eigenen Schaufenster, die Plakate sind ein Hingucker und regen zum Denken und Diskutieren an. Flyer und Aufkleber lassen sich gut auch direkt an den Mann oder die Frau bringen, etwa auf dem Weihnachtsmarkt oder auf einer Jahresendfeier. Warum nicht mal bei der Pächterversammlung, dem Sportverein oder der freiwilligen Feuerwehr ein bisschen Politik ins Spiel bringen und über das Programm der nächsten Rosa-Luxemburg-Konferenz reden?
Wenn auch Sie hier aktiv werden wollen: Wir packen gerne viele weitere Pakete in der kommenden Woche! Unter jungewelt.de/rlk-aktionspaket können Sie per Onlineformular eines oder mehrere Pakete ordern. Wenn Sie an der Zusammenstellung etwas ändern wollen oder größere Mengen benötigen, wenden Sie sich direkt an das Aktionsbüro (0 30/53 63 55-10 oder aktionsbuero@jungewelt.de). Die Kosten übernehmen zunächst wir; aber wir haben auch nichts dagegen, wenn Sie sich mit einer Spende daran beteiligen. Bitte bestellen Sie rasch, damit Ihr Material noch rechtzeitig vor dem Zeitraum vom 6. bis 12. Dezember, der ersten Intensivwerbephase, bei Ihnen eintrifft. Es ist übrigens ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man nicht alleine ist und mit vielen anderen Menschen zum gleichen Zeitpunkt dabei mitwirkt, die Konferenz und ihre Inhalte bekanntzumachen.
15.11.2024 19:30 Uhr
Die ersten 1.000 Karten sind weg
Rosa-Luxemburg-Konferenz voraussichtlich schon im Dezember ausverkauft
RLK-Kollektiv
Das Programm für die kommende Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025 in Berlin steht weitgehend und kann im Internet eingesehen werden (jungewelt.de/rlk). Probleme gab es in dieser Woche allerdings in der Raumkonzeption für die Veranstaltung, denn eine der beiden großen Hallen, in denen die Konferenz vor allem stattfinden sollte, wurde behördlich nicht rechtzeitig als Veranstaltungsstätte freigegeben. Rasch haben wir allerdings eine Lösung erarbeitet, so dass die Konferenz 2025 wie geplant in den Wilhelmshallen (Berlin-Wilhelmsruh) stattfinden wird. Dort werden zwar mehr Stände beim »Markt der Möglichkeiten« als im Tempodrom im Januar 2024 möglich sein, aber nicht ganz so viele, wie wir zunächst geplant hatten. Deshalb lohnt es sich, einen Stand so früh wie möglich anzumelden. Eine Verbesserung wird es dafür bei der Essensversorgung geben. Diese war bei der letzten Konferenz im Berliner Tempodrom sehr eingeschränkt, hier haben wir in unserer neuen Veranstaltungsstätte mehr Möglichkeiten und interessante Partner. Der gastronomische Bereich spielt als Treffpunkt und Ort zum Verweilen eine wichtige Rolle auf den Konferenzen.
Aufgrund der neuen Raumsituation werden wir allerdings nicht, wie bisher geplant, uneingeschränkt Eintrittskarten verkaufen können. Wir gehen heute davon aus, dass die Konferenz noch im Dezember ausverkauft sein wird, zumal die ersten tausend Karten bereits weg sind. An der Tageskasse wird es dann – wenn überhaupt – nur noch einzelne Restkarten geben. Deshalb empfehlen wir allen Leserinnen und Lesern der jungen Welt, die unsere 30. Konferenz direkt vor Ort erleben wollen, sich rechtzeitig ihre Eintrittskarten zu sichern! Die Werbemaßnahmen für die Konferenz laufen ab Anfang Dezember, empfohlen wird deshalb eine Bestellung im jW-Shop so schnell wie möglich. Und wir bitten (wenn es der Geldbeutel hergibt) um den Kauf der Karte zum Solipreis von 59 Euro, denn die Konferenz wird über 300.000 Euro kosten. Als Dankeschön wird beim Solipreis-Ticket der Kühlschrankmagnet zur Konferenz mitgeschickt.
Wer nicht nach Berlin kommen kann oder will, darf trotzdem an der Konferenz teilnehmen. Wir übertragen die komplette Veranstaltung im Internet, sie kann also auf der Seite jungewelt. de kostenlos live mitverfolgt werden. Schon heute wollen wir anregen, sich dazu Freunde ins Haus einzuladen, oder gar im Waldheim, dem Naturfreundehaus oder dem Kneipennebenzimmer gleich mit dem Verein, der Initiative oder der Parteigruppe selber eine Spielstätte zu kreieren. Wir bitten auch alle, die nicht an der Konferenz vor Ort teilnehmen können, um Spenden zur Finanzierung der Veranstaltung. Ab einer Spendenhöhe von 40 Euro ist der Kühlschrankmagnet inkludiert (wenn man in der Betreffzeile Namen und Adresse angibt).
08.11.2024 19:30 Uhr
Sich der eigenen Stärke vergewissern
Der Westen ist aus den Fugen – die 30. Rosa-Luxemburg-Konferenz findet in turbulenten Zeiten statt
RLK-Kollektiv
Steht wirklich »das letzte Gefecht« ins Haus? Das Motto der nächsten Rosa-Luxemburg-Konferenz (11. Januar 2025, Berlin-Wilhelmsruh) wird durch den Untertitel in Form einer Frage konkretisiert: »Wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?« Gewählt wurde dieses Motto vor der US-Präsidentenwahl – und vor dem Scheitern der deutschen Ampelkoalition. Beide Ereignisse, Donald Trump als neuer US-Präsident und Friedrich Merz (absehbar) als nächster deutscher Kanzler, sind nur eine weitere Bestätigung, dass »der Westen« aus den Fugen geraten ist: Kriege, die nicht mehr gewonnen und Krisen, die nicht mehr gelöst werden können.
Umso wichtiger ist es, sich der eigenen Stärke in diesen Zeiten zu vergewissern. Die 30. Rosa-Luxemburg-Konferenz ist ein solcher Anlass. Das größte Treffen der deutschsprachigen Linken bietet neben Kunst und Kultur, Analysen und Einordnungen genau das: gemeinsam mit Tausenden Gleichgesinnten erleben, dass wir nicht alleine stehen.
Wir rufen Sie dazu auf, sich jetzt Tickets zu sichern. Denn die Warteschlangen werden lang, die Tickets sind vermutlich im Laufe des Monats Dezember ausverkauft - auf der sicheren Seite sind Sie, wenn Sie vor der Anreise nach Berlin alles geklärt (und gegebenenfalls auch ein Hotelzimmer gebucht) haben. Bestellen Sie daher am besten jetzt Eintrittskarten – oder schauen Sie in unserem Laden in der Torstraße 6 in Berlin vorbei!
Auch unser »Markt der Möglichkeiten«, also die Info- und Verkaufsstände, kann sofort gebucht werden. So sichern Sie sich, Ihrer Initiative, Ihrem Verlag oder Ihrem Verband schon jetzt einen guten Platz. Unsere Kolleginnen und Kollegen beraten Sie gerne und helfen, Ihren Auftritt zu konzipieren.
Wir freuen uns auf Sie – auf der nächsten Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025! Bringen Sie gerne Freunde und Genossen mit und helfen Sie, die Konferenz zu bewerben: am besten mit unseren Aktionspaketen, die ebenfalls bestellt werden können.
08.11.2024 19:30 Uhr
»Wir haben eine Welt zu gewinnen«
Über Formen und Bedeutung von Meuterei in unseren Tagen und die Erfolge der belgischen Partei der Arbeit. Ein Gespräch mit Peter Mertens
Daniel Bratanovic
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Ihr neues Buch heißt »Meuterei«. Warum dieser Titel? Worauf bezieht er sich?
Mein Buch beginnt in Großbritannien mit den Streiks im Gesundheitswesen im Sommer 2023. Ich erzähle da von einer Krankenschwester, die zum ersten Mal in ihrem Leben streikt, und sie erklärt, warum sie das tut. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als die englischen Bergleute Mitte der 80er Jahre gegen Premierministerin Margaret Thatcher streikten. Dieser Arbeitskampf ist in das kollektive Gedächtnis der internationalen Arbeiterbewegung eingegangen, und es hält sich die Wahrnehmung, dass zu jener Zeit die Kampfbereitschaft viel größer gewesen sei als heute. Aber was kaum einer weiß: Im Sommer 2023 gab es in England mehr Streikaktionen als damals. In Frankreich ist es das gleiche. Im Kampf gegen Macrons Rentenreform gab es mehr Streiktage als im legendären Jahr 1968. Die gängige Erzählung lautet, es gebe keine Formen des kollektiven Widerstands mehr. Aber das stimmt nicht. Sie sind derzeit bloß noch nicht politisiert, eher spontan, gewerkschaftlich, auf ökonomische Fragen beschränkt. Deshalb spreche ich von Meuterei: 1768 strichen Seeleute in Sunderland die Segel, um ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Die Aktion war eine der ersten großen Arbeitsniederlegungen und wurde damals als Meuterei bezeichnet. Und seit dieser Meuterei, bei der die Seeleute die Segel strichen (»striking the sails«), hat sich im Englischen das Wort »strike« für einen Ausstand etabliert.
Es gibt im Buch allerdings noch eine zweite Begriffsebene für Meuterei.
Ja. Den Buchtitel verdanke ich im Grunde Fiona Hill, einer ehemaligen Mitarbeiterin des Sicherheitsrats im Weißen Haus. Als die UN-Vollversammlung Russland wegen seines Angriffs auf die Ukraine verurteilt und ein Drittel der Staaten die Zustimmung zu dieser Verurteilung verweigert hatte, nannte sie das Meuterei. Und ich dachte mir: Stimmt, auch das ist eine Form von Meuterei. Eine ganze Reihe von Ländern folgt nicht mehr den Maßgaben der Vereinigten Staaten. Und diese Verweigerung der Länder des globalen Südens beschreibt der zweite Teil des Buchs. Es ist eine Meuterei, die sich gewissermaßen am Oberdeck abspielt, also auf der Ebene der Staaten. So hat die vom ANC geführte Regierung Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof ein Verfahren gegen Israel angestrengt. Das ist von symbolischer Bedeutung, weil Südafrikas ANC diejenige politische Kraft ist, die erfolgreich gegen die Apartheid gekämpft hat. Gleichzeitig kämpft die südafrikanische Stahlarbeitergewerkschaft Numsa gegen denselben ANC wegen dessen Korruption und Privatisierungspolitik. Das ist dann die Meuterei unter Deck. Unten der Klassenkampf, oben der Widerspruch gegen die etablierte Weltordnung.
Meuterei in ihrer ersten Bedeutung wäre demnach nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer Stärkung der Arbeiterbewegung. Wo stehen wir da gegenwärtig? Mir scheint, von einer kampfbereiten Arbeiterbewegung, wie sie in England von Thatcher zerschlagen wurde, sind wir meilenweit entfernt.
Sicher, es gab eine Zeit, in der ohne die Arbeiterbewegung nichts ging, in der sie in einigen Bereichen die Hegemonie besaß. 40 Jahre neoliberaler Kapitalismus waren katastrophal und haben diesen Zustand gründlich geändert. Doch nun befinden wir uns in einer Phase der Wiederaufrichtung, und ich bin guten Mutes. Zwar sind die alten industriellen Strukturen, in denen es eine gut organisierte Arbeiterbewegung gab, verschwunden. Dennoch gibt es in Europa und den USA Ansätze für den Wiederaufbau einer starken klassenbewussten und kämpferischen Gewerkschaftsbewegung. Aber es stimmt schon, von den Zuständen, wie sie noch in den 80er Jahren herrschten, sind wir weit entfernt, da ist noch eine Menge zu tun.
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite, das ist die zweite Bedeutungsebene, bleibt, Sie haben es bereits angedeutet, ein großer Widerspruch zu konstatieren. Da gibt es Staaten, die eine Änderung der Weltordnung anstreben, die aber mitunter, was ihre Innenpolitik angeht, alles andere als ein fortschrittliches Programm verfolgen und in denen ja auch ein bisweilen scharfer Klassenkampf geführt wird. Müsste man nicht sagen, dass diese Staaten aufstrebende kapitalistische Nationen sind, die also bei gleicher Produktionsweise das Niveau der westlichen Staaten erreichen wollen und dabei mit einer wachsenden Arbeiterklasse im eigenen Land konfrontiert sind?
Das ist ein Prozess, der auf globaler Ebene betrachtet werden muss. In Brasilien beispielsweise wirft Präsident Lula die Frage auf, wem die natürlichen Ressourcen gehören sollen, zu welchem Zweck sie ausgebeutet werden. Sollen sie US-amerikanischen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden oder sollten die jeweiligen Nationen die Kontrolle behalten? Das ist eine sehr relevante Frage. Die Bewegung der blockfreien Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war wesentlich politischer, als es BRICS heute ist. Politisch ging es um Unabhängigkeit, aber ökonomisch bestand eine nahezu vollständige Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten und vom Dollar. Heute verhält sich die Sache umgekehrt. BRICS hat keine eigentlich politische Agenda und ist viel heterogener zusammengesetzt, aber die ökonomische Macht ist viel größer als damals, vor allem wegen Chinas wirtschaftlicher Bedeutung. Die BRICS-Staaten suchen eine Alternative zum Dollar, zur Weltbank etc. Das ist fortschrittlich, ohne dass BRICS per se ein fortschrittliches Bündnis wäre. Es bietet aber die Chance für eine Kooperation der Staaten des globalen Südens. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, der Umstand, dass ein Land vom Zahlungsverkehr abgeschnitten werden sollte, zeigte die Notwendigkeit an, alternative Zahlungssysteme zu etablieren. Das ist ein fortschrittlicher Vorgang. Aber kein Grund, naiv zu sein. Natürlich herrscht etwa in Brasilien oder in Südafrika kapitalistische Produktionsweise. Es gibt eine Neigung zum binären Denken: Wer ist der Gute, wer ist der Böse? Ich denke, die Welt ist komplizierter.
Es gibt ein ausgesprochen häufig anzutreffendes Bedürfnis nach einfachen Antworten, das Denken in Widersprüchen fällt schwer.
Ja, aber um im Bild zu bleiben: Wir haben es mit einer doppelten Meuterei zu tun.
Ein anderer, wiederkehrender Aspekt in Ihrem Buch ist die Kritik an der gigantischen Konzentration in verschiedenen ökonomischen Branchen, bei der Lebensmittelproduktion, in der Ölindustrie, im Bankensektor. Klar wird, es geht um die Eigentumsfrage. Wer viel besitzt, bestimmt. Ist das ein Plädoyer für eine neue Eigentumsordnung?
Im Bereich der Lebensmittelproduktion gibt es die übermächtigen ABCDs: ADM (Archer, Daniels, Midland), Bunge, Cargell, Dreyfus. Ein Gigant wie Cargill kontrolliert alle Stufen der Herstellung – von den Samen bis hin zu den fertigen Produkten im Supermarkt. Und in Zeiten der Inflation werden auf diesem Wege Superprofite generiert. Das ist alles andere als ein demokratischer Vorgang. Diese Monopole bestimmen, was wir essen, sie zerstören die Vielfalt des Saatguts. Ich schätze, es wird früher oder später eine Debatte darüber geben, wie wir die Monopole zerschlagen und eine Demokratisierung der Produktion erreichen können. Das gleiche gilt natürlich auch für die Ölindustrie und den Bankensektor. Oder nehmen wir den Energiebereich. Da wurde der Ukraine-Krieg dazu instrumentalisiert, die Preise für Strom und Heizung drastisch anzuheben. Und im belgischen Parlament stellt sich ein Abgeordneter der Liberalen, die den privaten Energiemonopolen alle Macht gegeben haben, hin und sagt, die Leute sollten Schals tragen. Ich habe nach ihm gesprochen und gesagt, das tun die Leute bereits, aber wir haben das generelle Problem zu lösen, dass diese Unternehmen einen permanenten Raubzug führen. Eine Bewegung wie die der Gelbwesten in Frankreich hat indes gezeigt, dass viele Menschen so etwas nicht mehr länger hinnehmen wollen. Auch dieser Protest war recht eigentlich nicht politisch, ging noch nicht aufs Ganze, aber auch er war eine Art Meuterei. Ich vermute, wir werden weitere vergleichbare Formen solchen Protests erleben.
Welche Perspektiven ergeben sich daraus?
Als ich in Südafrika war, um mein Buch vorzustellen, sprachen mich die Leute an und klopften mir aufmunternd auf die Schulter. »Du kommst aus Europa? Mit all dem Rechtsextremismus?« Das waren Menschen, die vor politischer Verfolgung in Bolsonaros Brasilien, Modis Indien oder Saieds Tunesien geflohen waren. Ich habe ihnen geantwortet, dass nicht die extreme Rechte das wichtigste Problem in Europa sei, sondern das mangelnde Selbstbewusstsein der Linken. Wir haben eine Welt zu gewinnen, und es ist an uns, sie zu gewinnen. Ich habe genug von all den Treffen, auf denen die Stärke der extremen Rechten verhandelt wird. Das ist deprimierend. Die Menschen müssen ermutigt werden, sie sollen wieder stolz sein können, Arbeiter zu sein und einer klassenorientierten Gewerkschaft anzugehören. Das ist etwas, was wir mit unserer Partei in Belgien versuchen.
Ihre Partei, die PVDA-PTB, ist gemessen am Zustand der Linken, sagen wir in Deutschland, ziemlich erfolgreich. Sie würden also sagen, die Partei ist drauf und dran, ihre Ziele zu erreichen?
Nein, das wäre eine vorschnelle Einschätzung. Wir dürfen nicht aufhören zu lernen und entsprechende Schlüsse zu ziehen. Auch in Belgien gibt es selbstverständlich noch viel zu tun. 2003 haben wir mit dem Neuaufbau unserer Partei begonnen, und wir wussten von Anfang an, dass wir unsere Ziele bei den folgenden Wahlen nicht erreicht haben würden. Eine Partei der Arbeiterklasse aufzubauen, eine Partei, die wirklich in deren Kultur und an deren Arbeitsstätten verankert ist, das braucht Zeit. Wir sind von Tür zu Tür gegangen, um mit den Leuten zu sprechen, und inzwischen, nach 20 Jahren, haben wir etliche starke Grundeinheiten. Wir haben uns damals drei Ziele gesetzt: Politisierung, Organisierung und Mobilisierung. So haben wir uns in die Lage versetzt, von kleineren Aktionen zu immer größeren überzugehen. Über unsere Vorgehensweise herrscht innerhalb der Partei große Einigkeit, es gibt keine Fraktionskämpfe. Dabei ist unsere Praxis nicht beliebig, wir stehen auf dem Boden fester Prinzipien. Wir sind eine marxistische Partei, die für den Sozialismus kämpft, das weiß jeder. Wir diskutieren sehr gründlich über die jeweilige Taktik angesichts wandelnder Situation, also über Flexibilität. Und je prinzipienfester eine Partei ist, desto flexibler kann sie agieren. Flexibilität ohne Grundsätze ist nichts, das macht dich zur Marionette.
Welche politischen Themen sind der Partei momentan die wichtigsten?
Nach den Parlamentswahlen im Juni stehen wir vor der Bildung einer neuen Regierung. Und zu erwarten steht eine sehr weit rechts stehende Regierung, die sich vor allem zusammensetzen wird aus dem Mouvement Réformateur, der größten liberalen Partei, die radikal neoliberale Positionen vertritt, und der Nieuw-Vlaamse Alliantie, die zwar keine faschistische Partei ist, aber sehr, sehr weit rechts steht. Diese Regierung wird einen Angriff auf die Löhne, auf die Renten und auf das Streikrecht führen. Dagegen planen wir eine Kampagne. Hinzu kommt, dass wir fortlaufend Proteste gegen den Völkermord in Gaza organisieren.
Belgien ist im Grunde genommen geteilt zwischen der Wallonie im Süden und Flandern im Norden. Gibt es Unterschiede in der politischen Schwerpunktsetzung in den beiden Regionen? Ist die PVDA-PTB dort unterschiedlich einflussreich?
Brüssel als dritte Region kommt noch hinzu. Und ja, die politische Situation ist durchaus unterschiedlich. Im Süden gibt es eine viel stärkere sozialistische und gewerkschaftliche Tradition. In der Wallonie bestand lange eine sozialdemokratische Hegemonie, die wahrscheinlich noch immer existiert. Der Norden dagegen steht politisch viel weiter rechts. Im Süden werden die Faschisten nicht toleriert, bekommen keinen Platz in den Medien. Im Norden ganz anders. Da werden die Faschisten von Vlaams Belang in jede Fernsehsendung eingeladen, sie sind dort völlig normalisiert. Umgekehrt wird im Norden versucht, uns mit antikommunistischen Kampagnen zu marginalisieren. Unabhängig davon besteht aber im ganzen Land in den zentralen politischen und sozialen Angelegenheiten – Renten, Löhne, Wohnungsfrage – eine einheitliche Situation. Die sozialökonomischen Probleme haben einen Klassenhintergrund, keinen regionalen oder sprachlichen. Wir sind die einzige Partei, die landesweit agiert, und so haben wir die Möglichkeit, in ganz Belgien eine einheitliche Kampagne zu fahren.
Wo ist die Partei stärker, im Norden oder im Süden?
Organisatorisch im Norden, nach Wählerzuspruch im Süden. Aber bei den vergangenen Wahlen haben wir in Antwerpen 20 Prozent der Wählerstimmen erobert und wurden damit zweitstärkste Kraft in dieser ökonomisch wichtigsten Stadt. In Brüssel haben wir 20 Prozent erreicht, in Liège und Charleroi jeweils etwa 18 Prozent. In Antwerpen hat man im Vorfeld versucht, uns als islamisch-kommunistische Pro-Taliban-Front darzustellen. Auf ganzen vier Seiten in der wichtigsten Lokalzeitung wurde vor uns gewarnt. Für uns war das, der Wahlausgang beweist es, gar nicht so schlecht.
In welchem Verhältnis steht die Partei zu den Gewerkschaften?
Wir haben sehr viele Mitglieder, die zugleich Mitglieder der Gewerkschaft sind. Und nach meiner Einschätzung gibt es sehr viele Gewerkschafter an der Basis, die mit uns sympathisieren. Auf der Funktionärsebene sieht das schon anders aus. In manchen Sektoren besteht eine gute Zusammenarbeit, aber es gibt auch Widerstand dagegen, denn die sozialdemokratische Kontrolle des Funktionärsapparats ist noch immer ungebrochen. Warten wir ab, was passiert, wenn die neue Regierung im Amt ist. Es könnte nämlich sein, dass die flämische Sozialdemokratie Teil der Regierung wird, nicht aber die wallonische. Es wäre das erste Mal, dass nur eine der beiden sozialdemokratischen Parteien in die Regierung eintritt. Und dann wird es auf gewerkschaftlicher Ebene spannend. Ein Teil muss die Regierungspolitik verteidigen, der andere wird sie kritisieren. Da ergeben sich für uns ganz neue Möglichkeiten.
01.11.2024 19:30 Uhr
Gegen Kriegstüchtigkeit
Auf der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz stehen Chancen und Gefahren durch den Niedergang des Imperialismus im Mittelpunkt
Nick Brauns
Der Turm wirkt fragil und bedrohlich zugleich. Eine Erschütterung kann ihn zum Einsturz bringen. Doch droht er dann alles unter sich zu begraben. Ein Bauwerk aus Jenga-Klötzen schmückt die Plakate zur 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz (RLK), die am Sonnabend, dem 11. Januar 2025, in den Wilhelm-Studios in Berlin-Wilhelmsruh stattfinden wird.
Die von der Tageszeitung junge Welt veranstaltete Konferenz steht diesmal unter dem Titel: »Das letzte Gefecht – Wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?« Das erinnert an die Zeilen »Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht« aus dem weltbekannten Kampflied, das Eugène Pottier nach Niederschlagung der Pariser Kommune von 1871 verfasste. Die darin beschworene Revolution des Proletariats ist aufgrund der Schwäche der kommunistischen und sozialistischen Linken hierzulande nicht absehbar. Doch werden wir Zeugen des Aufstiegs des globalen Südens mit der Volksrepublik China an der Spitze und der Herausbildung einer multipolaren Weltordnung. Es ist ein Prozess, der zuerst Chancen zum Abschütteln neokolonialer Fesseln und einseitiger Abhängigkeiten bietet, darüber hinaus aber als Türöffner für weitergehende, auch sozialistische Entwicklungen wirken kann. Dass diese Entwicklung keineswegs ohne Widerstände und unblutig abläuft, verdeutlichen die Kriege in der Ukraine und Nahost mit all ihrem Eskalationspotential. In der irrigen Hoffnung, den Verlust seiner Hegemonie gewaltsam aufhalten zu können, rüstet der US-geführte imperialistische Block zum letzten Gefecht. Ein dritter Weltkrieg aber könnte zum letzten der Menschheit werden.
Diese Überlegungen bilden den Rahmen für das Programm der kommenden RLK. Was der Verlust westlicher Hegemonie und Unipolarität für die Länder Afrikas, aber auch für den Nahostkonflikt bedeutet, wird Kwesi Pratt, Generalsekretär des Socialist Movement of Ghana, aufzeigen. Nicht zuletzt durch die geplante Stationierung von gegen Russland gerichteten US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik wird Europa zur Zielscheibe eines drohenden großen Krieges. Damit befasst sich die frühere sozialistische EU-Abgeordnete Clare Daly, die sich als kämpferische Antiimperialistin weit über ihre irische Heimat hinaus einen Namen gemacht hat. Über die Risiken künstlicher Intelligenz (KI), aber auch ihr Potential für den Aufbau einer anderen, rational geplanten Gesellschaft wird der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath sprechen. Um ihre Macht und Privilegien fürchtend, setzten die Herrschenden in vielen Ländern auf die faschistische Karte und rüsten zum Krieg. Diese Entwicklung wird der aus der Türkei stammende Sozialwissenschaftler Sinan Birdal analysieren. Wie eine linke Antwort in Form einer europäischen Friedensordnung aussehen könnte, wird Peter Mertens, Abgeordneter und Präsident der marxistisch orientierten Partei der Arbeit aus Belgien, aufzeigen. Aus dem Gefängnis in Pennsylvania soll es wieder ein Grußwort des Bürgerrechtsaktivisten Mumia Abu-Jamal geben. Mit einer internationalistischen Manifestation gegen die mörderische Blockade soll Solidarität mit dem sozialistischen Kuba gezeigt werden, das seit über 60 Jahren allen Drangsalierungen des US-Imperialismus trotzt.
Den Abschluss der RLK bildet eine Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Parteien, Gewerkschaften und antimilitaristischen Initiativen zur Frage: »Kriegstüchtig? Nie wieder! Wie stoppen wir die Hochrüstung in Deutschland?«